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Das Schreien im Walde
Möchten Sie auch manchmal losschreien? So richtig unartikuliert und laut?
Nicht jemanden anschreien, nein, das machen wir ja schon häufiger. Wir schreien unsere Nachbarn, Partner und Kinder an, und, wenn wir ganz mutig sind, sogar unsere Vorgesetzten, und öffentliche Amtspersonen. Frei nach dem Motto: Wer bei mir Streit sät, kann die Ernte gleich mitnehmen.
Das Waldschreien hingegen, findet ganz allein statt. Dazu geht man in einen Wald, meidet alle Wege, die von Hundehaltern, Freizeitsportlern und wissbegierigen Schulklassen begangen werden, und erst, wenn Sie sicher sind, dass Sie ganz allein sind und niemand zuhört, außer zwitschernde Vögel, ein paar Wildschweinen und vielleicht ein Fuchs in seinem Bau, dann breiten Sie die Arme aus und schreien Sie.
Schreien Sie, bis Sie sich anhören wie ein wildes, verletztes Tier. Das befreit!
Es tut ungemein gut, dem Leben einmal ins Gesicht zu schreien. Die ganze angesammelte Wut, den ganzen Schmerz und Ärger und all die Enttäuschungen, die der Normalmensch so mit sich herumschleppt.
Sie werden merken, dass Sie keine Antwort bekommen, und das ist gut so. Wir wollen nicht immer Antworten oder schnelle Lösungen haben. Wir wollen schreien, um uns zu erleichtern, das gibt uns die Kraft weiter zu machen.
Und damit hat das Waldschreien einen außerordentlichen Vorteil gegenüber dem Haus- oder Wohnungsschreien. In den eigenen vier Wänden unvermittelt, laut und unartikuliert zu schreien, ruft sofort Mann, Kinder und sonstige Mitbewohner auf den Plan.
Kinder unter sechs Jahren halten das meistens für ein neues Spiel, stellen sich daneben und schreien munter mit.
Wenn die lieben Kleinen sich im Grundschulalter befinden, reagieren sie eher verstört auf solch einen Ausbruch und fragen sofort nach, welcher Schmerz denn so plötzlich bei der Mutter Einzug gehalten hat. „Was isn passiert Mama?“, ist hier ein beliebter Satz, mit dem der Raum gestürmt wird.
Wenn Sie es ausgehalten haben, jeden Verzweiflungsschrei zu unterdrücken, obwohl ihre Kinder schon fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sind, dann haben Sie zwar einen Orden verdient, aber trotzdem einen schweren Stand, sofern sie das therapeutische Schreien in ihren Tageslauf einführen möchten. Jugendliche mögen es überhaupt nicht, wenn Eltern plötzlich ganz neue Seiten von sich preisgeben (die meisten Kids verdrehen schon die Augen, wenn die Alten damit drohen, hier mal neue Saiten aufzuziehen); die Lebens- und Alltagstauglichkeit der Eltern ist längst geprüft, in einer Schublade abgelegt, und wird nur noch ungern revidiert.
Wenn sie hier einfach losschreien, vielleicht noch eingeschlossen in Bad oder Schlafzimmer, dann kommt kein „was isn los Mama“, denn der Kleine ist ja nicht mehr acht oder neun. Der Junge ist sechzehn oder siebzehn, trägt merkwürdige Klamotten und hat ständig einen Freund im Schlepptau, der anscheinend kein Zuhause hat. Und zu diesem Freund wird er, mit einem genervten Gesichtsausdruck, so etwas sagen wie: „Bestimmt eine Spinne oder was anderes harmloses; gleich wird sie mich rufen, damit ich sie wegmache.“
Auch bei Töchtern in diesem Alter haben Mütter keinen leichten Stand. Diese äußerst empfindliche Spezies (die um Gottes Willen nicht so werden will wie ihre Mutter) tragen jede Menge Komplexe mit sich herum und haben ebenso ständig eine Freundin bei sich, mit der sie stundenlang facebooken, obwohl sich beide im selben Raum aufhalten.
Bei Ihren Schreianfällen, wird sie kaum von ihrem Hauptlebenszweck (dem Handy) aufschauen, und wenn doch, dann nur um mit einem resignierten Blick, so etwas zu sagen wie: „Bestimmt irgendeine neue Yogaübung, sie hat Angst vorm Alter.“
Sollte es noch oder wieder einen Mann in ihrem Haushalt geben (das ist heutzutage nicht mehr selbstverständlich, denn oftmals machen die sich davon, noch bevor die gemeinsame Brut auch nur halbwegs flügge ist) dann brauchen Sie das Schreien vielleicht gar nicht, denn ihr liebender Partner teilt Freud und Leid mit ihnen, und regelmäßige, körperliche Zuwendung vermindert recht zuverlässig das Gefühl, ständig gegen Wände zu laufen.
Allerdings gibt es durchaus Partnerschaften, die zum ständigen Wutgeschrei animieren und wenn der Wald nicht gerade vor der Haustür liegt, empfehle ich andere Schritte. Außerdem, immer schreiend und damit heiser durch die Welt zu laufen, ist auch keine Lösung.
Meine Waldtermine sind zu einem festen Bestandteil meines Lebens geworden und stehen so selbstverständlich in meinem Terminkalender wie der nächste Zahnarzttermin. Im Moment sind sie etwas häufiger als zu anderen Zeiten, denn in meinem Nacken sitzt ein Exmann, der mir unbedingt beweisen will, dass ich meinen Sohn nicht allein aufziehen kann. Über meinem Kopf schwebt, wie das berühmte Schwert, der Abgabetermin für eine Arbeit, und vor mir an der Pinnwand hängen ein paar längst überfällige Rechnungen. Das Übliche also.
Das übliche Chaos erwartet mich auch in der Küche, als ich dem Duft von Gesottenem folge, das mich aus meinem Arbeitszimmer lockt.
Ich treffe auf meinen Sohn und seinen unvermeidlichen besten Freund. Mein Sohn ist siebzehneinhalb, geht noch zur Schule und will Fernsehkoch werden. Seit etwa einem Jahr übt er, ungefähr drei mal in der Woche und ich bin froh, dass die Zeiten der angebrannten Töpfe, ungenießbaren Speisen und abgeschnittenen Fingerkuppen vorbei sind. Aber die Küche sieht nach jedem Einsatz immer noch aus wie ein Schlachtfeld.
„Hi Mom!“ begrüßt er mich und weist mit einer unbestimmten Handbewegung in Richtung Herd.
„Wir haben Dir was übrig gelassen; schmeckt echt super!“
„Danke, lieb von Euch!“
„Jetzt müssen wir aber noch mal los. Äh“,
diesmal folgt eine weit ausholende Geste, „kümmer Dich nicht drum. Guck einfach drüber weg, ich räum das morgen nach der Schule auf.“
Meine Augenbrauen schnellen für einen Augenblick in ungeahnte Höhen, schnell lasse ich zwei Finger folgen und streiche meine Stirn wieder glatt, dabei zaubere ich ein mildes, verständnisvolles Lächeln auf mein Gesicht und halte meinen Mund fest verschlossen, damit kein böses Wort daraus entschlüpfen kann. Bevor die beiden die Wohnungstür hinter sich zuziehen höre ich noch die Stimme meines Sohnes: „Na, hab ich dir doch gesagt, meine Mutter ist total cool!“
Für einen Moment stehe ich unschlüssig in der Küche und blicke über die Töpfe und Pfannen. Ich registriere das Mehl, das meine schwarze Kaffeemaschine verunziert, die Gemüseabfälle in der Spüle, die Flaschen, Tuben und Dosen, die vom Gewürzbord und aus dem Kühlschrank geholt, benutzt und dann in Öl- und Soßenpfützen zurückgelassen wurden. Nur einen Augenblick trage ich mich mit dem Gedanken, das Chaos zu beseitigen. Die Küchenuhr zeigt fast halb neun und ein Zimmer weiter wartet meine Arbeit, mit der ich das Geld für uns verdiene.
Ich nehme mir etwas von dem leckeren Lammragout, das noch warm ist, gieße mir ein Glas Rotwein ein und bringe alles in mein Arbeitszimmer. Nachdem ich in der Küche das Licht gelöscht und die Tür zugezogen habe, schwöre ich mir, diesen Ort nicht mehr vor morgen Nachmittag aufzusuchen.
Der Bäcker an der Ecke bietet, seit einiger Zeit, Kaffee zum Mitnehmen an, und im Jogginganzug kann ich sogar ungewaschen hinlaufen und dabei den Nachbarn noch vormachen, dass ich mich sportlich betätige.
Alles ist gut und mein Leben ist leicht und angenehm.
Während ich esse, fällt mein Blick immer wieder auf die Rechnungen vor mir an der Wand. Entschlossen reiße ich mich davon los und denke zurück an meinen Nachmittag im Wald. Ich sehe mich auf der kleinen Lichtung stehen und schreien.
Ich schreie und schreie und schreie...