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Das Schnäppchen - überarbeitet -
250 Dollar ... was für ein Schnäppchen! Vor zehn Minuten standen seine Hoffnungen noch auf Halbmast, jetzt war Ben so aufgekratzt wie nach einem Lotteriegewinn. Und in gewisser Weise war es auch einer.
Als er wie jeden Morgen die Tageszeitung durchforstet hatte, auf der Suche nach einer neuen Wohnung für sich und Anna, stieß er zufällig auf eine winzige Annonce. So klein und unscheinbar zwischen den anderen versteckt, dass er sie beinahe übersehen hätte. „Zu vermieten: kleineres, älteres Haus mit Garten. Telefon ab Montag 800-927-3995“. Nach all den Misserfolgen der letzten Jahre, verlorenen Jobs, Pleiten in allen Lebenslagen, könnte die Sonne des Glücks auch ihnen scheinen. Das war genau das, was er und seine Frau sich schon immer gewünscht hatten. Besser als jede Wohnung, ein eigenes Haus ... Ben konnte sich nichts Schöneres vorstellen.
Sofort hatte er unter der angegebenen Nummer angerufen und war auch nach einigen Versuchen durchgekommen. Die freundliche Dame am Telefon hatte ihm Auskunft über die Anzahl der Zimmer, die Quadratmeter und den Zustand des Hauses gegeben. Als Ben, schon auf eine Enttäuschung vorbereitet, nach der Höhe der Miete fragte, tat er dies nur der Form halber. Er war sicher, dass das Haus ihr monatliches Budget überschreiten würde. Aber er wurde angenehm überrascht. Nur 250 Dollar, unglaublich. Offenbar hatte man ihm die Freude und Überraschung an der Stimme angehört, denn die Frau teilte ihm die Gründe für die niedrige Miete mit, ohne dass Ben danach gefragt hätte.
„Wissen Sie, das Haus gehörte einem alten Ehepaar. Die Frau starb vor ein paar Wochen und danach zog ihr Mann in ein Seniorenheim. Leider hat er keinerlei Verwandte und verkaufen wollte er das Haus auch nicht. Sie wissen ja, wie alte Leute sind. Was ihnen einmal gehört, das wollen sie auch nicht mehr hergeben. Schließlich konnte ich ihn dazu überreden, das Haus zu vermieten. Immer noch besser, als wenn es jahrelang leer steht und völlig verwahrlost, nicht wahr?“. Ben hatte ihr zugestimmt, hatte aber ehrlich gesagt keine Ahnung, ob er auch mal so werden würde.
„Jedenfalls bin ich ganz froh, wenn es überhaupt jemand nimmt.“
„Warum das?“, hatte Ben schnell nachgehakt. Wenn ein Makler schon so etwas sagte, anstatt in Lobeshymen und Übertreibungen abzuschweifen, dann musste irgendwo ein Haken sein.
„Nun ja, das Haus ist nicht gerade neu. Okay, man kann darin wohnen, die alten Leute haben ja auch darin gewohnt, aber es gehört einiges daran gemacht“. Sie sprach „einiges“ sehr lang gezogen, daher vermutete Ben das Schlimmste.
„Die Wände gehören natürlich frisch gestrichen, die oberen beiden Zimmer müssten isoliert werden. Die Leute haben diese oberen Räume nur als Abstellkammern genutzt, daher war es ihnen egal, ob es reinzieht oder nicht. Und das größte Problem ...“, Ben machte sich auf den großen Knall gefasst. Was er bisher gehört hatte, war nicht besonders schlimm, ein paar kleine Arbeiten, fertig. Wenn allerdings das Dach undicht war ...
„Das größte Problem ist, dass das Haus keine Heizung hat. Das heißt, Sie müssten mit Holz oder Öl heizen.“
Als die Maklerin verstummt war, machte Bens Herz einen Freudensprung. Wenn es nichts weiter als diese Kleinigkeiten waren, gar kein Problem. Dies teilte er der Frau auch mit und schon hatten er und Anna einen Besichtigungstermin. Diesen Abend, 18:30 Uhr.
Anna war schon auf dem Weg zur Arbeit, als Ben auf die Anzeige gestoßen war. Als selbständiger Versicherungsvertreter konnte er es sich leisten, gemütlich am Frühstückstisch zu sitzen und in Ruhe die Zeitung zu lesen. Sein Büro kam ihm in letzter Zeit ohnehin vor wie das Tor zur Hölle, einer unheimlich langweiligen Welt, bestehend aus Akten und Formularen. Das Geschäft lief schlecht, anscheinend hatten die Leute nicht mehr genug Geld, um sich neben ihren laufenden Kosten auch noch eine Versicherung aufzuhalsen. Aber in dem neuen Haus könnte alles besser werden. Die Miete war bei weitem geringer als die ihrer momentanen Wohnung und die Lage war ebenfalls günstiger. Neuer Kundenkreis bedeutete neue Gesichter, Gesichter die ihn noch nicht gelangweilt und ein wenig verlegen angesehen hatten.
Anna würde ihm um den Hals fallen und Freudentränen weinen. Endlich konnte sie sich ihren Wunsch erfüllen. Jahrelang hatte sie ihren Vermieter angefleht, ihr doch bitte einen Hund zu gestatten. Dieser war aber bislang hart geblieben, wahrscheinlich hatte er Angst, der Hund könnte die Wohnung in einen Schweinestall verwandeln. Dadurch und durch ihre ständig lärmenden Nachbarn, war der Wunsch nach einem neuen Zuhause ständig gewachsen. Zuerst war er nur so klein wie eine Erbse, mittlerweile aber auf die Größe eines Planeten angewachsen. Außerdem ... zu diesem Preis ... wer konnte da nein sagen? So schlimm konnten die Mängel nicht sein.
Nach einem nicht enden wollenden Tag, an dem Ben keine einzige Versicherung an den Mann gebracht hatte, sondern stattdessen in Gedanken schon sein Computerzimmer neu gestaltete, fuhren sie los. Als sie vor der Hausnummer 54 parkten, konnte Ben die Maklerin teilweise verstehen, als sie gemeint hatte „sie wäre froh, überhaupt jemanden zu finden.“
Das Haus war Außen in einem mint-grün gestrichen, das Anna auf den ersten Blick als „hässlich“ bezeichnete. Der kleine Garten, der das Haus umringte, war übersät mit überreifen und teilweise verfaulten Äpfeln. Zwei große Apfelbäume standen unbeachtet auf dem Grundstück und tauchten das Haus in Schatten. Ein kleiner Schuppen war an der Rückseite des Hauses. Ben zog es jedoch vor, dort vorerst keinen Blick hineinzuwerfen, er hasste Spinnen, Ratten und derlei Krabbeltiere und dieser Schuppen schien ihm die ideale Brutstätte dafür.
„Hallo! Mr. und Mrs. Caulfield? Mein Name ist Groham, wir haben telefoniert.“ Lächelnd und mit entgegengestreckter Hand kam ihnen die Maklerin entgegen.
„Schön, dass Sie gleich hergefunden haben. Fangen wir unten an? Entschuldigen Sie meine Eile, aber ich muss später noch zu einem anderen Kunden.“
Als erstes fiel Ben der muffige Geruch auf, als die Tür aufgesperrt wurde. Anna, die in solchen Sachen immer ein bisschen empfindlich und penibel war, rümpfte angewidert die Nase.
„Ja, hier gehört ordentlich gelüftet, entschuldigen Sie bitte“, meinte Groham, die selbst aussah, als müsste sie einen Brechreiz unterdrücken.
Alte Leute schienen einen eigenen Duft zu entwickeln, besser gesagt einen Gestank, bei dem man am liebsten die Luft anhalten würde. Es war derselbe Geruch wie früher bei seinem Grandpa, eine Mischung aus altem Rauch, modrigen Möbeln, Schnupftabak und Eukalyptusbonbons. Anscheinend liebten ältere Leute diese Dinger. Aber daran soll’s nicht scheitern, sagte sich Ben. Ein paar Tage gelüftet, jetzt im Sommer kein Problem. Wenn die Wände gestrichen sind, riecht man ohnehin nur noch Farbe.
Gutgelaunt trat er ein, Anna im Schlepptau. Aufmerksam ließ er seinen Blick umherschweifen, auf der Suche nach Wasserschäden, schimmligen Wänden oder Löchern im Fußboden. Das Wohnzimmer machte einen guten Eindruck. Groß und hell, durch das Fenster hatte man eine schöne Aussicht auf Nachbarschaft und die angrenzenden Felder. Im Wohnzimmer stand auch ein alter Ölofen. Ben war die Bequemlichkeit der Heizkörper gewohnt, war sich aber sicher, auch mit solch einem Gerät umgehen zu können. Was war schon dabei? Öl einfüllen, anzünden und es wird warm. Die Küche machte ebenfalls einen gemütlichen, wenn auch altmodischen Eindruck. Anna schien weniger auf die Räume selbst, als viel mehr auf die dicken Staubschichten und Spinnweben zu achten, die das Haus zierten. Wahrscheinlich graut ihr in Gedanken schon vor der Putzarbeit, dachte Ben leicht amüsiert.
„Nach dem Tod seiner Frau hat der alte Herr natürlich das Haus ein wenig vernachlässigt wie Sie sehen“, entschuldigte sich Groham.
„Kein Problem, gar kein Problem“, antwortete Ben freundlich. In Gedanken hatte er bereits den Vertrag unterschrieben und lag gemütlich auf der Couch seines neuen Wohnzimmers. Nach einem schnellen Blick in das Schlafzimmer sowie Bad und Toilette machte sich Ben auf den Weg hinauf in die oberen Räume. Die alte Holztreppe knarrte beängstigend unter seinen Füßen, schien aber zu halten. Wenigstens solange, wie nur eine Person sie benutzte.
„Wie ich schon sagte, dort oben müsste noch isoliert werden, ich hoffe das schreckt Sie nicht ab.“ Natürlich tat es das nicht, Ben war froh, wenn er sich zur Abwechslung mal wieder handwerklich betätigen konnte. Im Obergeschoss gab es zwei Türen, jeweils eine für jeden Raum, sowie eine sehr schmale Stiege, die offenbar auf den Dachboden führte.
Es war nicht einmal halb so schlimm wie die Maklerin es beschrieben hatte. Die Räume sahen recht ordentlich aus, waren sehr geräumig und wirkten weit unbenutzter als das Erdgeschoss. Ein paar Handgriffe, dann konnte er hier sein Computerzimmer einrichten. Den anderen Raum kann Anna meinetwegen für ihre Klamotten nutzen, überlegte Ben. Diese schien denselben Gedanken gehabt zu haben, denn sie strahlte über das ganze Gesicht, wahrscheinlich in Vorfreude auf ihr persönliches Modezimmer.
„Hey, hier wäre super Platz für meinen Hund, denkst du nicht auch?“ Im Nachhinein wusste Ben, dass dies der ausschlaggebende Grund für Anna war „ja“ zu sagen. Hatte sie vorher die altmodische Bauweise und der viele Schmutz, sowie der beißende Gestank abgeschreckt, so war auch sie nun in Gedanken bereits mit der Gestaltung ihres neuen Heims beschäftigt. Ein Blick in Annas Augen reichte Ben zur Entscheidung.
„Wir nehmen es. Wo sollen wir unterschreiben?“, wandte er sich aufgeregt grinsend an Groham.
„Oh, Sie beide sind aber spontan“, lachte sie. „Sie wollen sicher nicht erst eine Nacht darüber schlafen?“.
„Nein, das ist nicht nötig. Was wir gesehen haben reicht vollkommen. Ich bin sicher, dass man aus diesem Haus ein wahres Schloss zaubern kann“, antwortete Ben.
„Nun gut, gehen wir runter und schauen uns den Vertrag zusammen durch.“ Sie hatte ihn bereits aus einem Ordner geholt und stieg die knarrende Treppe hinab. Ben und Anna folgten ihr.
„Ach ja, der Dachboden“, rief sie über ihre Schulter zu ihnen. „Ich habe keine Ahnung, was dort oben alles ist. Die Tür ist abgeschlossen und ich habe keinen Schlüssel dafür erhalten. Natürlich kümmere ich mich so schnell wie möglich darum“, bemühte sich Groham um eine Rechtfertigung. „Wollen Sie dort vielleicht erst einen Blick hineinwerfen bevor sie unterschreiben?“
„Nicht nötig“, antwortete Ben. Als er kurz nach oben blickte, wusste er keinen Grund warum er sich die Mühe machen sollte. Alte Möbel und andere ausrangierte Dinge würde er sowieso im Keller lagern. Der Weg diese knarrende Treppe hinauf war viel zu mühsam.
„Das können wir ein andermal immer noch nachholen“, pflichtete Anna ihm bei. Auch sie wollte nur noch eines: diesen Vertrag unterschreiben und so schnell wie möglich umziehen.
Zwei Wochen nachdem sie beide unterzeichnet hatten, waren sie bereit für ihren ersten Tag im neuen Caulfield-Haus. Die Tage waren wie im Flug vergangen, was wahrscheinlich daran lag, dass Ben tagsüber Reparaturarbeiten verrichtet hatte. Er hatte sämtliche Zimmer frisch gestrichen, Löcher vergipst und die undichten Fenster isoliert. Die Feinarbeiten wie Putzen, Staubfegen und Fenster polieren hatte er dankend Anna überlassen, die nach ihrem Job abends nachkam. Der ätzende Gestank hatte sich mittlerweile auf ein annehmbares Minimum reduziert und würde wohl mit der Zeit ganz verschwinden. Ben war sich jedoch nicht sicher, ob es im Haus vielleicht ein paar Ratten gab. Im Keller hatte er bereits Fallen ausgelegt, bisher hatte er aber noch kein totes Nagetier entdecken können. Trotzdem meinte er, ab und zu kratzende, verstohlene Geräusche zu hören. Vielleicht hatte ihm auch seine Phantasie nur einen Streich gespielt. Wenn der Wind um das alte Gebälk strich, konnten schon einmal Erinnerungen an Gruselfilme wach werden. Während seiner Arbeit bemerkte Ben auch, dass er sich überschätzt hatte. Er war es gewohnt, bequem an seinem Schreibtisch zu sitzen, Telefonate und Hausbesuche bestimmten seinen Alltag. Die tagelange, schweißtreibende Arbeit am Haus machte sich bemerkbar. Oft war er so übermüdet, dass er sich selbst dabei ertappte, halb schlafend an der Wand zu lehnen. Zudem litt er in letzten Tagen an Kopfschmerzen. Wahrscheinlich von der Farbe, dachte er.
Der Auszug ging schnell vonstatten. Sie hatten einen Umzugsservice für ihre Möbel beauftragt, das Kleinzeug hatten sie Stück für Stück mit den Autos befördert. Jetzt, da er stolz über seine getane Arbeit im Wohnzimmer stand, fühlte er sich zum ersten Mal seit Jahren wieder als Mensch. Als richtiger, lebendiger Mensch, nicht als Gefangener seiner nervtötenden Arbeit. Vielleicht sollte er seinen Beruf aufgeben und in Zukunft etwas Handwerkliches ausüben?
Am Tag ihres Einzugs hatte die Zeitung eine traurige Nachricht verkündet: „Joseph Wheaton (81) nach gescheitertem Selbstmordversuch verstorben“. Wheaton war der Vorbesitzer des Hauses, der Mann im Seniorenheim. Der Artikel war nur sehr kurz, verriet aber, dass der alte Mann versucht hatte, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Ein Pfleger fand ihn zwar noch rechtzeitig, trotzdem schien der Blutverlust zuviel für ihn gewesen zu sein. Als Ursache für seinen Suizidversuch wurden schwere Depressionen und Angstzustände genannt.
Obwohl Ben ihm niemals begegnet war, verspürte er Mitleid mit Wheaton. Andererseits (und das würde er lieber für sich behalten), war er froh, dass nun niemand in nächster Zeit ihn und Anna aus dem Haus vertreiben konnte. Immerhin hatte ja die kleine Möglichkeit bestanden, dass Wheaton eines Tages genug vom Heim hatte und wieder zurück in sein altes zuhause wollte. Egal, dachte Ben. Für jeden ist irgendwann Schluss.
„Ich kann es immer noch nicht glauben, Ben“. Anna schüttelte ungläubig den Kopf und fiel ihm müde in die Arme.
„Wenn du mir vor drei Wochen gesagt hättest, dass wir bald ein eigenes Haus haben ...“, sinnierte sie vor sich hin.
„Tja, wozu hast du so einen tollen Ehemann“, grinste Ben.
„Ich hätte nie gedacht, dass du alles so schön hinbekommst. Selbst der Garten sieht wieder gepflegt aus ... wir könnten grillen und ein paar Leute einladen, was meinst du?“.
„Ja, keine schlechte Idee“, antwortete er gähnend und strich ihr sanft über den Kopf.
„Ich glaube, ich werde ins Bett gehen. Ich bin fix und fertig. Kommst du auch? Ich fühl mich noch ein wenig unwohl ... nur wir zwei in diesem Haus ... ein bisschen unheimlich“, sagte sie leicht verlegen.
„Nun, dann wollen wir doch gleich mal unser Schlafzimmer einweihen, nicht wahr?“, schmunzelte Ben.
Es war zwei Uhr morgens, als Anna ihn weckte. Nach dem harten Vortag und der Privatfeier in ihrem Doppelbett waren Bens Augen zugefallen, noch bevor sein Kopf richtig das Kissen berührt hatte. Sein Körper befand sich in der Tiefschlafphase und Anna musste ihn heftig schütteln, damit er wach wurde. Seine Augen fühlten sich an, als hätte jemand sie mit Sekundenkleber bestrichen. Als er sie endlich zwingen konnte, offen zu bleiben, saß Anna mit angezogenen Knien auf ihrem Kissen. Das Nachtischlämpchen war eingeschaltet.
„Hast du das gehört?“, flüsterte sie. Im fahlen Licht sah Ben, dass ihre Augen weit aufgerissen waren. Fröstelnd und sich selbst umarmend sah sie ihn flehend an, als hoffte sie, dass Ben ihre Erschrockenheit teilte.
„Was gehört?“, murmelte er. Der Schlaf versuchte immer wieder, ihn lautlos zu überfallen und in die Schwärze der Nacht zu reißen.
„Da ist irgendetwas. Ich hab es ganz deutlich gehört.“
„Was gehört, verdammt noch mal“. Langsam wurde Ben wütend. Anna war von Haus aus eine der Frauen, die sich im Kino bei den spannenden Momenten die Augen zuhielten, deshalb reagierte er manchmal leicht gereizt auf ihre Phantomgeräusche. Er fühlte sich schlapp und gerädert, wahrscheinlich brütete er eine Grippe aus.
„Der Wind, na und?“, murmelte er. „Mach das Licht wieder aus und leg dich hin, wir müssen morgen früh raus“.
„Da, da war es wieder“, flüsterte Anna und krallte ihre Fingernägel in seinen Arm.
Und tatsächlich ... da war wirklich etwas und es war nicht der Wind. Ein altes Haus hat nun mal seine eigenen Geräusche, wusste Ben. Jeder der selbst in einem wohnt, kann das bestätigen. Dennoch war auch er sich nicht mehr sicher, ob die Geräusche vom Wind oder von etwas anderem erzeugt wurden.
Es war ein Knarzen, wie von Scharnieren, die geölt werden mussten. Hört sich so ähnlich an, als ob jemand eine Tür auf und zu machen würde, dachte Ben.
„Bitte, schau nach was das ist, okay?“, drängte ihn Anna. Das Knarzen war mittlerweile andauernd und in Bens Ohren äußerst nervtötend. Wenn er nicht nachsah, würde er nicht mehr einschlafen können, also musste er so und so aufstehen.
Vielleicht Ratten, überlegte er. Aber machen Ratten solche Geräusche? Vielleicht gab es irgendwo im Haus ein Nest ...
„Schon gut, Nervensäge“, sagte er und quälte sich ein Lächeln ab. „Bin gleich wieder da“. Er wälzte sich aus dem Bett und ertappte sich selbst dabei, wie er sich nach etwas Brauchbarem umsah, etwas das er als Waffe benutzen konnte. Natürlich nur für den Fall, dass es Ratten sein sollten.
In ihrem frisch eingerichteten Schlafzimmer war aber nichts brauchbares, außer Annas Schminkutensilien. Jetzt mach dir mal nicht in die Hosen, schalt er sich selbst. Kaum einen Tag hier und schon siehst du hinter jeder Ecke ein Gespenst.
Als er die Schlafzimmertür öffnete, kroch Anna aus der Bettdecke und zupfte sich ihr Nachthemd zurecht.
„Warte, ich will mitkommen, bei dir fühle ich mich sicherer“, meinte sie mit einem zaghaften Lächeln.
Auf dem Flur war nichts zu sehen, keine Ratten, keine Gespenster. Keine Tür stand offen, die der Wind hin- und her bewegen konnte. Das monotone Knarzen kam aus dem Obergeschoss.
„Hast du ...“, setzte Anna an. „Still, verdammt noch mal“, schnauzte Ben sie an. Er war sich absolut sicher, keine der beiden Räume offen gelassen zu haben. Er hatte erst vorgestern neue Türen eingesetzt, da die alten bereits morsch gewesen waren. Dort konnten keine Scharniere quietschen. Als sie die Treppe hinauf gingen, die mit ihrem Knarren in das Konzert der unheimlichen Geräusche einfiel, hatte Ben das Gefühl, als würde seine Kehle zugeschnürt. Er könnte schwören, dass der Gestank des Hauses wieder genauso stark war, wie am Tag ihrer Besichtigung. Anna schien dies ebenfalls bemerkt zu haben, denn sie sah ihn verwundert an und hielt sich die Hand vor Mund und Nase. Wie konnte das möglich sein? Bevor sie zu Bett gingen, lag lediglich der Duft von Farbe und Raumerfrischer in der Luft.
Als sie das Obergeschoss erreicht hatten, war die Geräuschquelle eindeutig zu bestimmen. Der Dachboden.
„Okay, was jetzt?“, presste Anna aus zugehaltenem Mund hervor.
„Ich hab keinen Schlüssel, weißt du nicht mehr?“, antwortete er flüsternd. Er stieg die drei schmalen Stufen hinauf und presste sein Ohr an die Holztür. Ja, das Knarzen kam eindeutig von da drinnen. Anna trat dicht hinter ihn.
„Meinst du, du könntest“, setzte sie an, kam aber nicht dazu ihre Frage zu Ende zu stellen, denn Ben hatte probehalber, und mehr aus dem Gefühl es versuchen zu müssen, die Klinke herab gedrückt. Die Tür war gar nicht abgeschlossen. Federleicht glitt sie nach innen auf. Das Knarzen war jetzt sehr nah, näher als Ben lieb war, denn er wollte die Ursache dafür endlich sehen.
Der Dachboden war dunkel, so dunkel, dass Ben nicht einmal einen Meter weit vor sich sehen konnte. Er hätte eine Taschenlampe mitnehmen sollen. Vom Garten aus hatte er schon bemerkt, dass es hier oben keine Fenster gab. Wenn er nicht aufpasste, würde er noch über irgendetwas stolpern und der Länge nach hinfallen. Er spürte wieder Annas stechende Fingernägel in seinem Arm und ihren heißen Atem an seinem Ohr. Es wurde Zeit, endlich Schluss mit diesem vermeintlichen Spuk zu machen und wieder ins Bett zu gehen. Die erste Nacht fängt ja gut an, dachte Ben.
Zögernd machten sie drei Schritte in den Raum hinein. Die Dunkelheit und der Geruch nach Altem, Moderndem, der hier oben besonders stark war, hüllten sie ein wie eine Decke.
„Shit!“, keuchte Ben und zuckte panisch zusammen. Anna presste sich ängstlich an ihn. Etwas hatte seine Stirn gestreift, ein Faden, vielleicht Spinnweben. Hektisch fuhr er sich über Haare und Gesicht, wollte die Spinnweben fortschlagen. Da streifte seine Hand wieder den Faden und als er begriffen hatte, was es war, zog er erleichtert daran.
Es war eine Schnur, die von der Decke hing. Man konnte damit eine schmutzige, nackte Glühbirne einschalten.
Knarz Knarz Knarz
Keine Armlänge von Ben und Anna entfernt stand ein Schaukelstuhl. Der Stuhl und das Ding, das in ihm saß und gemütlich vor- und zurückschaukelte, war die Ursache für das Gequietsche. Es war eine Frau. Zumindest war es irgendwann einmal eine Frau gewesen. Die grauen, strohigen Haare sahen aus wie eine billige Perücke und überall darin wuselten kleine Spinnen und Käfer. Der Kopf der Frau war gnädigerweise auf ihre Brust gesenkt, Ben wollte ihr Gesicht nicht sehen. Die runzeligen Arme hielten die Lehnen des Stuhls umfasst, ihre Hände sahen verfault und angeknabbert aus. Ratten, Ratten, konnte Ben nur noch schockiert denken.
Anna hatte aufgehört sich den Mund zuzuhalten und stammelte Worte ohne Zusammenhang. Anscheinend stand sie unter Schock und brachte keinen Schrei hervor.
„Nein, tu das nicht!“, kreischte Ben, aber bevor er reagieren, ja noch bevor sein Verstand die neue Situation überhaupt verarbeiten konnte, hatte Anna ihre Hand nach dem Ding ausgestreckt.
Ben hätte nie gedacht, dass alte Menschen so blitzschnell sein konnten. Noch dazu, wenn sie offensichtlich tot waren. Bevor Annas Hand das Haar der Frau berühren konnte, hob sich der Kopf, aufgeschreckt wie aus einem leichten Schlaf. Eine Falle, natürlich, registrierte Ben. Das Gesicht der Oma sah aus, als hätte sie einen schlimmen Sonnenbrand. Die krebsrote Haut blätterte teilweise ab und ihre Nase sah aus, als wäre sie in Salzsäure getaucht worden. Aber das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war das Grinsen, ein Grinsen wie man es nur von völlig Verrückten oder Drogenumnebelten kannte. War das ein Ausdruck von Freude, den Ben auf dem Gesicht des Dings sah? Die Freude darüber, dass nach Wochen, wenn nicht Monaten der Dunkelheit jemand sie besuchen kam? Und Ben wusste, dass sie ihre Gäste nie mehr gehen lassen würde. Er musste an das alte Märchen von der Hexe in ihrem Knusperhäuschen denken. Und ja ... wahrscheinlich war das Wesen, das da vor ihm saß so etwas Ähnliches.
Ihre Hand hatte Anna gepackt, hielt ihren Arm wie in einem Schraubstock. Jetzt kreischte Anna. Kreischte wie eine Laubsäge auf vollen Touren. Die Hexe fuchtelte mit den Armen wie eine kämpfende Katze, zerkratzte Annas Wangen, ihren Hals, ihre Lippen. Das Grinsen der Frau hatte sich von Freude zu Hunger verwandelt, jedenfalls deutete Ben dies so, als sie gierig und kichernd ihr Gebiss in Annas Oberschenkel grub.
Ben war erstarrt. Obwohl seine Frau Höllenqualen litt, und von einem Ding, direkt aus seinen schlimmsten Alpträumen angefressen wurde ... konnte er nur daneben stehen und fasziniert zusehen. Das Ding sah ihn an, sah ihn aus Augen an, so leer und schwarz wie die unendliche Weite des Alls. Mit einer Hand, wie die Klaue eines Geiers, umklammerte sie eisern Annas Hals, mit der anderen hatte sie ihre Schulter in festem Griff. Ihr Mund leckte, biss, saugte, aber ihre Augen waren starr auf Ben fixiert.
Er konnte nicht anders, er musste ihr zusehen. Sein Körper schien sich in Stein verwandelt zu haben. Er konnte keinen Schritt vor oder zurück machen, konnte nicht schreien. Seine Zunge lag wie ein sterbendes Tier in seinem Mund und gab nur schwache Zuckungen von sich. Und in seinen Blick trat Erkennen. Er wusste wer die Frau war, natürlich. Es war die Frau, die vorher hier gewohnt hatte. Die gestorben war und der Grund dafür, weshalb ihr Mann ins Seniorenheim ging. Die Maklerin hatte ihm nie erzählt, dass Omi hier in diesem Haus verstorben war. Aber hatte er es nicht längst gewusst? Während all der Tage, in denen er im Haus gearbeitet hatte? Hatte er nicht ihr Flüstern gehört? Ihr Flüstern, das ihn einlud sie zu besuchen? Seine teilweisen Aussetzer, in denen er halb schlafend am Boden lag ... natürlich, alles ergab jetzt einen Sinn. Zu jener Zeit hatte er ihrem Ruf widerstehen können ... heute jedoch nicht. Er setzte sich zu ihr, ließ sie ihren Hunger stillen und lauschte ihrem Geflüster, das sich wie Nägel in seinen Kopf bohrte.
Die Wochen verstrichen und Ben hatte sich mittlerweile vollkommen an die neue Umgebung und an sein neues Zuhause gewöhnt. Es war eine schöne Zeit, vielleicht die schönste seines Lebens. Das Geschäft lief ausgezeichnet, er hatte sich schnell einen guten Namen gemacht. Noch nie zuvor war es ihm so leicht gefallen, die Leute zu überzeugen, dass sie unbedingt eine Versicherung abschließen sollten. Omi hatte dafür gesorgt, damit er regelmäßig die Miete bezahlen konnte. Im Grunde waren sie so etwas wie eine kleine Familie geworden und er verbrachte viel Zeit mir ihr und Anna. Es ärgerte ihn ein bisschen, dass die beiden immer nur auf dem dunklen Dachboden saßen, aber auch daran gewöhnte er sich. Wenn das Flüstern einsetzte, tauchte Ben ein, in eine Welt, so ruhig und friedlich. Hier fühlte er sich wohl und geborgen. Und wenn es Zeit wurde, versorgte er seine Familie mit allem, was sie brauchte.