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Das Schloss
Blick aus dem Fenster. Der Samstagmorgen war grau. Tropfen auf dem Wagen vor unserem Haus erzählten mir, dass er auch nass sein musste.
Meine sorgsam gepflegte Liste von Argumenten "Warum ich HEUTE nicht joggen gehen kann", hatte gegen mein schlechtes Gewissen verloren.
So trabte ich langsam und allein zwischen den Häusern unserer Straße auf die bewaldete Flanke des kleinen Berges in der Nähe zu.
Der Weg war neu - jedenfalls für mich. Ich wohnte noch kein halbes Jahr in der Gegend und kannte daher nur die Durchgangsstraßen, durch die ich alltags mit meinem Auto hastete.
Die Straße stieg leicht an und bereitete mich auf die Steigung am Berg vor.
"Friedhof" stand auf einem schlichten Schild in Pfeilform. Das versprach Abgeschiedenheit und geordnete Verhältnisse - Steine, Kiesel, Hecken und ein paar gütige Bäume, die den “Hof” in viele kleine, gemütliche Ecken zerbrechen.
Frohen Mutes lief ich darauf los. Immer schön auf den Fußballen, nicht mit den Hacken zuerst auftreten. In der Schule der Jogging-Ausreden war auch das Kapitel "Ich will nicht durch falsches Laufen meine Gesundheit ruinieren" nicht ausgelassen worden. Und so hatte ich mich vor dem ersten Schritt mehrere Wochen lang ordentlich schlau gelesen.
Inzwischen war der Friedhof in Sicht gekommen. Als ich die Stufen zu den Gräbern hinaufstieg, verschwanden mit den heraufkommenden Grabsteinen die Häuserreihen hinter mir.
"Auf einem Friedhof darf man nicht joggen!", überzeugte ich mich und nutzte die Gelegenheit eine Weile gemütlich zu gehen. Namen Verstorbener zogen an mir vorbei. Ich dachte darüber nach, wie viel es die Hinterbliebenen gekostet haben muss, solch schöne Grabsteine aufstellen zu lassen. Beraube ich nachfolgende Joggergenerationen dieses Ge(h)dankenfensters, wenn ich mich einäschern lasse?
Da lag der Friedhof auch schon hinter mir.
Der jetzt beginnende Weg musste hier schon seit Jahrhunderten seinen Anfang haben, denn die Steine des Pflasters waren alt und ausgetreten.
Ich vergaß das Laufen und ging interessiert weiter. Äste hingen in den Weg hinein. Zur Rechten und zur Linken hatten sich Gräser und Sträucher bereits daran gemacht, alles zu überwuchern. Wie ein leiser Reißverschluss zog sich das Gestrüpp langsam über der alten Straße zu.
Weiter hinauf trugen mich meine neuen Turnschuhe. Einige mehr oder weniger süße Brombeeren fielen mir am Wegesrand zum Opfer, als mir zwischen den Ranken ein fast verwachsener Stufenweg ins Auge fiel. Neugierig blieb ich stehen und schaute mir den Eingang an. Ein kleines Tor - mehr ein Hinweis, denn ein Hindernis - hatte einst hier gestanden. Allerdings war es inzwischen fast zerfallen und hing offen an einem Scharnier in seinen Angeln.
Die alte Steintreppe dahinter sah stabil aus und war unter den Blättern der Jahre und den in den Ritzen sprossenden Halmen gut zu erkennen. "Wie lange wohl schon niemand hier hinaufgestiegen ist?", fragte ich mich. Ein Flecken Erde, der nicht gewartet, vermessen, bewertet und gestresst wird.
Vergessen. Das war die richtige Beschreibung für den Weg und seine Erbauer. Vielleicht lagen alle, die von diesem Weg wussten, unter den Grabsteinen da hinten? Das war Motivation genug. Ich stieg vorsichtig die Stufen hinauf, versuchte so gut wie möglich den Ästen und Zweigen der Sträucher sowie verwachsenen Obstbäumen auszuweichen.
Eine mit Moos überzogene, aber massiv wirkende Mauer erschien zwischen dem nassen Grün. Sie funktionierte auch nach all den Jahren noch tadellos - ich konnte nicht weiter. Fest entschlossen, diese Anlage, welche bestimmt schon seit dem Krieg nicht mehr betreten wurde, zu erkunden, drückte ich mich an der Mauer entlang.
Ich malte mir aus, wie verwildert der Garten hinter der Mauer im Laufe der Jahren sein musste. Wie er wohl früher von Gärtnern gepflegt aussah? Oder fand ich ein Haus dahinter vor? Ein altes Herrenhaus mit vielen dunklen Fenstern und einer zweiflügeligen Tür, die sich entweder laut knarrend öffnet oder staubend zusammenbricht, wenn man sie aufdrückte.
Ich bog um eine Ecke, da sah ich es: Das Schloss!
Es hing an einem Gittertor und war niegelnagelneu...
Es fing wieder an zu regnen.