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Das Schicksal, das sich irrt
Mona verließ ihre kleine Welt, in der sie sich nie wirklich zuhause gefühlt hatte, obwohl sie dort die Menschen hatte, die ihr alles bedeuteten. Ihre beste Freundin hatte sie schon im Kindergarten kennen gelernt, nie hatten sie sich gestritten, und auch in Krisenzeiten – und die gab es -, die allesamt wortlos vonstatten gingen und über die auch immer erst Jahre später gesprochen wurde, fanden sie immer wieder zusammen, sie fanden sich jedes Mal sogar noch ein bisschen mehr. Ja, man könnte es Seelenverwandtschaft nennen, Schicksal – oder einfach nur Glück. Aber auf jeden Fall war es gut.
Ihre Beziehung mit Michael dauerte nun schon ein halbes Jahr – und ich kenne Mona, für sie war das eine sehr lange Zeit. Ihr Freund war ein sehr ruhiger Mensch, somit veranlasste er Mona, auch einmal die Initiative zu ergreifen, Entscheidungen zu treffen und den ersten Schritt zu wagen. Das lernte sie bei ihm. Auch war er der erste Mann, dem sie glauben konnte, dass er sie liebte. Und das tat er, auf ganz liebevolle, umsichtige Art. Sie war wunderschön für ihn, und auch wenn es Zeit brauchte, dass Mona es zuließ, dass er sie ansehen und berühren konnte ohne dass sie sich unwohl fühlte, so kam es mit voranschreitender Zeit manchmal auch vor, dass Mona sich auch selbst schön fand – und im nächsten Moment schämte sie sich für diesen Gedanken. Doch sie fühlte sich geliebt – sie hatte gelernt, sich geliebt zu fühlen.
Dennoch wagte sie den großen Schritt und ging in die große Stadt um zu studieren. Anfangs fiel es ihr schwer, sie kannte ja niemanden und vermisste ihre Freunde, diese vertraute Welt, in die sie ihr ganzes Leben hineingewachsen war, in die sie sich oft genug hineinarbeiten hatte müssen. Die Stadt erschien ihr oft als lieblos und unheimlich, als groß und gefährlich. Doch auch hier lernte sie, sich zurechtzufinden, auch hier musste sie Initiative ergreifen und selbstständig sein. Mona lernte viele Leute kennen, vorzugsweise Studienkollegen, doch mehr als Smalltalk und einige wenige Kaffeehausbesuche waren nicht drin. Ein halbes Jahr lang verbrachte sie mehr oder weniger nur in ihrem kleinen Zimmer in der großen Stadt – abgesehen von den Wochenenden, denn da fuhr sie zurück in diese kleine, vertraute Welt ---
die ihr immer fremder wurde. Oft hatte Mona keine Lust mehr auf dieses nirgendwo wirklich sein, sie fühlte sich hin- und her gerissen zwischen dieser kleinen Welt, die alle Erinnerungen in sich trug und der großen Stadt, die all ihre zukünftigen Erinnerungen in sich trug, die sie bald sehr lieb gewonnen hatte, weil sie schön war und unkomplizierter und überschaubarer als sie sich das jemals gedacht hatte. Die große Stadt wurde vertrauter und kleiner – und mehr Heimat.
Mona hatte Freunde gefunden, der Kontakt mit den Freunden aus früheren Zeiten wurde mehr und mehr Vergangenheit und all das verblasste wie Erinnerungen von längst Geschehenem. Ihre Erinnerungen verlagerten sich von der kleinen Welt, die einmal ihr Zuhause war, in die große Stadt, die sie nun viel mehr anging als alles, was zuvor ihr Leben gewesen war. Es fiel ihr immer schwerer, sich davon zu trennen, kaum noch etwas hielt sie an der alten Heimat – auch nicht ihre Freundschaft, die immer öfter Enttäuschungen brachte, auch nicht die Beziehung. Mona hatte gelernt, was es hieß, sich auseinander zu leben. Und sich neu zu verlieben.
Lukas studierte mit ihr, zu Beginn des dritten Semesters lernten sie sich kennen. Es war sofort das Gefühl da, den anderen schon ewig zu kennen, bereits nach der ersten Woche hatte sie sich ihr ganzes Leben erzählt, die Erinnerungen noch einmal aufgefrischt, um sie dann wieder verblassen zu lassen, um Platz für die Gegenwart zu machen.
Nicht von Anfang an war sie verliebt in ihn, sie war damals ja noch in der alten Beziehung. Vielleicht kam ihr der Gedanke manchmal, ich weiß es nicht. Ich habe sie nie gefragt. Was aber dafür spricht, ist, dass sie mit Michael schon einmal Schluss gemacht hatte, nämlich nachdem sie mit Lukas für ein Wochenende in Prag gewesen war. Sie erzählte mir viel später, dass sie nicht wisse, ob damals Lukas der Grund dafür gewesen war, sie wisse nur, dass sie große Probleme mit ihren zwei Welten gehabt hatte, dass sie es nicht mehr hatte ertragen können, irgendwo dazwischen zu stehen. Jedenfalls hatte sie ihre Entscheidung bereut, sie kam wieder mit Michael zusammen.
Aber beim zweiten, beim letzten Mal, da war Lukas der Grund. Nachdem er ihr stundenlang aus dem Hobbit vorgelesen hatte, da wusste sie, wen sie liebte und wohin sie gehörte. Mona hätte nie gewagt, das Lukas zu sagen, zu groß war das Risiko, zu groß ihre Angst. Sie glaubte nicht, dass er in sie verliebt sein könnte. Mona hielt ihn für zu intelligent, sie glaubte, ihm nicht gerecht werden zu können, sie musste immer nur daran denken, dass sie nicht schön und nicht klug genug für ihn war. Es schien, als hätte sie alles wieder verlernt, all ihre alten Ängste gruben sich wieder hervor und setzten sich in ihrem Kopf fest, als wollten sie alles daran setzen, nur um ja nie wieder verschwinden zu müssen.
Wie soll ich die Freundschaft zwischen Mona und Lukas beschreiben? Ich kann nur wiedergeben, was mir Mona erzählt hat und meine Eindrücke beschreiben, die ich nach ein paar Begegnungen mit den beiden hatte.
Ihre Freundschaft war eigenartig. Jeder, der die beiden beobachtete, musste sehr verwirrt sein, ich spreche aus Erfahrung. Einerseits machte es wirklich den Eindruck, als würden sie sich schon ewig kennen. Sie scherzten, ein running gag nach dem anderen, die fürsorgliche und sanfte Art, wie sie miteinander umgingen, die vertrauten Blicke, die sich trafen und sich zu küssen schienen. Doch gleichzeitig existierte eine große Distanz zwischen ihnen. Sie hielten immer einen Sicherheitsabstand, körperlich genauso wie geistig. Mona hatte erzählt, dass sie zwar über die Männer und Frauen aus der Vergangenheit sprachen, nie aber über aktuelle Gefühle in Liebesdingen. Sie selbst habe kaum über ihre Probleme mit ihrem Freund gesprochen, auch nicht über die Trennung, nur eben, dass sie nicht mehr mit ihm zusammen war. Und Mona hatte Lukas nie sagen hören, dass er ein Mädchen kennen gelernt habe, das ihm gefiel. Sie wusste nicht, ob er in der inzwischen langen Zeit, die sie sich kannten, jemals verliebt gewesen war.
Natürlich, sie waren beide nicht sehr offene Menschen, sie gehörten nicht zu denen, die anderen schnell in die Arme fielen, sie waren beide keine Menschen, denen körperliche Nähe leicht fiel. Und vielleicht hatte sich deshalb dieser Sicherheitsabstand eingebürgert, es wäre für beide wohl eigenartig gewesen, wenn der eine den anderen plötzlich umarmt hätte. Das ist zwischen ihnen niemals passiert. Auch andere Leute rätselten oft darüber, was zwischen den beiden wohl sei, nicht selten waren sie von der Antwort überrascht.
Mona hatte mit der Zeit aufgehört, darüber nachzudenken. Zu oft hatte sie in Lukas’ Verhalten sowohl das eine als auch das andere hineininterpretiert. Sie sagte, sie habe sich damit abgefunden, in jemanden verliebt zu sein, der diese Liebe nicht erwidern kann.
Jahrelang lebten sie so miteinander nebeneinander her, sie redeten nie über sich, Mona konnte sich nie dazu überwinden, ihm ihre Gefühle anzuvertrauen. Nie fand sie heraus, wie Lukas für sie empfand. Eine traurige Geschichte ist das, finde ich, vom Leben geschrieben wie kein Schriftsteller es vermag. Und viele Schriftsteller neigen zu einem Happy End, das Leben meist nicht. Und so kam es, dass nach langen Jahren der Freundschaft, die immer ehrlich und zärtlich, höflich und rein war, jeder seinen eigenen Weg ging und sein Schicksal akzeptierte, sich ihm fügte, ohne es in die Hand zu nehmen, ohne einmal zu bezweifeln, dass auch das Schicksal sich irren kann.
Nun, ich wusste die längste Zeit über, dass Lukas auch in sie verliebt war – und es wahrscheinlich noch immer ist. Er hätte es mir nicht zu sagen brauchen, denn wenn man selbst in Mona verliebt ist, dann merkt man sofort, dass es da noch jemanden gibt, der dasselbe für sie empfindet. Er wäre schon der Richtige für sie gewesen und ihr denkt wahrscheinlich „Heuchler! Du sagst, er sei der Richtige für sie, aber letztendlich hast du die beiden um ihr Glück gebracht! Du hättest es ihr sagen müssen!“ Und das mag auch stimmen. Aber da ich mich dafür entschieden habe, dass es besser ist, mit anderen Einsamen und Unglücklichen einsam und unglücklich zu sein, habe ich das Schicksal lieber selbst in die Hand genommen, denn manchmal kann auch das Schicksal sich irren.