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Das Scheusal

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27.04.2003
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Das Scheusal

Das Scheusal

"Volltreffer! Sechs Stockwerke. So eine Scheiße."
Ich hielt in der zweiten Reihe und ignorierte Franks Missmut. Um das Treppenhaus machte ich mir keine Gedanken.
"Vogelkäfigfahrstuhl und eine zwei Zentner Oma mit Oberschenkelhalsbruch im Dachgeschoss. Das käme mir bei der Hitze gerade recht." Er stieg mit dem Gerätekoffer aus und wurde bereits in der Eingangstür von einem Mann in 'Hausmeisteruniform' erwartet. Ich meldete unsere Ankunft der Zentrale, griff mir meine Ausrüstung und hielt kurz inne.
Mir graute es jedes Mal vor Einsätzen auf Verdacht der Nachbarn. Keine genaue Weisung. Der Vorstellungskraft allein oblag es, sich vorzubereiten und einzustimmen. Selbst nach nur einem Jahr auf der Wache konnte die Erinnerung von zahlreichen Erlebnissen zehren, die viel zu bitter waren, als dass sie verdaut werden konnten. Vielleicht hatte Frank einen Weg gefunden.

Ich schloss zu meinem Kollegen auf und nickte dem Hausmeister einen kurzen Gruß zu. Eine Handvoll Mieter des Hauses hatte sich hinter dem Mann versammelt. Nicht ungewöhnlich.

"Dachgeschoss", sagte Frank und lächelte schief, während wir auf den Fahrstuhl warteten. Dieser war tatsächlich für eine Trage viel zu klein. Der Hausmeister begleitete uns.

"Für das letzte Stockwerk müssen wir die Treppe nehmen. Eine ältere Dame wohnt dort, die bereits seit einigen Wochen von keinem Menschen mehr gesehen wurde."
Frank und ich sahen uns an. Wir machten uns keine Illusionen, denn diesen Anfang einer Geschichte kannten wir bereits. Sie endet fast immer gleich. Schweigend fuhren wir die Stockwerke hinauf. Gestank wurde deutlich, bevor der Fahrstuhl sein oberes Ende erreichte. Ich verzog das Gesicht.

"Sagen sie, wann haben sie denn den Geruch bemerkt? Das muss doch schon vor Tagen gewesen sein." Der Hausmeister zuckte unbehaglich mit dem Mundwinkel, als er die Kabinentür öffnete.

"Die Mieterin war stets etwas eigentümlich, und ein übler Geruch ging ständig sowohl von ihrem Wohnort, als auch von ihrer Person aus." Die Selbstverständlichkeit in seiner Stimme sollte Erklärung genug sein.
Neben dem Gerüst des Fahrstuhls befand sich eine weitere Gittertür, hinter der sich eine schmale Holztreppe in ein stickiges Halbdunkel erhob. Vereinzelte, winzige Fliegen durchschnitten die Luft. Der Hausmeister schloss vorsichtig die Tür auf, ganz so, als öffne er den Käfig zu einem wilden Tier. Frank wischte sich sein schwitziges Gesicht. Der Gestank war unerträglich.
Ich ging voran und spähte erst einmal in die Dunkelheit.

"Gibt es hier kein Licht?" Kopfschütteln.
Nur schemenhaft konnte ich die Tür am Ende der Treppe erahnen. Flecken aus tiefstem Schwarz verwehrten mir die Sicht, fraßen Strukturen und spieen sie willkürlich wieder aus. Es wirkte, als ob ich ein düsteres Bild betrachten würde, dass ein unzufriedener Maler mit dunklen Flecken versehen hatte. Der Schweiß rann an meinem Gesicht herunter, doch ich fror in dieser stinkenden Hitze.
Ich spürte Furcht. In meinen Kindheitstagen hatte ich diese Furcht vor der Dunkelheit verloren, doch nun fühlte ich sie wieder, als hätte sie all die Zeit an diesem Ort auf mich gewartet.

"Was ist?" Frank fasste meine Schulter. Ich wusste nicht, wie lange ich die Treppe hinaufgestarrt hatte.
"Nichts. Es ist nichts." Ich setzte einen Fuß auf die unterste Stufe und begann hinaufzugehen.

Dann erfasste mich das Scheusal, das dort oben lauerte.
Ich kann mich nicht erinnern, was genau geschah, ob es sich erst bewegte oder ob es zuvor schrie.
Die Dunkelheit, die ich fürchtete, hatte eine Gestalt angenommen, und diese kreischte aus unzähligen Mäulern in einem entsetzlichen Konzert des blinden Chaos. Der schwarze Leib des Scheusals stürzte sich auf mich herab, aufgescheucht. Es umringte mich in einer abartigen wahnsinnigen Liebkosung, die ich ekelhaft kühl und schleimig schwitzig auf meinem Leib fühlen konnte. Es verschlang meine Welt in seiner Dunkelheit, tötete jeden Laut mit seinem teuflischen Tosen und fuhr in meinen Rachen, als ich schrie.
Ich merkte nicht, dass ich fiel. Den Schmerz spürte ich jedoch, denn hart stürzte ich zu Boden. Unbarmherzig kroch das Scheusal über mich. Die Furcht fraß meine Gedanken.
Ich hörte einen Schrei des Entsetzens, es mochte Frank sein. Doch er war fern von mir. Ich war allein, als Panik und Grauen mich erfüllten.

Fürchtest du dich? Fürchtest du dich vor mir? So oft hast du mich zuvor gesehen, und jetzt erkennst du mich erst? Armer Narr, dass du eine meiner Gestalten brauchst, um mich zu fürchten...

Ich floh in meine eigene Dunkelheit.

"So etwas habe ich noch nie gesehen. Scheiße, das kann man sich einfach nicht vorstellen." Frank zog zittrig an seiner Zigarette. Wir standen auf einem Balkon der Klinik, da das Raucherzimmer zu verqualmt war für meinen Geschmack. Noch immer fühlte mein Kopf einen leichten, tauben Schmerz. Ein geringer Preis für einen derartigen Treppensturz.
"Diese Fliegen, das war das ekelhafteste, was ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. Ich dachte, ich müsste sterben, als dich dieser Schwarm plötzlich verschluckte. Verdammt, waren das viele." Er schnippte den Filterstummel den Balkon hinunter und sah mich von der Seite an.
"Und die Bude der Alten sah aus, das glaubst du nicht. Wenn du dir nicht fast den Schädel eingeschlagen hättest, würde ich dich dafür beglückwünschen, dass du das nicht mit ansehen musstest. Die hat mindestens fünf Wochen in ihrem Dreck gelegen. Ihre Sittiche waren alle verreckt. Kein Schwein will etwas gemerkt haben." Er schüttelte den Kopf.
"Und überall Fliegen. Horden von Fliegen. Kein Schimmer, wo die alle herkamen und warum das so viele waren. Das Ordnungsamt könnte das gesamte Haus abreißen, so verseucht war der Ort." Frank fischte sich eine weitere Zigarette aus seiner Schachtel.
"Man will nicht glauben, was es für eine Scheiße auf der Welt gibt."
Ich sah ihn an. Er versuchte ohne Erfolg, mit seinem Feuerzeug den Tabak zu entzünden.

"Darum sieht man sie nicht." Er schaute auf, die unangezündete Zigarette im Mund, als ich sprach.
"Und wenn man sie nicht sieht, fürchtet man sich nicht, bis irgendwann das Scheusal seine wahre Gestalt zeigt."
Frank starrte für einen Augenblick unsicher. Dann schnaufte er amüsiert.

"Es scheint so, als ob du härter auf den Kopf gefallen bist, als ich dachte. Kurier dich mal lieber aus, Junge."

Wenn man erst einmal gesehen hat, wird man nicht mehr aufhören, sich zu fürchten, nicht wahr?

 

Hallo Vimes,

ich habe deine Geschichte gelesen und ich mußte einfach weiterlesen, immer weiter. Du hast sehr viel Spannung reingelegt und auch der Point ist sehr schön.

Dein Stil ist gut und deine Geschichte regt sehr zum Nachdenken an!

Du hast dieses Thema feinfühlig erzählt!

Gut!!!

Liebe grüße

Ev

 

Halle Evi,

vielen Dank für Dein Lob!
Ich war mir erst nicht sicher, ob diese Geschichte in der "Alltag" Rubrik richtig ist (sie ist gruseliger geworden, als ich es ursprünglich beabsichtigt habe).

Doch da Rettungsdiensteinsätze dieser Art immer wieder im Alltag geschehen, müsste es letztendlich doch passen.

Wenn ich tatsächlich zum Nachdenken anregen konnte, freut es mich um so mehr... ;)

Vimes

 

Hallo Vimes,

auch ich habe Gefallen an Deiner Geschichte gefunden. Wenn ich auch anfangs etwas verwirrt war, um was es geht. Aber die Geschichte ist gut erzählt und spannend bis zum Schluß.

Griasle,
stephy

 

hi vimes,

ja, spannend. die scheusalszene ist sehr schwierig zu verstehen. ich wusste lange nicht, ob es eine metapher war oder nicht.
der erzählstil ist locker und wirklich angemessen.
die thematik und die kulisse sind erfrischend.
gute geschichte.

bye

barde

nur zwei minifehler:

Vereinzelte winzige Fliegen durchschnitten Luft.

hinter "Vereinzelte" ein komma

"Dachgeschoss," sagte Frank und lächelte schief, während wir auf den Fahrstuhl warteten.

das komma hinter den anführungsstrichen

 

Hallo Vimes!

Auch mir hat die Geschichte gut gefallen... die bedrückende Atmosphäre, der Schreck, es kommt sehr gut rüber. Die Scheusalszene ist am Anfang wirklich etwas schwer zu verstehen, aber sehr gelungen geschrieben!
Eine gut erzählte, flotte Geschichte!

schöne Grüße
Anne

 

@stephy, Barde & Maus

Dankeschön für das Lob (und @Barde ebenfalls danke für die kleine Korrektur - die Fehler habe ich bereits behoben)! :)

Freut mich, dass Euch die Geschichte gefallen hat.

Vielleicht hätte ich mir für die Scheusalszene einen weniger poetischen Ton überlegen sollen (da ich die ganze Zeit über die Fliegen nachdachte, war mir natürlich alles klar. Mir ist nicht aufgefallen, das der/die LeserIn sich erst einmal durch die ganze Szene arbeiten muss, um im Bilde zu sein - dadurch wird alles surreal und somit weniger schrecklich, als ich es geplant hatte).

Aber wenn's schlussendlich gefällt, bin ich sehr zufrieden. :D

Danke nochmal!

Vimes

 

Hallo Vimes,

wenn man weiß, dass du Fliegen meinst, dann ist deine Geschichte vollkommen klar und logisch, aber ich habe erst im zweiten Teil der Geschichte davon erfahren.
Deswegen finde ich diesen Satz unter der Prämisse, dass man nichts von den Fliegen weiß, unlogisch und würde dir fast vorschlagen, ihn wegzulassen:

"Ich zermalmte tausendfach seine Leiber, doch ohne Zahl waren sie."

Ansonsten fand ich deine Geschichte gut aufgebaut, sehr spannungsreich, guter Spannungsbogen bis zum Ende und gut erzählt. Auch das Thema hat mir gefallen, weil du zum weiteren Nachdenken anregst. Z.B. ist der Tod für den Protagonisten wohl etwas sehr Befremdliches, Dunkles, Abstoßendes, dabei muß es nicht so sein. Immerhin könnte er auch denken, dass der Tod so normal ist, wie tägliches Zähneputzen, was er schließlich ist.

Unwillkürlich stellst du damit einen Protagonisten dar, der vollkommen realistisch agiert, wenn er zu Hilfe gerufen wird, aber mit dem Tod noch keine mentale Freundschaft hat schließen können.
In deiner Geschichte erscheint er jedoch wesentlich sympathischer als sein Kollege Frank, der noch weniger an Nachdenklichkeit zuläßt.
Mir gefällt, dass du mit wenigen Strichen (Sätzen) in der Lage bist, so vieldeutig zu zeichnen.

Lieben Gruß
lakita

 

Hallo Lakita,

schön, dass Dir meine Geschichte gefallen hat. Ich werde, wen wundert's, nicht müde für Lob (und für Kritik) zu danken.
Vielen Dank! ;)

Dein Vorschlag gefällt mir gut und beweist damit, dass man wohl auf LeserInnen angewiesen ist, um seine eigenen Geschichten gänzlich zu verstehen. Der Satz wird gelöscht.

In meiner eigenen Erfahrung im Rettungsdienst habe ich festgestellt, dass der Tod in vielen Fällen nichts würdevolles hat.
Vor dieser fehlenden Würde im Tode (oder am Lebensabend) habe ich selber große Angst, und ich weiß, dass man nur wenig tun kann und niemals sicher sein wird.

Das Verhalten des Protagonisten Frank stellt tatsächlich eine weitaus realistischere Zeichnung eines Rettungsassistenten dar. Über den ganzen "menschlichen Mist" zu klagen bzw. eine makaber-humoristische Haltung einzunehmen, ist eine gängige Praxis in diesem Beruf (wobei aber deutlich gemacht werden muss, dass dies in keinem mir bekannten Fall die tatsächliche Persönlichkeit wiederspiegelt, sondern eine Art Selbstschutz darstellt).
Niemand wird auf Dauer in diesem Beruf tätig sein, wenn er nicht einen Weg findet, damit umzugehen.
Ein Grund, warum mein Hauptcharakter noch seinen Zweifeln unterworfen ist.

Ich sollte mich hier jedoch besser nicht weiter darüber auslassen, da dies wohl nicht Sinn dieses Forums ist...

Vielen Dank jedenfalls für Deinen schönen Kommentar!

Liebe Grüße,

Vimes

 

Hallo Vimes,

nein, ich glaube, es ist noch nicht offtopic, wenn wir anhand deiner Geschichte über den Tod reden.

Es paßt verdammt gut in unsere Zeit, dass der Tod ohne Würde ist, wir sind gewohnt, ihn zu leugnen, ihm zu widerstehen, ihn zu verabscheuen. Wie kann da Würde und Achtung aufkommen. Wir sprechen ihm seine Natürlichkeit ab und vernichten damit die Chance in Würde zu sterben. Noch nicht einmal in Ruhe sterben ist in dieser lauten Zeit möglich.

Lieben Gruß
lakita

 

Hallo Vimes,
tolle Geschichte, die einem im Gedächtnis hängen bleibt und wie ja bereits schon von den anderen erwähnt, zum Nachdenken anregt. Es ist wirklich sehr traurig, dass in unserer Gesellschaft so viel Gleichgültigkeit herrscht, dass Menschen einfach wochenlang tod in ihrer Wohnung liegen, ohne dass es jemand merkt oder merken will.
Die Beschreibung des Scheusals und danach die Auflösung, dass es ein Fliegenschwarm war - klasse Idee. Freue mich schon, bald hoffentlich mehr von Dir zu lesen.
Liebe Grüsse
Blanca

 
Zuletzt bearbeitet:

Schönen Dank für die die ungemein anspornende Kritik! :)

@Blanca
Die besten Ideen gibt der Alltag uns vor. ;)
Ich hoffe, dass ich Deiner freundlichen Aufforderung nachkommen kann. Man wird sehen...

@Adrian

Ah, ein Scheibenweltkundiger! :D

Solange Du mit Deiner Zivistelle froh bist, kannst Du wahrlich nicht meckern (im Nachhinein hätte ich besser im Rettungsdienst meinen Zivi machen sollen, dann wäre die erste Ausbildung zum Rettungssanitäter kostenlos gewesen, und ich hätte etliche Arbeitsstunden für die Assistentenausbildung gespart - lohnt sich wirklich!).

Meine Freundin dachte eher an das Cthulu-RPG, als sie die Zeilen las (es war jedoch nicht meine Absicht, eine Horror-Geschichte zu schreiben).

Nicht alles im Rettungsdienst ist schrecklich. :aua:

 

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