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Das Schattending
Da war ein Licht am Ende des Tunnels. Genau wie es einem immer versprochen wurde. Ein wunderschönes Licht, warm und golden, wie das der Oktobersonne, wenn sie Abends zwischen dichten, herbstlichen Baumkronen versinkt und die Welt in ihr Zauberlicht hüllt. Sein Anblick erfüllte mich mit einer eigenartigen Ruhe und einem tiefen, erfüllenden Frieden. Es war anziehend, wie ein stummes, leuchtendes Versprechen, dem man einfach folgen musste. Ich sehnte mich danach, hineinzugehen, um zu sehen, was danach kam.
Ich habe immer gewusst, wie ich einmal sterben würde. Ich wusste, eines Tages würde ich über eine Kreuzung fahren oder über eine grüne Ampel, an einer Seitenstraße vorbei, und jemand, wahrscheinlich ein LKW, würde mir die Vorfahrt nehmen und mir mit voller Wucht ungebremst in die Seite brettern. Ich wusste genau, irgendwann würde es krachen. Aus heiterem Himmel. Ich konnte es vor meinem geistigen Auge sehen, wann immer ich über Kreuzungen, grüne Ampeln und an Seitenstraßen vorbei fuhr. Ich sah das Glas splittern und hörte den Aufprall.
Aber ich ertrank.
Vielleicht, weil Unfälle immer dann passieren, wenn man sie eben nicht erwartet. Oder weil das Schicksal es amüsant findet, Vorahnung zu missachten. Oder weil meine Vorahnungen keine Vorahnungen, sondern bloß Einbildungen waren. Hirngespinste, übereifrige Fantasien, die rein gar nichts damit zu tun hatten, dass ich tatsächlich vor meiner Zeit abtreten würde.
Vielleicht war es auch einfach nicht besonders klug, sich den Hals nach einer fremden Blondine zu verdrehen, wenn man am Rand des Fünfmeterbretts im örtlichen Schwimmbad steht und mit einem miserablen Gleichgewichtssinn gesegnet ist. Es brauchte nur eine winzige Drehung in die falsche Richtung. Meine Füße glitten aus, ich trat mit einem Bein ins Leere, rutschten vom Brett, und schlug mir im Fallen den Kopf an der Kante an. Fünf Meter tiefer klatsche ich bewusstlos ins Wasser. Wie ich ertrank, bekam ich nicht mit, mich umhüllte eine dichte, gnädige Wolke aus Dunkelheit. Diesbezüglich kann ich mich wahrscheinlich glücklich schätzen. Zu ertrinken mag als eine der angenehmeren Arten zu sterben gelten, wobei ich mich frage, wer das genau beurteilen will, aber erleben will man das trotzdem nicht.
Fakt ist, ich war tot. Nicht lange. Nicht lange genug, um mein Gehirn zu ruinieren – Gott bewahre, und an Gott, oder zumindest irgendetwas Göttliches, glaube ich seit diesem Ereignis. Aber ich war tot. Tot genug, um das Licht zu sehen und zu verstehen, dass ich hineingegangen wäre, hätten sie mich nicht zurückgeholt. Und ich wäre gerne gegangen. Vielleicht sogar lieber, als zu bleiben. Aber die Wahl hatte ich nicht, denn sie holten mich zurück. Zumindest glaubte ich vorerst, dass ich keine Wahl hatte und lieber gegangen wäre.
Im Nachhinein allerdings frage ich mich oft, ob es genau anders herum war. Dass sie mich nur zurückholen konnten, weil ich doch eine Wahl hatte und auch eine Entscheidung traf. Nämlich nicht zu gehen. Weil da noch etwas war in diesem Licht, etwas, das mich zutiefst entsetzte. Aber das fiel mir erst später wieder ein. Erst einmal glaubte ich, ich hätte den Weg ins Paradies gesehen und hätte ihn noch nicht gehen dürfen.
Die Ärzte sagen, dieses Licht, das so viele zu sehen glauben, sei lediglich auf Projektionen im Gehirn zurückzuführen. Auf etwas, das geschieht, wenn sich diese Hochleistungsmaschine herunterfährt, kurz bevor sie sich ganz abschaltet. Das sei weder ungewöhnlich, noch übernatürlich.
Ich bin sicher, dass sie mit dieser Annahme ziemlich falsch liegen.
Ich jedenfalls lag ein Woche im Krankenhaus, ließ etliche Tests über mich ergehen und durfte es schließlich offiziell als lebendiger und kerngesunder Mann wieder verlassen – keine bleibenden Schäden, nochmal Glück gehabt, passen Sie in Zukunft etwas besser auf sich auf. Selbstverständlich.
Etwas benommen von all dem ging ich nach Hause, versuchte, zu verarbeiten, was da geschehen war, und in mein normales Leben zurückzufinden.
Das klingt leichter, als es ist. Viele einschneidende Erlebnisse verändern einen, lassen einen die Welt aus einer anderen Perspektive wahrnehmen, auch die Menschen im eigenen Umfeld. Man überdenkt so einiges, manchmal sein ganzes Leben. Einmal tot gewesen zu sein, gehört sicherlich zu jenen Erlebnissen, die einen nicht nur verändern, sondern in seinen Grundfesten erschüttern. Vermutlich gibt es Leute, die das mit links wegstecken, und ich war einer von jenen, die, hätte man sie im Vorfeld gefragt, sehr überzeugt davon gewesen wären, dieser elitären Gruppe anzugehören. Tja, das war ein Irrtum. Ich steckte gar nichts weg.
Stattdessen versank ich in trübsinniger Grübelei. Über den Sinn des Lebens – hatte es überhaupt einen? Über das, was danach kam – was kam danach? Kam was danach? War das Licht am Ende doch nur ein Kurzschluss in meinem Denkapparat? Was sollte ich jetzt anstellen, mit meinem Leben, meiner Familie, meinem Haus mit Garten und den Kindern und dem Job?
Dieser Zustand hielt einige Tage an. Dann kamen die Träume. Und dabei fiel es mir wieder ein.
Ich hatte nicht nur ein Licht – ein wundervolles Traumlicht – gesehen. Ich hatte etwas darin gesehen. Es kam auf mich zu, ich weiß noch, ich dachte, vielleicht ein Verwandter, irgendein Vorfahr, jemand, der mir die Hand reicht und mich abholt. Aber es war kein menschliches Wesen. Es hatte zwei Arme und zwei Beine und einen Kopf, und es war dünn, wie aus Zweigen gebastelt, und die Gliedmaßen waren viel zu lang, der Kopf zu schmal und es war schwarz, tiefschwarz. Es hatte kein Gesicht, keine Augen, nur dieses schwarze, länglich schmale Oval, das sein Kopf war. Und es erfüllte mich mit eisigem Grauen. Es musste keine Zähne haben, die es blecken konnte, um mich wissen zu lassen, dass es ein Ungeheuer war. Ich konnte es spüren. Ich habe es damals gespürt und spürte es wieder, als es in meinen Träumen erschien.
Diese Träume waren wie ein zweites Mal zu sterben. Erst sah ich den langen, dunklen Tunnel, an dessen Ende sich ein kleiner Lichtpunkt befand. Ich ging näher und näher, und das Licht wurde größer und heller und prächtiger, und dann, es kam von links, war da dieses Ding, und ich wusste, würde ich weitergehen, würde es mich packen. Ich war schweißgebadet, wenn ich aufwachte und ich muss jedes Mal geschrien haben, denn meine Frau saß hellwach neben mir im Bett und fragte mich, was los sei. Ich sagte ihr, ich hätte von dem Unfall geträumt. Von dem Wesen sagte ich nichts. Nie. Ich träumte jede Nacht davon. Es war immer der gleiche Traum. Ich ging durch den Tunnel, auf das Licht zu, und von links erschien die schwarze Gestalt. Ich wachte auf, immer wenn ich mich entschied, umzukehren und ihr nicht in die Arme zu laufen.
Meine Frau riet mir, einen Arzt aufzusuchen, einen Seelenklempner. Vollkommen verständlich, von ihrer Warte aus betrachtet, schließlich wurde sie einmal pro Nacht durch einen gellenden Schrei aus dem Schlaf gerissen. Ich tat, was sie sagte, sprach mit einem Psychologen, erzählte ihm von dem Unfall, von dem Licht, hörte mir an, was er über Kurzschlüsse im Gehirn und damit verbundene Nahtoderfahrungen zu sagen hatte, und ließ mir Pillen verschreiben, die mich müde machten und noch mehr träumen ließen.
Nach einer Woche zog ich ins Gästezimmer. Ich schrie immer noch, aber meiner Frau nicht mehr direkt ins Ohr. Die Träume verschwanden nicht, die Pillen landeten im Mülleimer.
Die Kinder wollten wissen, was mit mir nicht stimmte. Warum ich jede Nacht schrie, warum ich da war und doch nicht da war. Einem Dreijährigen und einem Fünfjährigen erklärte man nicht einfach so, dass Papa ein paar Minuten klinisch tot war und jetzt an einer Art Posttraumatischer Belastungsstörung litt (oder wie immer der Seelenklempner das genannt hatte, ich habe ihm nie richtig zugehört), aber ihre Mutter tat ihr Bestes, ihnen irgendetwas zu erklären. Ich weiß nicht, was genau. Ich kümmerte mich nicht darum.
Die meiste Zeit saß ich am Fenster des Gästezimmers, das hinaus auf unseren Garten zeigte, und starrte die dunklen Tannen an, die den Rand unseres Grundstücks säumten, oder den Sternenhimmel, wenn es Nacht wurde. Ich schlief nicht mehr besonders gerne, also sah ich mir die Sterne oft und lange an. Ich dachte wieder häufiger über Seelenklempner nach. Vielleicht brauchte ich nur einen anderen, oder ein paar andere Pillen. Aber ich wusste, dass dem nicht so war. Ich wusste es ganz genau, aus einem verzweifelten, tiefen Verständnis heraus.
Meine Entlassung aus dem Krankenhaus war drei Wochen her (oder waren es vier … oder fünf?), ich war noch krank geschrieben und konnte mich meinen Grübeleien ungestört hingeben. Die Träume nahmen zu. Ich wachte jetzt nicht mehr nur einmal in der Nacht auf, es geschah, wann immer ich einschlief. Nachts, Tagsüber, sobald ich die Augen schloss, sobald mein Bewusstsein den Wachzustand hinter sich ließ. Der Tunnel, das Licht, das Wesen. Und es rückte immer näher. Je öfter ich träumte, desto näher kam es, bis es schließlich schon am Anfang des Tunnels auf mich wartete. Nur ein Schatten, der mit der Dunkelheit zu einem schwarzen Nichts verschmolz. Aber ich wusste, dass es da war. Ich wusste, dass es kalt sein würde, wenn es mich mit seinen langen, dünnen Fingern packte. So kalt, dass es brennen würde wie Feuer. Ich wusste es.
In Wirklichkeit war es noch viel kälter. Ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass er mich gepackt hat. Zwei Wochen, drei? Monate? Seine Hand schloss sich fest um meinen Arm. Mir stockte der Atem, er gefror mir in der Kehle, erstickte meinen Schrei. Ich habe seitdem nie mehr geschrien. Mein Herz ist kalt, und ich friere, obwohl draußen Hochsommer ist. Aber ich glaube, draußen war ich schon lange nicht mehr.
Meine Frau ist nicht mehr hier. Ich weiß nicht, wann sie gegangen ist, nur noch, dass sie sagte, sie würde die Kinder nehmen und eine Weile verreisen, bis ich mich wieder im Griff hätte. Verreisen … sagte sie verreisen? Ich weiß nicht. Vielleicht auch ausziehen. Oder verschwinden. Oder sie sagte, ich solle verschwinden. Jedenfalls ist sie weg. Sie sind alle drei weg. Dafür ist er jetzt da. Auch, wenn ich nicht schlafe. Er sitzt da in einer Ecke und hält mein Herz umklammert, zumindest fühlte es sich so an. Mir ist furchtbar kalt. Ich sehe ihn aus den Augenwinkeln, egal wo ich bin. Ich würde gerne wissen, ob andere ihn auch sehen, aber es ist niemand da, den ich fragen könnte. Vielleicht gehe ich morgen raus und frage den Erstbesten, den ich treffe.
Ich hab gestern schon versucht rauszugehen (ich glaube, es war gestern), dabei bin ich über den Vorschlaghammer gestolpert, den irgendjemand so dumm an die Treppe gelehnt hat, das er einem quasi ein Beinchen stellt. Ich hab damit damals, vor einer gefühlten Ewigkeit, die Pfosten für unseren Zaun in den Boden geschlagen, damit der Garten ordentlich aussieht und der Hund, den wir irgendwann einmal haben werden, nicht abhauen kann.
Jetzt klebt Blut daran, aber ich kann mich nicht erinnern, weshalb. Ich hab es gesehen, als ich drüber gestolpert bin, und mich gefragt, wie lange es da schon dran klebt. Eigentlich sieht es frisch aus, aber ich hab den Hammer eine Ewigkeit nicht benutzt. Ich weiß nicht einmal, weshalb er da gestern an der Treppe lehnte. Ich vergaß darüber, nach draußen zu gehen.
Ich wollte jemanden anrufen, meine Frau, meinen Seelenklempner, einen Freund – ich hatte mal Freunde, ich weiß nicht, wo sie jetzt sind. Aber ich glaube, ich brauche sie sowieso nicht mehr. Ich brauche niemanden mehr, ich hab ja jetzt ihn. Außerdem ist das Telefon kaputt. Sieht aus, als hätte jemand mit einem großen Hammer zugeschlagen. Können Telefone bluten?
Seit einer Weile spricht er mit mir. Nicht richtig, er hat keinen Mund, obwohl ich auch das nicht so genau weiß, ich kann ihn nicht fixieren. Ich sehe ihn nur aus den Augenwinkeln und dann nur als schwarzes, dünnes Wesen. Er flüstert, direkt in meinen Kopf. Es sind keine Worte, keine Sprache. Aber ich weiß trotzdem, was er sagt. Er antwortet mir sogar, wenn ich ihm Fragen stelle.
Ich fragte, wie er heißt, er sagte, er habe viele Namen.
Ich fragte, woher er komme, er sagte, ich hätte ihn mitgebracht, wofür er mir dankbar sei.
Ich fragte, woher ich ihn denn mitgebracht hätte und wer er sei, und er sagte, aus der Dunkelheit und er sei so alt wie die Zeit, und mehr als ich begreifen könnte.
Er sagte mir auch, er habe Hunger und hier gäbe es nichts mehr. Ich solle zu den Nachbarn gehen und den Hammer nicht vergessen.
Es war schon dunkel, als ich bei ihnen vor der Tür stand und klingelte. Das Nachbarmädchen öffnete mir, sie war allein zu Haus. Sie kaute Kaugummi – mit offenem Mund, es sah ekelhaft aus –, sah mich genervt an, wie Teenager das so tun, als käme ich gerade ungelegen, und fragte mich, was ich wolle. Ihr Blick fiel auf den Hammer, den ich mit einer Hand am Ende des Griffs gepackt hielt und am Boden hinter mir herschleifte. Sie hörte auf zu kauen, machte einen Schritt zurück, wollte die Tür zuwerfen, aber ich hatte den Hammer hochgenommen, geschwungen und schlug mit aller Kraft auf die Tür ein, die ein knackendes Splittern von sich gab und nach innen aufflog. Das Mädchen stolperte rückwärts ins Haus, ich folgte ihr. Er machte hinter uns die Tür zu, mit einem Windstoß, kalt wie eine uralte Winternacht.
Das Mädchen wimmerte und lief weiter ins Haus. In der Küche trieb ich sie in eine Ecke, wo sie weiter bettelte und gar nicht mehr genervt aussah. "Aber er hat Hunger", sagte ich und schwang den Hammer.
Ich hatte auch Hunger und ging zum Kühlschrank. Ich aß, was ich finden konnte, mein Magen war wie ausgehöhlt. Ich schmeckte nichts und stopfte alles in mich hinein. In der Küchenecke ertönte saftiges Schmatzen, aus den Augenwinkeln sah ich, wie er die Eingeweide des Mädchens über dem Boden verteilte. Er schmatze, und er wuchs, und mich erfüllte eine ungewohnte Wärme. Als würden seine kalten Hände, die mein Herz umfangen hielten, wohlig warm wie ein Kaminfeuer an einem frostigen Abend.
Er aß weiter, ich ging, drei Würstchen in der einen, den Hammer in der anderen Hand, durch das Haus und löschte überall die Lichter, indem ich sämtliche Glühbirnen zerschlug, auch die, die nicht brannten, und biss dabei immer wieder von den Würstchen ab. Dann setzte ich mich ins Dunkel auf die Couch und wartete.
Irgendwann hörte ich einen Wagen vor dem Haus, dann Stimmen. Ich stand auf und stellte mich in den Flur neben die Haustür. Er stellte sich neben mich. Draußen sagte jemand etwas über ein Loch in der Tür, dann ging sie auf. Der Lichtschalter wurde an und aus und an und ausgeknipst, aber es blieb dunkel. Glassplitter knirschten unter den Füßen der beiden Gestalten. Jemand keuchte, sagte etwas von Polizei, jemand anders rief ängstlich einen Namen. Die Tür schwang zu, durch einen eisigen Windstoß. Ich schwang den Hammer, einmal, zweimal. Danach war alles wieder still. Ich schleppte die Eltern des Mädchens zu ihm in die Küche und setzte mich auf die Couch. Er aß weiter. Ich schlief irgendwann ein. Traumlos. Seit er da war, träumte ich nicht mehr.
Als ich erwachte, war es hell. Ich ging in die Küche und fand drei Leichen mit eingeschlagenen Köpfen und ausgeweideten Bäuchen. Mir drehte sich der Magen um. Ich lief ins Bad, stürzte zur Toilette und übergab mich. Als ich zum Waschbecken wankte, um mir den Mund auszuspülen, fiel mein Blick auf mein Spiegelbild, und ich verharrte mit der Hand über dem Wasserhahn, den ich eben geöffnet hatte. Das Gesicht kam mir vage bekannt vor. Ich hatte es schon einmal gesehen, vor langer Zeit. Nicht so hager. Ohne die eingefallenen Wangen und ohne diesen Bart, der ungepflegt und mindestens zwei Monate alt war und in dem Essensreste und Kotze hingen. Ohne die schwarzen Ringe unter den blutunterlaufenen Augen. Ohne die strähnigen Haare, die viel zu lang in eine viel zu blasse Stirn fielen. Mein Blick war leer, wie mein Kopf, und nur von einem mageren Hauch Erkenntnis erfüllt. Dann sah ich ihn.
Er stand hinter mir. Größer als zuletzt, breiter, mit mehr Substanz. Er überragte mich jetzt um einen Kopf und starrte mich aus dem Spiegel heraus an. Ich sah ihn, und ich spürte ihn. Groß und kalt und furchtbar.
Ich flüsterte: "Was bist du?"
Er kam näher, so nah, dass seine Kälte mich einhüllte und bis ins Mark durchdrang, legte seine langen, dürren Finger um meine Arme und lächelte, ohne Mund, in einem schwarzen, gesichtslosen Gesicht. Wir müssen weiter, sagte er.
Er musste ihn gespürt haben, diesen Hauch von Erkenntnis, der ein kaum merkliches, inneres Zögern nach sich zog, denn seine Finger umfingen meine Arme fester und fester, so fest, dass ihre eisige Kälte durch mein Hemd in meine Haut und immer tiefer, bis in mein Fleisch, schnitt. Ich schrie vor Schmerz und wand mich in seinem erbarmungslosen Griff. Plötzlich ließ er los. Ich fiel auf die Knie, presste die Hände auf die Wunden. Ich roch verbranntes Fleisch. Mir wurde wieder übel, aber dieses Mal übergab ich mich nicht. Er stand immer noch neben mir. Kannte er sein Spiegelbild? Fand er es ebenso faszinierend wie jedes Wesen, das es zum ersten Mal erblickte?
Aber er sah nicht in den Spiegel. Er sah auf mich hinab. Und ich sah zu ihm auf. Der Schmerz beherrschte noch meinen Körper und verstörte meinen Geist, aber ich sah in die dunkelste Schwärze, die ich je erblickte, und sie fesselte mich. Ich sah in seine Augen. Ich wusste nicht, ob sich das, was ich dort sah, immer in den Tiefen seiner Augen spiegelte, oder ob er mich an seinem Wissen, seinen Gedanken, seinen finsteren Träumen teilhaben ließ. Ob er wollte, dass ich es sah.
Er kam näher, so nah, dass ich nichts als das Schwarz seiner Augen sah, und ich blickte in die Dunkelheit, in die dunkelste aller Dunkelheiten. Ich fürchtete, sie würde mich aufsaugen, er würde mich dorthin verbannen, in diese eisige, alles umfassende Finsternis. Aber dann sah ich etwas leuchten. Einen kleinen, glitzernden Punkt, und dann noch einen und noch einen, es wurden mehr und mehr, viele Dutzend, hunderte, tausende, kleine funkelnde Punkte. Sterne, dachte ich. Das war wirklich ein Himmel voller Sterne. Sie funkelten und pulsierten. Einer davon wurde größer und kam näher, bis ich den brennenden Körper der Sonne erkennen konnte. Das Bild verschob sich, mein Blick ging an der Sonne vorbei und weiter zu einer kleinen Kugel. Einem Planeten. Es war nicht die Erde, es war irgendein Planet, in irgendeinem Sonnensystem. Auch dieser näherte sich, immer weiter, immer weiter, bis ich die Atmosphäre und dann eine Decke aus schwarzen Wolken durchbrach. Darunter lag die Hölle. Eine brennende, sterbende Welt. Feuerstürme tobten über das verbrannte Land, ich sah schreiende, sich windende, brennende Menschen und Tiere, und überall um sie herum Wesen wie jenes, das im Bad meiner Nachbarn vor mir stand. Sie lachten, ohne Münder, und suhlten sich im Leid der Sterbenden, deren gepeinigte Körper sie zerfetzten, um ihre Eingeweide zu fressen und zu wachsen. Einige waren noch klein, aber andere waren riesig. Gewaltige, todschwarze Monster, genauso wütend und vernichtend wie die Feuerstürme, die durch die Lüfte und über Land und Ozeane peitschten. Ein seltsames Gefühl ergriff mich. Ein Gefühl von Macht, von übermenschlicher, überirdischer Macht, bedrohlich und zerstörerisch. Ich wusste nicht, dass man Macht wirklich spüren konnte, wie Kälte oder Schnee oder Feuer, aber es fühlte sich an, als könne sie einen wahrhaftig ersticken.
Er musste geblinzelt haben, denn das Bild verschwand, das Gefühl klang noch in mir nach, aber ich sah nurmehr in das finstere, konturlose Gesicht, das nicht minder entsetzlich war als das Bild, das er mir gezeigt hatte.
Er zerrte mich auf die Beine, mit einer Leichtigkeit, als wäre ich aus Papier. Meine Knie zitterten, meine Arme brannten. Ich fühlte mich benommen. Er schob mich aus dem Bad und zur Tür. Ich solle den Hammer nicht vergessen, sagte er. Ich vergaß ihn nicht. Ich hielt ihn fest umklammert. Nur nicht loslassen.
Draußen war es warm und wieder dunkel. Es war doch eben erst Morgen gewesen, dachte ich. Vielleicht auch Mittag. Oder Nachmittag. Vielleicht hatte ich mich auch so lange in seinen Augen verloren. Ich starrte auf die Straße. Sie lag leer und verlassen vor uns. Wir lebten in einer gewöhnlichen Wohnsiedlung, in der nachts kein Verkehr herrschte. Hier gab es keine Laster. Nur jede Menge Familienvans, SUVs und ganz normale Kleinwagen. Aber ich wusste doch, es würde ein LKW sein. Oder etwas Ähnliches. Wie ein kleiner Lastwagen. Eben kam einer am Ende der Straße um die Kurve. Viel zu schnell. Das musste der Typ sein, der ein paar Häuser weiter wohnte. Die renovierten seit Wochen, und er schleppte ständig irgendetwas mit diesem Lastwagen an, auch spät noch, und er fuhr ständig zu schnell.
Ich ging langsamer. Der Hammerkopf kratzte über den Bordstein. Nur den Griff nicht loslassen. Ich starrte den Wagen an, die Lichter blendeten mich schon. Ihm passte das nicht. Vielleicht weil er ahnte, was passieren würde. Ich musste nicht allzu lange warten. Dann, blitzschnell, griff ich nach ihm. Ich hatte noch nie nach ihm gegriffen, jetzt packte meine freie Hand ihn am Unterarm. Er war kalt und glatt wie Eisen und zugleich versanken meine Finger in ihm, wie in weichem Ton. Ich packte ihn, so fest ich konnte, ballte all meine Kraft und schmiss mich gerade rechtzeitig mit ihm zusammen vor die nahenden Lichter auf die Straße.
Es war, wie ich es immer geahnt hatte. Es traf uns mit voller Wucht. Glas splitterte, Bremsen quietschten. Ich spürte den Aufprall, dann den zweiten auf dem Asphalt. Ich spürte Knochen brechen und einen beißenden Schmerz im ganzen Körper, aber ich hielt ihn und den Hammergriff krampfhaft fest. Dann umhüllte mich Dunkelheit.
Sein Protest war ein schriller, wütender Schrei. Er durchschnitt die Dunkelheit und verdarb mir den Anblick des schönen, hellen Lichts, das am Ende des Tunnels erschien. Und trotzdem spürte ich wieder diesen Frieden in mir. Mir war nicht mehr kalt, ich fürchtete mich nicht. Nicht einmal, als ich ihn neben mir sah. Er versuchte seinen Arm aus meinem Griff zu befreien, verfluchte mich in tausend fremden Sprachen und schrie, dass meine Wirbelkörper kribbelten. Aber ich fürchtete mich nicht. Ich fühlte mich so stark und gesund wie schon lange nicht mehr. Ich fühlte mich geheilt. Und ich hielt noch immer den Hammer. Ich hob ihn und schwang ihn und schlug auf die Finsternis ein, die ich festhielt. Immer wieder, immer wieder, bis die Schreie verstummten und die Finsternis sich in Nichts auflöste.
Ich keuchte nicht, als ich den Hammer sinken ließ. Man keucht nicht, wenn man tot ist. Ich sah zum Licht, einen sehnsüchtigen Moment lang, dann ließ ich den Hammer fallen, drehte mich um und ging zurück zum Anfang des Tunnels.
Ich glaube, ich wäre auch zurückgegangen, hätte ich gewusst, was mich erwartet. Das Licht lief nicht davon. Ob ich die Welt dagegen jemals wiedersehen würde, wusste ich nicht.
Ich erzählte niemandem von ihm. Nicht im Krankenhaus – in dem ich sehr lange lag – auch nicht vor der Verhandlung, oder danach, oder überhaupt irgendwann. Wenn sie mich fragten, warum ich das alles getan habe, sagte ich immer, dass es mich eben so überkommen habe und es mir leid tue. Was sonst soll man auch sagen? Genau so ist es.
Ich werde niemals wieder auf freiem Fuß sein, aber das bereue ich nicht. Ich habe es verdient, für das, was ich meiner Familie und meinen Nachbarn angetan habe. Ich nutzte die Zeit auf dieser Welt dennoch, so gut ich kann. Mein Wissen sorgt dafür, dass ich mich manchmal eigenartig fremd fühle, aber auch das ist nicht schlimm. Die Narben von seinen Fingern habe ich bis heute auf meinen Armen, sie sind wie ein Denkzettel für die Momente, in denen ich versucht bin zu glauben, ich sei wirklich so verrückt, wie das Gerichtsurteil besagte. Aber ich bin weit davon entfernt, verrückt zu sein. Ich habe niemals klarer gedacht als in diesen Tagen. Ich bin klar und ein bisschen erhellt und frei von Angst. Ich fürchte mich nicht. Vor gar nichts. Und wenn das Ende kommt, weiß ich, dass dort ein Tunnel ist. Und sollte in diesem Tunnel wieder etwas auf mich lauern, dann weiß ich auch, dass dort irgendwo ein Hammer liegt.