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Das schönste Schaf von Brekensiel
Man sagt, nachts wären alle Katzen grau. In Wirklichkeit trifft das aber nur auf Katzen zu, die auch bei Tageslicht schon grau sind. Diese Katze war nicht grau, hatte aber einen anstrengenden Tag hinter sich.
Sie hatte vier Mäuse gejagt, davon eine gefangen, war ihrerseits vor dem Hund des Nachbarhofes geflüchtet und hatte anschließend mit den Kindern von Bauer Hansen gespielt, die daraufhin mächtig Ärger mit ihrer Mutter bekamen, weil sie sich dabei eingesaut hatten. Alles in allem also ein recht erfolgreicher Tag.
Träge lag sie nun eingekuschelt an ihrem Lieblingsplatz und ahnte nichts Böses, als Fiete ihr plötzlich aus Versehen auf den Schwanz trat. Katzen sind nachts zwar nicht grau, aber trotzdem schwer zu erkennen. Vor Schreck fuhr sie hoch, versuchte, dem Übeltäter mit ihrer Klaue das Bein abzutrennen und wurde von ihm in eine weit entfernte Ecke des Hofes getreten. Sie landete genau auf zwei kleinen Enten, die sich hier, weit vom mit schlafenden Artgenossen überfüllten Teich entfernt, ihrem Liebesspiel hingaben.
Der übelst unterbrochene Erpel versuchte, die Katze mit allen Mitteln aus der Kuschelecke zu vertreiben und schnatterte die wüstesten Beschimpfungen, während er wild mit den Flügeln schlug. Er hoffte, damit wenigstens ein wenig Eindruck bei seiner Angebeteten zu schinden, wurde aber erneut unterbrochen, als Manfred ihm eine Kugel durch den Kopf jagte.
...
Jedes Jahr im Sommer wird im beschaulichen Brekensiel traditionell die beste Kuchenbäckerin des Dorfes ausgezeichnet. Seit Jahren war dieser Preis eigentlich immer an Trude Hansen gegangen, die in jeder Beziehung hervorragend mit dem Nudelholz umgehen konnte. Aber dieses Mal war das anders. Überraschend kam Milla Tremel mit einer Eigenkomposition aus Äpfeln, Kirschen und kleinen Melonenstückchen dazwischen und schnappte der Rivalin den schon so sicher geglaubten ersten Preis vor der Nase weg.
Es handelte sich dabei zwar nur um eine silberne Anstecknadel, aber der Titel „beste Tortenbäckerin von Brekensiel“ war nicht zu verachten und versprach Ehre und Ansehen weit über die Grenzen des Dorfes hinaus.
Dieter Hansen vertrat daraufhin die Meinung, Heinz Tremel hätte die Jury mit selbstgebranntem Anisschnaps bestochen, damit seine Milla den ersten Preis bekäme. Er stützte diese Anschuldigung auf die Tatsache, daß alle Jurymitglieder an diesem Tag sehr angetrunken schienen. Das waren sie auch tatsächlich, was aber wiederum auf das traditionelle Starkbierbad zurückzuführen war, mit dem in Brekensiel jedes Jahr das Sommerfest eingeläutet wird. Jan, der Dorfpolizist, führte eine äußerst kurze Untersuchung der Sachlage durch und kam zu dem Schluß, daß Bauer Hansen sich nicht so aufregen solle und Anisschnaps ziemlich lecker schmecken würde.
Aber schon wenige Monate später bot sich für Bauer Hansen die Gelegenheit zur Rache. Während er in der Kneipe seinen Feierabend bei einer schönen Runde Sellerieköhm einläutete, schlug der Barkeeper einen Anschlag ans schwarze Brett, auf dem das Erntedankfest nebst großem Kartoffelwettbewerb angekündigt wurde.
„Ach guck. Bald ist schon wieder Ka... Kartoffelernte. Da werden wir dann ja mal sehen, wer... wer hier der bessere Bauer ist.“, sagte Hansen, während er verzweifelt versuchte, sein Gewicht so auszubalancieren, daß er das Schwanken des Kneipenbodens wenigstens einigermaßen ausgleichen konnte. Mit nunmehr sieben Gläschen Schnaps intus war das keine leichte Aufgabe.
„Nu spiel dich mal nich so auf, Hansen. Trink deinen Schnaps und dann geh nach Haus.“, sagte der Wirt.
„Nein, ich mein das im Ernst. Diesmal wird der Tre... Tremel mich da nich dazwischenfunken. Dann wolln wir doch mal sehen, wer hier die... die dicksten Kartoffeln hat, wollen wir mal.... sehn wolln wir das... jawoll!“
„Hansen, kann das sein, daß du die ganze Sache ein wenig zu ernst nimmst? Ich mein, das war doch nur ne Nadel.“
„Nur ne Nadel, sagt er... nur ne Nadel... Mann, das geht hier ums Prinzip geht das hier! Wenn der olle Spargelstecher damals nich betrogen hätte, dann wär meine Trude wär die jetz hätte die also ich meine gewonnen... damals mit den Kuchen das meine ich... ja...“ In diesem Moment spielte die Schwerkraft ihre letzte Trumpfkarte aus und schickte ihn unerbittlich zu Boden.
„Scheiße, is das hart hier... kannst du da nich mal weicheres Holz hinverlegen, du Tölpel?“, fluchte der Gefallene, während er vorsichtig seinen Kopf abtastete und nach offenen Wunden untersuchte.
„Hey, was kann ich dafür, wenn du hier auf die Schnauze fällst, Hansen?“
„Jaja, is ja... gut... Krieg ich auf den Schreck wenigs... wenigsten nochn Schnaps?“
„Hier, geht aufs Haus.“
„Das nenn ich maln Wort... Warte mal, das erinnert mich an‘n Witz... oder so... warte...“, sagte der Bauer und versuchte verzweifelt, sich zu erinnern, was er noch hinzufügen wollte. Es fiel ihm aber nichts ein, also hielt er den Mund, leerte sein Glas und ging nach Hause.
...
Und dann war es soweit. Bauer Hansen vertraute bei seinen Kartoffeln wie immer auf die Marke Berolinger Gold, die nicht nur im Geschmack einen herrlich süßlichen Abgang versprach, sondern auch als die größte Zuchtkartoffel überhaupt galt. Bauer Tremel hingegen führte seine Eigenzüchtung ins Feld, eine Kreuzung aus Aldikartoffeln und einer ominösen polnischen Marke, die niemand aussprechen konnte.
Die Jury, bestehend aus dem Bürgermeister, dem Dorfarzt, dem Postboten und einer ähnlich hochrangigen Delegation aus dem Nachbarort Hasenklöden, vermaß die Wettbewerbsknollen und bewertete sie in Größe und Geschmack. Damit dabei die größtmögliche Objektivität gewährleistet war, hatten die Juroren am Tag zuvor am traditionellen Erntedankschluck (Rum mit einem Schuß Magenbitter) teilgenommen, um wirklich zuverlässig alle Geschmacksnerven zumindest zeitweise zu betäuben.
„Ach, wat ham wir denn da? Vollmundig im Geschmack, läßt sich leicht kaun und bildet einen angenehmen Pamps im Mund... durchaus gar nich zu verachten is das nich.“ Bürgermeister Plöge schluckte den Bissen herunter und machte in seiner kleinen Tabelle ein Kreuzchen. Dann kam die nächste Probe. „Oha... feinherbes Bukett, leicht gnielig im Abgang, aber doch ganz brauchbar inne Handhabung an sich... oder so. Bißchen mehlig vielleicht, aber dat macht ja nix.“
Die Teilnehmer des Wettbewerbs standen in atemloser Spannung vor dem Tisch und konnten ihre Augen nicht von den Jurymitgliedern lassen, die wiederum eine Kartoffel nach der anderen probierten. Die Hasenklödener Heidekönigin - Sven Jakobson hatte diesen Titel mangels weiblicher Beteiligung im letzten Jahr gewonnen - schmatzte hörbar, als er das Erzeugnis von Bauer Tremel genüßlich verspeiste.
„Jo, dat nenn ich mal ne gute Kartoffel. Da kann man drauf aufbaun. Zart und wuchtig zugleich, so muß dat sein muß dat. Jawoll. Volle Punktzahl und so.“
Um es vorweg zu nehmen, auch die restliche Jury bewertete das Ergebnis ähnlich. In der öffentlichen Erklärung, wie sie traditionell hinterher im Brekensieler Tageblatt auf der Titelseite abgedruckt wurde, sollte es später heißen, die Kartoffel von Bauer Hansen wäre insgesamt doch ein wenig zu gnielig im Abgang gewesen, um wirklich überzeugen zu können. Da die restlichen Teilnehmer sowieso nicht in der gleichen Liga wie Hansen und Tremel spielten, ging der Sieg auch bei diesem Wettbewerb deshalb klar an Familie Tremel.
Dieter Hansen schmeckte das natürlich gar nicht. Sein Ego war durch diese beiden Niederlagen in Folge empfindlich gekränkt worden und so schwor er noch am selben Abend bittere Rache. Das Brekensieler Erntedankfest bestand nämlich nicht nur aus dem Erntedankschluck, dem Kartoffelwettbewerb, drei Faßabenden und zweimal Heringessen, sondern auch aus einem abschließendem Schönheitswettbewerb. Und genau hier wollte Bauer Hansen gnadenlos zuschlagen, um seinem Kontrahenten eins auszuwischen. Aber dafür brauchte er seine beiden Stalljungen.
„Fiete, Manfred! Herkommen! Ich habn Plan.“
...
„Bist du bekloppt? Wie kannst du einfach so die Ente hier abknalln?“
„Dat war gar nich so schwer. Einfach hier draufdrücken und der Rest geht von a...“
„Warum hast du überhaupt die Pistole dabei, Mann? Son Scheiß! Guck dich das doch mal an hier. Sone Schweinerei! Überall Federn und so!“
„Ja nun...“
„Komm, laß uns gehn. Der Stall muß gleich da vorne sein.“
Es gibt viele Tiere, die in der Nacht aktiv sind. Fledermäuse zum Beispiel brauchen kein Licht, um sich zu orientieren. Glühwürmchen hingegen brauchen zwar Licht, aber das haben sie dank einer glücklichen Fügung der Natur immer am Mann. Die meisten Lebewesen schlafen aber, wenn der Mond am Himmel steht. Gustav war eines von ihnen. Er lag gemütlich im Stall, den Kopf auf die Vorderbeine gelegt und träumte von einer Welt, die nur aus Löwenzahn und Pullovern aus Polyester besteht. Vielleicht gab es in dieser Welt auch den Wettbewerb „das schönste Schaf von Brekensiel“, aber wenn, dann würde Gustav ihn auf jeden Fall haushoch gewinnen.
Manfred hob seine Waffe und zielte dem Schaf genau zwischen die Augen.
„Laß den Scheiß! Der Chef hat gesagt, daß wir dem Schaf nich umnieten sollen.“
„Nu schrei doch hier mal nich so rum, Mann. Nachher wacht das Viech noch auf... na gut, pack ich das Ding halt wieder weg.“
Gustav schlug verschlafen ein Auge auf und glotzte die beiden Männer ein wenig irritiert an. Er hielt es aber nicht für nötig zu fliehen, denn in der behüteten Welt dieses Zuchtschafes gab es nur zwei natürliche Feinde: Impotenz und Elektrozäune. Das Tier hatte einfach keinen Grund, sich vor den beiden Gestalten zu fürchten.
„Hast du die Spritze dabei?“
„Jo. Geht los.“
Fiete setzte die Nadel an einer anatomisch dafür geeigneten Stelle des Schafes an und injizierte ein schnell wirkendes Schlafmittel. Der arme Gustav war den beiden Stalljungen hilflos ausgeliefert.
...
Als Heinz Tremel am nächsten Morgen sein verunstaltetes Schaf im Stall liegen sah, glaubte er zunächst an eine Nachwirkung des gestrigen Gildeschlucks (Anisschnaps aus eigener Produktion), bei dem er mächtig zugelangt hatte, um seinen Sieg beim Kartoffelwettbewerb gehörig zu feiern. Aber was er da sah, entsprach tatsächlich der Wahrheit. Er dachte natürlich sofort an seinen neidischen Konkurrenten Hansen. Niemand sonst wäre wohl zu solch einer abscheulichen Tat fähig gewesen.
Aber es half nichts. Bald würde der Wettbewerb starten und kneifen wollte er auf keinen Fall. Er würde wohl in den sauren Apfel beißen und mit Gustav an den Start gehen müssen – auch wenn der jetzt so aussah, wie er nun mal aussah. Vielleicht würden die anderen Dorfbewohner es ja auch gar nicht bemerken. Die Chancen dafür standen nach dem gestrigen Festgelage eigentlich gar nicht so übel, dachte Bauer Tremel und machte sich mit Gustav auf den Weg zur Festwiese.
Das Schaf liebte diesen Wettbewerb. Es wußte nicht viel über die Welt, aber eine Sache war selbst für seine beschränkte Sichtweise Gewißheit: Gustav war das schönste und stolzeste Schaf weit und breit. Und darum hatte er den Schönheitswettbewerb in den letzten Jahren auch immer gewonnen. Der schöne Nebeneffekt für ihn bestand darin, daß die anderen Bauern ihn sich hinterher immer zum Decken ihrer weiblichen Zuchttiere ausliehen.
Ein wenig seltsam fühlte er sich an diesem Tag zwar, aber er führte das auf seine trotz der hohen Erfahrung mit solchen Dingen immer noch sehr hohe Aufregung zurück. Gustav genoß die neidischen Blicke der anderen Schafe und Dorfbewohner. Er liebte es, im Mittelpunkt zu stehen. Hätte er in diesem Moment gewußt, warum die Leute ihn so anstarrten, wäre er sicher vor Scham im Boden versunken.
„So, denn mal los.“ Bürgermeister Plöge nahm das erste Schaf in Augenschein. „Flauschig, schön weiß, gesund. So muß das sein muß das. Nur die Ohrn sind ein wenig zu grau, find ich. Sagen wir mal, ne gute Sieben – mehr aber nich.“ Als nächstes kam das Tier von Bauer Hansen an die Reihe. „Oha... hübsch. Griffig im Gefühl, Reflexe... aua, Mistvieh... Reflexe sind gut. Bißchen gnielig vielleicht, aber sonst... kann man gut mit angucken.“
Und so ging es noch eine recht lange Zeit weiter. Die Juroren prüften die Tiere auf Herz und Nieren, griffen ihnen ins Maul und fühlten das flauschige Fell. Man könnte auf die Idee kommen, zu behaupten, diese ganze Sache wäre totlangweilig, aber das war mitnichten der Fall. Es ging hier immerhin um einen wichtigen Titel, dessen Gewinner einen großen Pokal aus Silber erhalten sollte und zudem den Bürgermeister persönlich zu einem Schnaps einladen durfte. Daß der Bürgermeister sich während seiner Amtszeit schon von so ziemlich jedem Dorfbewohner mehrmals zum Schnaps hatte einladen lassen, spielte hierbei keine Rolle. Hier ging es um die Ehre. Ganz zum Schluß kam endlich Gustav an die Reihe.
„Wat is dat denn? Grün? Dat mag ich ja wohl mal gerne leiden, weil grün sowieso immer toll is. Gib mich mal die Plakette her. Erster Platz, jawoll! Was sachst du? Halt den Sabbel! Wenn ich sag, erster Platz, dann is das auch erster Platz. Bin ich hier der Bürgermeister, oder du? Na also.“
Die offizielle Begründung, nachzulesen wie immer im berühmten Brekensieler Tageblatt, besagte, daß den Juroren das Schaf von Bauer Hansen insgesamt doch ein wenig zu gnielig gewesen wäre und grün sowieso immer toll ist.