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Das Sarazenenschwert
Wie jeden Tag hielt der Bus an der Ecke des Dorfplatzes des kleinen spanischen Küstenortes und entließ eine Horde schubsender, drängelnder Schulkinder. Auf dem Platz warteten bereits einige Mütter und Väter auf ihre ankommenden Sprösslinge. Kleinkinder rannten zwischen streunenden Hunden umher und unter einem großen Olivenbaum saßen drei alte Männer auf einer Bank und betrachteten zigarrerauchend die Szenerie. Ein bunter Stimmenwirrwarr erfüllte die Luft und einem Außenstehenden musste das Ganze wie das emsige Treiben in einem Bienenstock vorgekommen sein.
„Vergiss nicht morgen deinen Fussball mitzunehmen, Pedro.“
„Adios Caterina.“
„Carlos, trödele nicht herum, komm endlich.“ Langsam löste sich die Gruppe auf. Der Bus war längst abgefahren, und seine Insassen verteilten sich in alle vier Himmelsrichtungen. Alle bis auf Miguel, er hatte keine Eile. Zuhause wartete niemand auf ihn, und heute hatte er auch keine Lust ins „El Meson“ zu gehen, in das kleine Restaurant, das seiner Familie schon seit Jahren gehörte.
Normalerweise ging er immer nach der Schule dorthin. Seine Mutter machte ihm dann erst einmal ein großes Baguette mit Tomaten und Schinken und ein Glas warmen Kakao. Wenn sie keine Gäste bedienen musste – und jetzt Ende April waren noch nicht so viele Touristen da – dann setzte sie sich zu ihm und sie unterhielten sich über die Schule. Doch heute hatte Miguel einfach keine Lust in der verrauchten, nach gebratenen Sardinen riechenden Taverne seiner Eltern zu sitzen und den alten Männern beim Dominospielen zuzusehen.
Er beschloss, zum Meer hinunterzugehen. Er liebte diese unendliche Weite und das Spiel der Wellen, wie sie sich am Strand brachen oder gegen die Felsen schlugen. Seine Schultasche deponierte er in Tía Pepitas Dorfbäckerei.
„Miguel, mi amor, wie geht es dir?“ Tía Pepita zog ihn an ihren gewaltigen Busen und gab ihm zwei feuchte Schmatzer rechts und links auf die Wangen. Wie er das hasste, diese Küsserei. Doch sie drückte ihm noch eine süße Schnecke mit Puderzucker in die Hand und die nahm er gerne.
„Lass es dir gut schmecken, mein Junge und grüß deine Familie.“
Miguel bedankte sich und biss hungrig in die Schnecke, während er langsam die Hauptstraße entlang in Richtung Meer schlenderte, vorbei an der Fischhalle, wo die Fischer morgens immer ihren Fang versteigerten und vorbei an dem grossen steinernen Turm. Dieser hatte früher als Wachturm gedient. Von dort aus waren die Dorfbewohner mittels Signalfeuer vor Piraten-und Maurenangriffen gewarnt worden.
Das Meer war so glatt wie ein See und glänzte silbrig in der Sonne. Bis auf eine Möwenschar, die laut schreiend am Himmel ihre Kreise zog, hatte Miguel die ganze Bucht für sich alleine. Nicht mehr lange, und hunderte von Urlaubern würden wieder in den kleinen Küstenort einfallen, den Strand und die Klippen in Beschlag nehmen und überall ihren Müll zurücklassen. Miguel hob einen Stein auf und warf ihn über das Wasser. Der Stein hüpfte zwei – dreimal über die Oberfläche, bevor er in der Tiefe versank. Miguel fand, dass man weiß Gott auf all diese Touristen verzichten konnte, doch seine Eltern waren anderer Meinung.
„Durch die Urlauber verdienen wir unseren Lebensunterhalt, wenn sie nicht mehr kommen, dann stirbt unser Dorf.“ Nur Miguels Grossvater empfand ähnlich wie sein Enkel. „Dann gehen wir eben wieder alle fischen, so wie früher“, sagte er.
Miguel drehte sich um und hielt nach einem neuen Stein Ausschau. Schön flach musste er sein, dann konnte man ihn richtig tanzen lassen. Manchmal, wenn er mit seinen Freunden hierher kam, dann veranstalteten sie Wurfwettbewerbe. Den Rekord hielt Diego, er konnte einen Stein mit seinem Wurf sechsmal springen lassen.
Miguel schaute über das Meer. Er musste an den Geschichtsunterricht in der Schule denken. Sie nahmen gerade das Mittelalter durch, insbesondere die Epoche der Kämpfe zwischen Mauren und Christen. Die Mauren waren im Jahre 711 in Spanien eingefallen und hatten innerhalb weniger Jahre fast die gesamte iberische Halbinsel eingenommen. Die Rückeroberung durch die Christen hatte dann bis ins späte dreizehnte Jahrhundert gedauert. Erst 1492 war Granada von dem sogenannten katholischen Königspaar erobert worden, und somit waren die letzten Mauren aus Spanien vertrieben worden.
Auch von Rodrigo Diaz de Vivar hatte ihnen der Lehrer erzählt. Der spanische Nationalheld schlechthin, der als El Cid in die Geschichte eingegangen war, hatte gar nicht weit weg von dem kleinen Küstenort sein eigenes Reich um Valencia geschaffen. In Miguels Dorf feierte man diesen Teil der Geschichte jedes Jahr im Juni mit einer besonderen Fiesta. Es gab je fünf verschiedene Christen- und Maurengruppen, denen die Dorfbewohner angehörten. Jede Gruppe trug ein besonderes Gewand, eine Chilaba. Einmal im Jahr spielten die Gruppen dann die Eroberung, bzw. Rückeroberung nach. Da wurde das gesamte Dorf geschmückt, es gab Festumzüge in schillernden, autentischen Kostümen, wilde Kämpfe und zum Abschluss ein riesiges Feuerwerk.
Miguel warf noch einen letzten Stein, bevor er auf die Felsen kletterte. Vielleicht konnte er ja einen Krebs fangen. Vorsichtig bewegte er sich auf den glitschigen Steinen vorwärts und schaute dabei in jede Felsspalte hinein. Was war das? Er bückte sich neugierig und traute seinen Augen kaum. Dort eingeklemmt zwischen zwei Felsbrocken steckte ein Schwert. Vorsichtig zog Miguel es heraus. Es war ein Sarazenenschwert und musste schon eine lange Zeit dort gelegen haben, denn seine gebogene Klinge war von einer dicken Rostschicht überzogen. Halbmondförmig angeordnete Edelsteine schmückten seinen Griff und glitzerten in der Sonne, nachdem Miguel die grüne Algenschicht abgekratzt hatte.
„Das muss bestimmt ein paar hundert Jahre alt sein“, überlegte er, während er die Steine berührte und dann behutsam mit den Fingerspitzen über die Klinge fuhr. Die Berührung löste ein eigenartiges Gefühl in ihm aus und plötzlich war es, als vernähme er leise Musik.
„Padapam, padapam, padapadapadapam.“ Nachdenklich betrachtete er das Schwert in seinem Schoß, bevor er seinen Blick zum Horizont lenkte.
... Und dann sah er sie, eine Flotte von Segelschiffen tauchte plötzlich hinter dem riesigen, weit ins Meer hineinreichenden Berg auf und hielt Kurs auf die Küste.
Die Segel blähten sich im Wind und ließen schon von weitem die schwarzen Halbmonde erkennen.
„Das sind ja Maurenschiffe“, flüsterte Miguel, „aber unsere Fiesta ist doch erst im Juni.“
Die Schiffe kamen immer näher. Automatisch duckte sich er sich zwischen den Felsen und starrte aufs Meer. Plötzlich begannen die Glocken der kleinen Dorfkirche zu läuten und vom Turm stieg eine Rauchsäule auf. Eine Stimme rief: „Die Mauren kommen, die Mauren greifen an.“
Miguel beobachtete einige Fischerboote, die wie wild ruderten, um noch rechtzeitig das sichere Ufer zu erreichen. Erst jetzt fiel ihm auf, wie verändert das Dorf aussah. Die zwei Hochhäuser, die etwas abseits auf einem Hügel gestanden hatten, waren nicht mehr da, und auch die Hafenbefestigungsmauer, hinter der sonst immer die bunten Fähnchen der Segelbootmasten im Wind geflattert hatten, war samt der Boote verschwunden. Überhaupt schien das Dorf nur noch aus ein paar ziemlich alt aussehenden flachen Steinhäusern und der Kirche zu bestehen. Miguel wurde es langsam unheimlich zumute. Ein stampfendes Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Er drehte sich um und traute seinen Augen kaum, was er nun sah. Hunderte von christlichen Kriegern in Rüstungen stellten sich entlang der Klippen und am Strand auf. Sie trugen Schwerter und lange Lanzen und auf ihren Schildern und Fahnen leuchtete das christliche Kreuzsymbol. In einer zweiten Reihe hatte sich eine Gruppe hoch zu Pferde formiert. Ein Reiter stach besonders hervor, er war sehr kostbar gekleidet und sein Haar und Bart flatterten im Wind. Miguel dachte an das Bild, das ihnen der Lehrer morgens in der Schule gezeigt hatte und erkannte zweifelsohne El Cid auf seinem Pferd Babieca. Es konnte sich hierbei nur um den „Campeador“ und seine Männer handern, die versuchten, die Küste gegen Aben Bucar, den Almoravidenkönig aus Marokko zu verteidigen.
Mittlerweile hatten die feindlichen Schiffe die Küste fast erreicht. Miguel konnte bereits deutlich die maurischen Krieger in ihren langen Kaftanen erkennen. Mit gezogenen Krummsäbeln warteten sie darauf aus den Booten zu springen und die Felsen zu erklimmen.
Mein Gott, dachte Miguel, was passiert hier nur, was soll ich denn jetzt machen? Leichte Panik überkam ihn.
Die ersten maurischen Soldaten waren bereits ins Wasser gesprungen und wateten auf den Strand zu. Mit lautem Geschrei schwangen sie die Sarazenenschwerter über ihren Köpfen. Doch die christlichen Ritter waren gut vorbereitet, mit waagerecht gehaltenen Lanzen und Schwertern traten sie den Mauren entgegen. Die Luft war bald darauf von den Klängen der aufeinander treffenden Schwertern und Krummsäbeln und von den Schmerzensschreien der Getroffenen erfüllt. Miguel wagte es kaum zu atmen und duckte sich so tief es ging in seinem Felsversteck. Die Schlacht tobte mittlerweile auch um ihn herum auf den Klippen. Plötzlich fiel der Körper eines Mauren vor seine Füsse und ein Schatten verdunkelte seine Sicht. Zitternd schaute er nach oben und sah das bärtige Gesicht von El Cid genau über ihm. Für einen kurzen Augenblick nur trafen sich die Blicke des großen Feldherrn und des kleinen Jungen. Miguel merkte, wie er am ganzen Körper eine Gänsehaut bekam. Nie würde er diese schwarzen Augen wieder vergessen können. El Cid zog sein Schwert aus der Brust des Mauren und wandte sich wieder den Kämpfenden zu. Wie in Trance starrte Miguel ihm nach, erst das Stöhnen des sterbenden Mauren zu seinen Füssen ließ ihn aus seiner Erstarrung erwachen. Ein Blutfleck breitete sich langsam auf dem Kaftan des Mannes aus und mit großen Augen blickte er in das Gesicht des Jungen. Und dann, wie durch ein Wunder, breitete sich auf einmal ein Lächeln auf dem schmerzverzogenen Gesicht des Sterbenden aus. Selbst als er für immer die Augen schloss, war es noch auf seinen sich langsam entspannenden Zügen zu erkennen. Friedlich lag er da zu Miguels Füßen, und in seiner Hand hielt er noch sein Sarazenenschwert, dessen Klinge mit halbmondförmigne Edelsteinen verziert war.
Eine Möwe landete auf einem Felsplateau neben Miguel und ihr lauter Schrei ließ ihn zusammenzucken. Leise plätschernd schlugen kleine Wellen gegen die Klippen, und am Horizont dümpelten ein paar Segelboote vor sich hin. Über den beiden Hochhäusern am Ende der Bucht zog eine Vogelschar vorbei. Miguel schaute auf das alte Schwert, das er noch immer in den Händen hielt. Vorsichtig steckte er es wieder in die Felsspalte, aus der er es noch vor kurzem herausgezogen hatte.
„Du bleibst besser dort, wo du hinghörst“, sagte er. Plötzlich verspürte er eine unbändige Lust auf einen heißen Kakao im El Meson. Er warf noch einen kurzen Blick auf die Felsspalte, bevor er sich umdrehte und zurück in Richtung des Dorfes ging. Und dort, wo noch vor einem Augenblick der sterbende Maure gelegen hatte, ließ sich nun ein Taubenpärchen nieder. Es gurrte ein paar Mal, bevor es sich gemeinsam in die Lüfte erhob und davonflog.