Das Sankt-Martins-Fest
Es ist wieder Herbst. November. Zeit für den heiligen Martin.
Als ich klein war, wusste ich nicht, was Halloween war. Keiner feierte Halloween, aber alle wussten, was das Martinsfest war.
Davon will ich Euch erzählen.
Als ich Grundschüler war, lernten wir im Musikunterricht die Lieder zum Martinsfest:
„Im Schnee saß,
im Schnee saß,
im Schnee da saß ein armer Mann,
hat Kleider nicht, hat Lumpen an:
‚So hilf mir doch in meiner Not,
sonst ist der bittere Frost mein Tod!’“, so bat der Bettler den heiligen Martin.
Und der heilige Martin kam auf seinem Pferd heran und teilte seinen schönen, roten Offiziersmantel mit dem Bettler. Er schnitt ihn in der Mitte mit seinem Schwert durch. Einfach so. Dann ließ er den halben Mantel dem frierenden Mann im Schnee und ritt weiter nach Hause in die Kaserne.
Der Religionslehrer erzählte uns, dass die römischen Offiziere zur Hälfte ihre Uniformen gekauft hatten, die zweite Hälfte hatte der römische Staat bezahlt. Deshalb konnte Martin nur eine Hälfte geben, nämlich die, die er selbst bezahlt hatte.
Dieser zum Teilen bereite Mann wurde von uns im schönsten Rheinisch besungen:
„De helje Sänte Määtens,
det woo de jode Mann.
De kooft de Kinda Kääze un
stooch se selba an.“
Für Nicht-Rheinländer sollte das heissen:
„Der heilige Sankt Martin,
das war ein guter Mann,
der kauft den Kindern Kerzen,
und steckt sie selber an.“
Aber nicht nur im Musikunterricht bereitete sich unsere Klasse auf das nahe Fest vor.
Im Handwerk-Unterricht ging es um das Basteln der Martinslaterne.
Eine selten anzutreffende Stille hatte sich über den Bastelraum gesenkt.
Man hörte die kleinen Scheren in den Pappen schneiden und auf dem Papier kratzen. Das Transparentpapier knisterte. Die Uhu-Tuben lagen halb ausgedrückt auf den Tischen.
In die schwarze Pappe hatten wir Löcher, Flächen und Figuren hineingeschnitten. Meine Laterne war eine Ampel mit rotem, orangenem und gelbem Licht.
Axel hatte eine wunderschöne Laterne mit einem roten Schiff, einer grünen Insel und blauem Wasser gebaut. Roland schnitt einen Mond, eine Sonne und viele Sterne aus.
Alexander hatte Mühe. Er schob sich seine Nickelbrille zurecht.
„Alexander, es reicht aber nicht einfach bunte Schnipsel Transparentpapier auf ein großes Transparentpapier zu kleben.“, lachte Frau Kesper.
„Nein, aber das ist doch ein Haus, mit dem Himmel und der Sonne und eine Sommerwiese mit Kühen. Das ist doch ganz klar, ich habe doch extra mit Filzstiften alles nachgezeichnet.“ Wir nannten Alexander die Brillenschlange oder den Professor. Wenn er sprach, hatte ich das Gefühl, eine schnarrende Ente zu hören. Er sprach viel, und mit seiner verstopften Nase hörte sich das ziemlich blöd an.
„Das habe ich nicht gesehen“, gestand unsere Lehrerin. Roland schaute sich Alexanders Laterne an. Es wirklich schwer das Haus und die Wiese zu erkennen. Roland lachte.
Frau Kesper nahm Alexander an der Schulter: „Schau mal, was Christoph gemacht hat.“
Christoph war ein kleiner Junge, der bei meinen Eltern gegenüber lebte. Wenn er zu mir zum Spielen kam, ließ er nicht ab, bis er die Modelschiffe und –hubschrauber, die ich zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, zusammenbauen konnte. Er hatte zwei rechte Hände. Alexander zwei linke. Christoph hatte die schönste Laterne gebastelt. Auf den vier Seiten der Fackel jeweils ein anderes Motiv. Ein lachendes Clowngesicht, ein Affe, ein Giraffe und ein Gewichtheber.
„Sehr gut, Christoph“, meinte unsere Klassenlehrerin.
Am 11. November abends versammelten sich auf der Schulstrasse alle Grundschüler nach Klassenverband geordnet. Das war ein komisches Gefühl, unsere Lehrerin Frau Kesper und alle Klassenkameraden nach Einbruch der Dunkelheit zu treffen. Wir waren alle aufgeregt. Die Kerzen wurden entzündet, die kleinen Lämpchen per Knopfdruck eingeschaltet. Die älteren Schüler der Hauptschule und des Gymnasiums durften auch große Fackeln tragen. Später wollte ich auch eine so helle Fackel tragen.
Der Zug setzte sich in Bewegung. An seiner Spitze ein Reiter in rotem Unhang mit goldenem Helm. Das war Sankt Martin. Der römische Offizier, der seinen roten Mantel geteilt hatte. Am Zug-Ende ging die Blaskapelle unseres Dorfs. Sie pusteten so stark in ihre Trompeten und Posaunen, dass wir fast taub wurden von dem Lärm und unseren eigenen Gesang nicht hörten.
Schließlich kamen wir am Festplatz an. Wir Kinder bildeten einen riesigen Kreis um den Scheiterhaufen. Feierlich wurde das Holz angesteckt und ein riesiges rotes Feuer erhellte den Platz.
Die Dunkelheit der Herbstnacht wurde verdrängt, und wir sahen die Gesichter aller Kinder und Erwachsenen um uns herum.
Die Kappelle spielte noch einmal „Ich geh mit meiner Laterne, und meine Laterne mit mir.“ Dann gab es das Martinsbrot. Der heilige Martin war vom Pferd gestiegen und gab jedem Kind ein Wecken, so gutes, frisches Milchweissbrot, dass ich es noch auf dem Rückweg aufaß.
Mit unseren Sankt-Martins-Laternen aus bunten Transparent-Papier, in denen die kleine Kerzen oder Mini-Glühbirnen flackerten, gingen wir singend nach Hause zurück und geisterten wir also über den regennassen, von gelben und roten Blättern bedeckten Asphalt der Strassen.
Ich war mit Christoph, Axel und Roland losgezogen. Ich erinnere mich noch an das fahle Licht der Straßenlaternen. Das feuchte Laub roch gut, fast etwas süßlich. Mit meinen Gummistiefeln lief ich quer durch die kleinen Haufen und verteilte die Blätter über die ganze Strasse.
Jetzt kam der einträgliche Teil des Abends. Zu viert sangen wir laut und vernehmlich an all den dunklen Eingängen der Reihenhäuser, bis die Beleuchtung innen anging und ein Erwachsener uns mit einem ungeduldigen Kopfnicken und ein paar Bonbons abfertigte.
Dann durfte er wieder zum Fernseher, Tagesschau oder Tatort schauen, und wir zogen weiter.
Bald bogen sich untere Plastiktaschen unter dem Gewicht der gesammelten Süßigkeiten, Nüssen und Mandarinen.
„Hallo Spasti!“ Christoph rempelte einen anderen Jungen vor uns auf dem Bürgersteig an. Es war Alexander. Roland lachte.
„Selber Spasti“, fauchte Alexander zurück.
„Na, was hast du denn gesammelt?“, wollte Axel wissen und näherte sich Alex’ Plastiktasche.
„Pass auf!“, lamentierte unsere Brillenschlange. Doch zu spät. Axel hatte die Alex’ Laterne gestreift, sie knickte ein, die Kerze fiel um, sie rollte auf dem Laternenboden herum. Bevor sie erlosch, entzündete sie das Transparentpapier. Erschrocken ließ Alexander seine Laterne fallen. Innerhalb ein, zwei Sekunden stand sie lichterloh in Flammen.
„Wow!“, rief Axel begeistert.
Die Laterne brannte in Rekordzeit. Nur der Russ geschwärzte Laternenboden blieb übrig.
„Bor, und weg isse!“, witzelte Christoph. Roland und Axel lachten. Ich fand das nicht lustig: „Was machst du jetzt?“
„Ja, das wüsste ich selbst gern“, schnatterte Alexander los, „jetzt habe ich keine Laterne mehr. Was soll ich denn machen? Gib mir deine Laterne als Ersatz!“, rief er und ging einen Schritt auf Axel zu. Doch der wich geschickt aus: „Bist du verrückt, oder was?“
Christoph setzte sich in Bewegung: „Los, wir müssen weiter.“
Auch Roland und Axel wandten sich zum Gehen. Ich trottete ihnen nach. Was sollte ich tun? Ich blickte zurück.
Da stand er wie ein Häufchen Elend. Heulte er?
Ich mochte Alexander nicht. Keiner mochte ihn. Seine schnatternde Stimme war nervig, seine Brille uncool. Was er sagte, war meist bescheuert. Und im Fußball war er die absolute Niete.
Doch stand er allein auf der großen, leeren, regennassen Fahrbahn. Vor ihm auf dem Asphalt das abgebrannte Wrack seiner Martinslaterne. Mir schien, als ob das Licht der Strassenlampen war noch einmal schwächer und grauer geworden. Ich wollte ihn nicht allein lassen. Ich lief drei Schritte zurück.
„Komm doch mit“, schlug ich vor.
„Nur wenn Axel mir seine Laterne gibt“, knarrte seine Stimme.
„Och, ist doch egal.“ Ich zupfte ihn am Ärmel, und er leistete keinen Widerstand.
„Bringt der Wolle jetzt auch noch den Spako mit“, zischte Christoph. Roland lachte, und Axel grinste fies.
Schweigend gingen wir fünf zur nächsten Haustür. Wir stellten uns auf und begannen mit unseren mittlerweile etwas heiseren Stimme anzustimmen: „Sankt, Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind; sein Ross, das trug ihn fort geschwind…“
Uns wurde geöffnet: „Ach, das ist aber schön. Kinder, ihr seid ja zu fünft!“, sagte die Frau im Türrahmen. „Da muss ich erst mal schauen, ob ich noch genügend Süßigkeiten da habe.“
Sie kam zurück und gab jedem in die geöffnete Tasche eine Mandarine.
„Mehr nicht?“, fragte Christoph frech.
„Das ist doch schon eine ganze Menge“, ließ sich die Frau nicht aus der Fassung bringen und machte die Tür zu.
Christoph wandte sich an Axel und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der nickte und nahm Roland in den Arm. Axel murmelte ihm etwas ins Ohr; Roland lachte.
Christoph und Axel sahen sich zu Alexander und mir um. Dann schauten sie sich an. Ich wusste, was sie machen würden. Sie begannen zu laufen, so schnell, dass selbst wenn ich Alexander alles rechtzeitig erklärt hätte, wir sie nicht hätten einholen können.
„Die Arschlöcher“, knurrte Alexander. „Was sollen wir jetzt machen? Wir haben doch nur eine Laterne. Das ist nicht fair.“
Ich biss mir auf die Lippe und sagte nichts.