- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Das runde, weiße Leder
Heute war das große Fußballspiel zwischen den Mannschaften der 4a und der 4b der Grundschule.
Die kleinen Fußballer waren furchtbar aufgeregt. In der Umkleidekabine herrschte ein Tohuwabohu aus Kleidungsstücken, Schuhen und Schülern. Und dazwischen lag der weiße Fußball.
‚Iiiiiih!’, rief dieser, als ihn eine Socke traf. ‚Könnt ihr nicht aufpassen, wo eure Klamotten landen?’ Doch niemand verstand ihn, da Bälle ja bekanntlich nicht sprechen können.
Kurz entschlossen schüttelte er den Strumpf ab und rollte dann in die hinterste Ecke des Raumes. Dort herrschte wenigstens Ruhe. Eigentlich eine unheimliche Ruhe, denn auch hier saß ein Schüler der Fußballmannschaft und schlüpfte gerade langsam in sein Trikot. Seine Hose und sein Pullover hingen ordentlich an den Haken, wo sie auch hingehörten.
‚Wer ist denn das?’ Der Ball schielte aus seinem Schlupfwinkel heraus.
Aber er wusste die Antwort schon vorher. Es konnte nur Timmy sein.
Bolle, der Kapitän der 4a, kam gerade auf ihn zu.
„Mensch, mach mal hinne, du Trantüte“, schnauzte er Timmy an. „Nur gut, dass du auf der Ersatzbank sitzt. Bei deinem Tempo müssen wir ja verlieren.“ Lachend drehte er sich zu einen anderen Mitschüler um, legte seinen Arm um dessen Schultern und beide Jungs zogen ab.
Mitleidig sah der Ball Timmy an, der heftig schluckte, um nicht loszuheulen. So ging es dem Jungen immer.
Für die anderen Schüler war er langweilig und eine Streber, bloß weil er in den Arbeiten immer gute Noten hatte. Dabei wollte er gar nichts Besonderes sein. Aber es war nicht leicht, von den Mitschülern akzeptiert zu werden.
Es kostete Timmy viel Kraft und Überwindung, sich in der Fußballmannschaft anzumelden. Doch seit einem Jahr war er nun dabei.
Dem Ball gefiel der stille Junge, der ihn im Spiel nie brutal trat.
Endlich war es so weit. Der Sportlehrer rief die Mannschaft zusammen. Timmy trottete langsam zu den anderen nach vorne.
„Mensch, Timmy!“, rief ihm Bolle zu. „Siehst du nicht, dass der Ball unter deinem Platz liegt! Bring ihn gefälligst mit und zwar ein bisschen plötzlich!“
Timmy holte den Ball und strich sanft über das Leder.
‚Ach, tut das gut’, seufzte dieser genießerisch. ‚So kurz vor dem Spiel noch ein paar Streicheleinheiten.’
Im Laufschritt verließ die Mannschaft die Umkleidekabine Richtung Fußballplatz.
Timmy wollte sich schon den anderen anschließen, als ihn Bolles Stimme aus seinen Gedanken riss.
„Du nicht! Du bleibst auf der Ersatzbank sitzen! Das ist beschlossene Sache! Du und Fußball spielen! Dass ich nicht lache. Da verlieren wir ja gleich haushoch!“ Die anderen lachten spöttisch mit und Timmy nahm mit hängendem Kopf auf einem der Stühle am Spielfeldrand Platz.
In diesem Moment pfiff der Schiedsrichter das Spiel an.
‚Autsch! Jetzt geht es los!’, jaulte der Ball auf, als Bolle gegen ihn trat.
Aber Bolle konnte den Ball nicht hören. Und wenn er diese Fähigkeit besessen hätte, der Tritt wäre genauso hart gewesen. Er wollte ja möglichst viele Tore erzielen.
Die erste Halbzeit verlief 0:0.
Bolle lief der Schweiß das Gesicht hinunter. Rasch wischte er ihn ab und schimpfte:
„Max, warum hast du den Ball zum Schluss nicht zu mir geschossen. Ich hätte ihn hundert pro eingelocht!“
„Das glaub ich nicht“, entgegnete Max. „Du standest viel zu weit davon entfernt. Außerdem war Arno von der anderen Mannschaft dazwischen. Er ist nicht zu unterschätzen. Nullkommanix wäre der Ball bei den Gegnern gelandet.“
„Ich hätte den ins Tor geschossen! Da kannst du Gift drauf nehmen!“, brummte Bolle und zog sich auf seinen Platz zurück.
‚Hihi’, kicherte der Ball. ‚Du nicht! Wenn ich nicht will, dann bekommst du mich überhaupt nicht mehr vor deine brutalen Füße.’
Nach der Pause war Anstoß für die Gegner.
Eine Zeitlang hatten beide Teams gute Torchancen, die sie aber vergaben.
Es waren noch fünfzehn Minuten zu spielen. Bolle war am Ball und versuchte an dem gegnerischen Jungen vorbei zu kommen. Dieser war jedoch auf der Hut und so musste Bolle einen weiten Bogen spielen, rutschte dabei aus und verknackste sich den Knöchel.
„Autsch! Verdammte Kacke! Das war ein Foul!“, brüllte er den Schiedsrichter an, der besorgt zur Unfallstelle gelaufen kam.
„Tut mir Leid“, entgegnete dieser ruhig. „Ich konnte keine Behinderung durch den Gegner feststellen. Es war deine eigene Schuld, dass du auf dem Boden liegst. Geht es oder musst du ausscheiden?“
Bolle sah ihn mit einem wütenden Blick an. „Das sehen Sie doch, dass ich so nicht spielen kann. Au, au, mein Knöchel! Ich kann nicht auftreten.“
Schnell eilte der Lehrer herbei und zusammen mit einem Mitspieler brachten sie Bolle an den Rand des Platzes.
„Timmy, du musst einspringen!“, rief Max seinem Klassenkameraden zu.
Erstaunt sprang der Junge von der Ersatzbank auf und rannte auf das Spielfeld.
„Sieh ja zu, dass du nicht alles vermasselst!“, raunte ihm Bolle zu, als sich die beiden Jungen auf halbem Weg begegneten.
Kurz vor Spielende stand es immer noch 0:0.
Dann kam Timmy in den Ballbesitz. Er war zufällig von Max angespielt worden.
„Mist, jetzt hat die alte Trantüte auch noch den Ball und wir haben nicht mehr viel Zeit, um zu gewinnen“, murmelte dieser.
Timmy trat leicht gegen den Ball und stieß ihn in Richtung Tor. Er rollte um die Gegenspieler herum, schien auf Timmy zu warten, bis dieser ihn wieder ein bisschen anschubste.
Nun kam ein gewisses Glücksgefühl in Timmy hoch. Er lief so schnell er konnte und das runde Leder vor ihm her. Es schien fast, als wollte der Ball den Spieler ins Netz locken. Elegant überwanden beide die gegnerischen Schüler, die sich ihnen in den Weg stellten. Das Publikum tobte. Alle schrieen: „Timmy vor, schieß ein Tor! Timmy vor, schieß ein Tor!“ Sogar Bolle hatte sich von seinem Platz erhoben und verfolgte laut schreiend die Szenen auf dem Platz.
Kurz vor dem Tor legte der Ball sich so gekonnt vor Timmys Beine, dass dieser nicht einmal mehr zielen musste, sondern einfach nach vorne schoss. Und der Ball flog und flog und flog, bis er in der Ecke des gegnerischen Netzes landete.
Die Mitschüler jubelten und sprangen von ihren Sitzen auf.
Auf der gegnerischen Tribüne herrschte miese Stimmung. Aber man versuchte trotz allem, die eigenen Spieler anzufeuern. Vielleicht schafften sie ja noch ein "Unentschieden" in der letzten Minute.
Aber das Spiel war gelaufen. Bevor der Ball auf die andere Feldseite gelangte, pfiff der Schiedsrichter ab.
Mit 1:0 hatte die 4a gewonnen. Die Spieler schoben Timmy aufs Podest, der die Urkunde in Empfang nehmen sollte.
„Das ist deine Aufgabe, denn durch dich haben wir gewonnen.“ Stolz klangen die Worte des Lehrers. Sogar Bolle humpelte herbei und stellte sich vor Timmy.
„Wollen wir das Kriegsbeil begraben?“, fragte er zaghaft, was so gar nicht seine Art war. „Ich glaube ich habe dich unterschätzt.“
Beide Zankhähne gaben sich daraufhin die Hände und es herrschte für eine Weile Frieden zwischen ihnen.
Während der Siegesfeier kehrte Timmy in die Umkleidekabine zurück. Er sah ziemlich geschafft aus, als er sich auf einer der Bänke niederließ. Von seinem Platz aus entdeckte er ganz hinten in der Ecke das runde, weiße Leder.
„Ach da hast du dich versteckt“, sagte Timmy und holte den Ball hervor. "Wenn ich überlege, wie tollpatschig ich mich beim Spielen angestellt habe und trotzdem ein Tor schießen konnte? Da kannst du eigentlich nur ein Zauberball sein.“
Timmy drückte den Ball fest an sich und streichelte über das verschmutzte Leder. Dass der Ball heimlich grinste, konnte er natürlich nicht sehen.