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Das Rumpelstiltzchen von Wien
Das Rumpelstiltzchen von Wien
Im Sommer des Jahres 2014 wurde Wien von einem Rumpelstiltzchen heimgesucht. Es lebte in der Kanalisation tief unter der Alten Donau, in der Nähe des Gänsehäufels. Nachts, wenn die tiefen Wasser des beliebten Badeparadieses sich schwarz färbten und kein Schwimmer und kein Tretbootfahrer mehr zu sehen war, kam es heraus und holte sich seine Opfer. Es fraß hauptsächlich Babies, aber manchmal entführte es auch Kleinkinder. Es holte sich seine Opfer direkt aus den Parks, Autos und sogar Wohnungen der Wiener, schaffte sie in sein Versteck tief unter dem Wasser und fraß sie auf. Das Rumpelstilzchen fraß stets zuerst das frische Herz, wobei die Kinder und Babies noch am Leben waren, wenn es ihnen die Brust aufriss. Danach kamen die Arme und Beine dran, die es sorgfältig bis auf die Knochen abknabberte. Den Knochen selbst saugte es das Mark aus. Ganz zum Schluss begann es die guten Stellen des Gesichts zu essen - zuerst das Wangenfleisch, das ihm exzellent schmeckte, danach die Ohrläppchen und die Zunge. Die Innereien aß es nicht. Die Augen aß es auch nicht. Es mochte die Konsistenz der Augäpfel nicht, wenn sie beim Draufbeißen gummiartig von einer Seite des Maules zur anderen flutschten, und die Sehnerven, die vom Auge hingen und sich wie dünne Fleischfasern zwischen seinen Zähnen verhedderrten. Nein, die Augen aß es nie.
Niemand weiß, woher das Rumpelstilzchen kam und wie es nach Wien gekommen war. Anfangs - im Mai des besagten Jahres - verschwanden die ersten Babies und Kinder in Abständen von mehreren Tagen. Die erste Entführung, die eine alleinstehende Mutter der Polizei meldete, ereignete sich in Donaustadt, nur wenige Meter vom Ufer der Alten Donau entfernt. Das Baby war neun Monate alt, und die Mutter war kurz vor Mitternacht gerade dabei, das Garagentor ihres Wohnhauses zu öffnen. Es klemmte stets, sagte sie zur Polizei, und man musste jedesmal aus dem Auto aussteigen, nach vorne gehen und das Tor an der Unterseite mit den Händen nach oben ziehen, bis der Elektromotor stark genug war, die Arbeit selbst zu übernehmen. Das Baby - Nikolaus war sein Name - saß in einem Kindersitz am Beifahrersitz, mit dem Rücken zur Windschutzscheibe und schlief friedlich. Als die Mutter zum Auto zurückkehrte, war Nikolaus verschwunden. Die Beifahrertüre stand offen, und nasse Fußspuren zeichneten sich über den Asphalt. Sie führten vom Auto weg aus der Einfahrt hinaus bis über die Straße in den Park hinein, hinter dessen wenigen Baumreihen der Schilf und das Wasser der Alten Donau lagen.
Die Polizei kam mit zwei Streifenwagen direkt zum Haus, danach suchten etliche Einsatzkommandos nach dem Baby. Die Spuren verloren sich im Gras des Parks, aber da man nicht daran glaubte, dass das Baby aus eigenen Kräften verschwunden war, schickte die Polizei keine Taucher zum Ort des Geschehens.
In der Woche darauf gab es Vorfall Nummer zwei, der sich auf der anderen Seite des Donauufers, in der Nähe des Fischerstrands zutrug. Das Restaurant "Zur Alten Kaisermühle" war nicht für seine gegrillten Meeresfrüchte vom Holzkohlegrill bekannt, sondern auch für das romantisch-schöne Ambiente, direkt am Wasser der Alten Donau. Das junge Ehepaar saß an einem der äußersten Tische, und damit der Lärm des Lokals und der Rauch des alten Kohlegrills nicht direkt in das Gesicht des vier Monate alten Mädchens bließ, hatten sie den Kinderwagen so neben ihrem Tisch stehen, dass er direkt ins Wasser der blickte. Die kleine Valentina schlief ohnehin fest, und wenn sie munter wurde, würde sie sich mit einem lautstarken Weinen bei Ihren Eltern melden. Doch als der junge Vater gegen 22 Uhr und nach einer köstlichen Portion gegrillten Calamaris den Wagen wendete und hineinsah, war Valentina verschwunden. Diesmal gab es keine Spuren am Boden, war es doch so nahe am Wasser, und die Polizei verhörte jeden einzelnen Gast des Restaurants.
Danach wägte sich das Rumpelstilzchen wohl in Sicherheit, und es wurde wagemutiger. Es verschwanden ein weiteres Baby aus Kaisermühlen, durch das Fenster einer Erdgeschosswohnung entführt, sowie ein vierjähriger Junge aus dem Park am Kaiserwasser, kurz nach Badeschluss um 20.00 Uhr. Im letzteren Fall war es sogar noch hell, der Junge planschte mit Schwimmflügeln im seichten Wasser, und seine Eltern waren nur wenige Meter entfernt wohl ein paar Sekunden nicht aufmerksam genug. Diesmal gab es auch Taucher, doch fand man keine Leiche.
Später, nach der vierten oder fünften Kindesnetführung innerhalb eines Monats, gab es eine Pressekonferenz des Polizeichefs. Die Bevölkerung Wiens war aufgewühlt, die Mütter und Väter der Stadt lebten in Angst und Sorge, und die Polizei musste Antworten haben.
Organmafia, war eine der ersten Theorien. Man hätte doch nie die EU-Grenzen nach Osten erweitern dürfen. Das hatte man nun davon. Rumänen in Kleinbussen, die den Kindern und ihren Eltern auflauerten und dann über die Slovakei, Tschechien oder Ungarn in den Osten flohen.
Ein Irrer, das war auch eine Theorie. Österreich war in den letzten Jahren ja geprägt von bösen Menschen, die Kinder entführten und in Kellern hielten wie Haustiere.
Doch keine der Theorien war befriedigend für die Wiener, und schon gar nicht für die Mütter und Väter. Jetzt begannen die Sommerferien, und viele fuhren weg von Wien. Was war aber, wenn der Kindesentführer sich noch länger hier aufhielt. Wer würde sich noch trauen, sein Kind im Kindergarten, der Babykrippe oder in der Schule abzugeben?
Die Polizei rief die Eltern zur erhöhten Sicherheit auf und verhängte ein Badeverbot in der Alten Donau nach 19 Uhr. Die Ufer sämtlicher Strandbäder erhielten Polizeiwachen, und auf der Alten Donau selbst sah man von nun an Polizeiboote durch die Dämmerung patrolieren.
Das war dann auch ungefähr die Zeit, als das Rumeplstilzchen sein Territorium ausweitete und abseits des Ufers nach neuem Essen suchte. Es verschwanden Kinder aus dem Stadionbad sowie aus dem Prater im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Dabei musste das Rumpelstilzchen die Alte Donau verlassen und über die Donauinsel und die Neue Donau auf das Festland gelangen. Es war schnell, das Rumeplstilzchen, und es war ein Meister im Schattenwandeln.
Einmal, und das war wohl der wagemutigste Streich des Rumpelstilzchens, schwamm es durch die Neue Donau bis zum Handelskai, kletterte heraus und überquerte den zweiten Bezirk durch den Praterpark bis zum Donaukanal. Dort schwamm es wie ein Biber in Richtung Schwedenplatz, ungesehen im Mondesschein, und kletterte auf halber Höhe in den seichten Wienfluß. Den lief es nach Süden hinunter; es lief, weil der Wienfluss so wie jeden Sommer fast komplett ausgetrocknet war, mit schnellen Schritten und ungeahntem Hunger. Im Stadtpark verschwand das Rumpelstilzchen in den unterirdischen Kanal, durch den der Fluß führte, und es trieb sein Unwesen untern den Straßen von Wien, bis es schließlich das südliche Meidling erreichte und sich dort gleich zwei Kinder auf einmal holte. Niemand weiß, warum es sich soweit von seinem Versteck entfernt hatte, um dann doppelt zuzuschlagen - vielleicht, weil sich die Leute dort am sichersten glaubten.
Ja, das Rumpelstizlchen wütete in diesem Sommer, und es riss sechzehn Babies und drei Kleinkinder in der Zeit von Mai bis Anfang August. In seinem Versteck häuften sich bereits die Kinderleichen. Einige der Opfer waren bereits stark verwest - die Feuchtigkeit des Flußes half dabei - und die vielen abgenagten Knochen türmten sich in der Kanalisation, neben den aufgedunsenen Leibern, die das Rumpelstilzchen nicht verzehren konnte. Eine bestialische Geruchskulisse übertünchte den Abwassergeruch, und hätte ein Mensch zu dieser Zeit die unterirdische Höhle unter der Alten Donau betreten, hätte dieser wohl den Verstand verloren.
Fast vierzig kleine Augen hatte es bereits den Kindern aus den Höhlen gerissen und in eine kleine, rostige Blechdose gelegt. Das half ihm dabei, die Übersicht zu bewahren, wieviel es bereits zu sich genommen hatte, und wieviel es noch essen musste, damit es den Winter überleben konnte, wenn der große Schlaf hereinbrach. Kleinkinder lieferten mehr Energie, sie hatten mehr Fett und größere Leiber, aber es war auch weit aufwändiger, einen Vierjährigen zu fangen, als ein Neugeborenes. Ihre Herzen waren alle gut - egal ob Baby oder Kleinkind, die Herzen lieferten die meiste Energie. Das Herz musste sofort nach dem Tod des Kindes gegessen werden, wenn es noch zuckte und pulsierte, dennoch aber kein Blut mehr pumpte. Es war zäh zu essen, und das Rumpelstilzchen musste seine scharfen Vorderzähne dazu benutzen, das Herz in kleinere Häppchen zu teilen, sonst wäre es womöglich noch an einem Stück des durchwachsenen Muskels erstickt. Es schmeckte auch nicht gut - nicht so gut wie die Wangen und Ohrläppchen -, es war bitter und salzig, aber es lieferte doch soviel Energie, dass es den Aufwand wert war.
Das Rumpelstilzchen lag gut im Zeitplan, und wenn es noch zwei, drei gute Wochen hatte, vielleicht noch ein oder zwei größere Kinder fraß, dann konnte es getrost weiterziehen und eine Überwinterungsmöglichkeit suchen.
Doch dann kam alles anders.
Im August 2014 tobte ein schwerer Sturm über Wien. Der Himmel hatte sich bereits am frühen Nachmittag bedrohlich dunkel gefärbt, gegen 17 Uhr herrschte gar eine nächtliche Stimmung. Die Wolkenschleusen öffneten sich an jenem Nachmittag und sie sollten sich für ganze 48 Stunden nicht mehr schließen. Regen peitschte unerbittlich vom Himmel, die großen abschüssigen Straßen formten sich zu Sturzbächen. Regenschirme und Fahrräder, Blumentöpfe und Kleinautos wurden mitgerissen. Der Sturm kreischte wie ein Besessener durch die Stadt - Bäume und Sträucher wurden entwurzelt; in der Innenstadt krachte die Leuchtreklame des Casinos auf den Gehsteig herunter.
Es schüttete zwei Tage und Nächte hindurch, und keinerlei Menschen wagten sich auf die Straße. Die Donau trat über ihre Ufer und überschwemmte gute Teile der angrenzenden Bezirke. Die Stadt war ausgestorben und gleichte einem Katastrophengebiet.
Dann endlich hörte der Regen auf, die Wolken lichteten sich und der Sturm war zu einem warmen Wind geworden. Sonnenstrahlen drangen wieder durch, und die Wiener und Wienerinnen begannen mit den Aufräumarbeiten. Die Stadt war so gut organisiert, dass es zwei Tage nach dem Ende der Regenfälle aussah, als hätte es nie ein Unwetter gegeben. Die Straßen waren wieder befahrbar, die Leuchtreklame des Casinos wieder montiert und der Wasserstand der Donau war wieder auf normalen Niveau, da das Wasser über das ausgeklügelte Kanalisationsystem abgeflossen war.
An jenem Samstag Morgen Mitte August, als das Strandbad Gänsehäufel erstmals nach dem großen Unwetter wieder seinen Pforten für die Besucher öffnete, war es brütend heiß. Bis zu 37 Grad wurden für den Nachmittag erwartet, und die Besucher standen bereits ab acht Uhr morgens in der Schlange, um eine Tageskarte zu ergattern.
Doch nicht Rudolf, der Donaustädter, der direkt gegenüber dem Strandbad seine Wohnung hatte. Rudolf war Mitte sechzig, Pensionist und war jeden Tag von Mai bis September im Gänsehäufel zum Baden. Er besaß nicht nur eine dieser kleinen Kabanen im Strandbad, die man mieten konnte und in denen man seinen Liegestuhl und einen Elektrogriller aufbewahren konnte, sondern auch eine Saisonkarte, die es ihm ermöglichte direkt nach Betriebsaufnahme das Bad ohne Wartezeit zu betreten. Und so war Rudolf an jenem Samstag einer der ersten, der sich in das kühle Nass der Alten Donau begab. Er lief zuerst den Steg am Weststrand des Gänsehäufels entlang, hechtete dann mit einem Kopfsprung ins kühle Nass und schwamm bis weit über die Nicht-Schwimmer-Abgrenzung hinaus.
Das Wasser war an jener Stelle tief, schwarz und kalt, aber es war nicht das Wasser, das Rudolf in Panik geraten ließ. Anfangs schreckte er sich nur, als etwas sein Bein berührte. Er strampelte und wollte sich von dem Ding im Wasser entfernen, als er plötzlich weitere Dinge spürte. Weiches und Hartes zugleich, und dann erblickte er auch etwas vor sich im Wasser treiben. Es war der aufgeblähte Leib eines Kleinkindes, dessen Arme und Beine fehlten. Nun kamen weitere Dinge auf an die Oberfläche des Wassers - Dinge, die seine Beine vorher berührt hatten. Knochen. Babyleiber. Noch mehr Knochen. Ein kleiner Schädel, mit Fleischfetzen daran, aber ohne Augen und mit Löchern in den Wangen poppte neben ihm im Wasser auf.
Rudolf begann laut zu schreien, er strampelte mit den Füßen Richtung Ufer und schlug wild mit den Armen um sich, berührte dabei eine Babyleiche nach der anderen. Irgendwas hatte sich auch um seinen Fuß gewickelt, er vermochte nicht daran zu denken, was es war, aber es war lang und glitschig.
Rudolf entging an jenem Morgen nur sehr knapp einem Herzinfarkt, und vor lauter Panik sah er auch nicht die kleine rostige Blechdose die Alte Donau hinuntertreiben, vorbei am Kaiserwasser und unter der Fußgängerbrücke hindurch.
In jenem Sommer wurde in Wien kein Kind mehr entführt und kein Baby aus der Krippe gestohlen. Die Sonne lächelte wieder über Wien, und die Bewohner lächelten zurück.
(c) by forsakingmax, Juli 2014