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Das rote Zelt
Hast du kurz Zeit, dann zeige ich dir was. Dauert nicht lange. Wir müssen hoch ins hintere Zimmer, ans Fenster. Aber sei bitte leise. Am Schreibtisch vorbei, auf dem die Blumen stehen. Ich habe ihnen schon neues Wasser gegeben, mit der kleinen Gießkanne. Ohne zu kleckern. Aber es hat nix geholfen, die Köpfe bleiben unten.
Meinen recke ich jetzt hoch, dann sehe ich es besser. Das rote Zelt, mitten im Garten vom alten Kratzbart. Drumherum wächst Löwenzahn. Und Gänseblümchen. Wenn ich mir die so angucke, könnte ich gleich rüber schleichen und mir eine Kette basteln, zum Zwei-Mal-um-den-Hals-wickeln, und für Mama auch eine. So viele sind das. Mache ich aber nicht. Obwohl es ginge, weil da kein Zaun ist. Nur die Hecke, durch die komme ich durch, hab´ schon oft den Ball wieder rüber geholt. Manchmal saß der Kratzbart dann auf seiner Terrasse und hat vor sich hin gebrummt, ich glaube, das sollte Hallo heißen.
Das letzte Mal ist schon länger her, da war das Gras kurz. Da hab´ ich noch Ball gespielt bei uns hinterm Haus, aber das ist jetzt zu laut und ich laufe lieber zum Schulhof und werfe ihn da. Ich würde sowieso nicht mehr durch die Hecke nach drüben krabbeln, und wenn alle meine Bälle rüber geflogen wären. So nah ans Zelt gehe ich auf keinen Fall, selbst wenn Mama nix gesagt hätte.
Der Reißverschluss ist immer zu. Max sagt, dass es da drin gar nicht auszuhalten ist, wenn die Sonne so draufknallt. Er war mit seinen Eltern letztes Jahr zelten, übers Wochenende. Sie waren den ganzen Tag draußen und sind nur zum Schlafen reingegangen. Max´ Zelt ist größer als das in Kratzbarts Garten. Ich habe ihm in der Schule davon erzählt und er wollte es unbedingt sehen, da haben wir uns verabredet, aber ich habe ihm verboten zu klingeln und an der Tür auf ihn gewartet.
Siehst du das plattgedrückte Gras? Da trampelt er immer lang, der Zeltmann. Deshalb stellt es sich nicht mehr auf, lohnt sich nicht, wenn`s dann gleich wieder runtergetreten wird. Ein richtiger Weg ist das geworden. Sieht wie eine Schlange aus. Die kriecht vom Zelt am Haus vorbei, bis zum Gartentor. Das kannst du von hier aus nicht sehen, aber ich hab´ von der Straße aus durchs Tor geguckt.
Den Zeltmann habe ich noch nie gesehen, aber ich bin mir trotzdem sicher, dass es ein Mann ist. Eine Frau stellt doch nicht einfach ein Zelt auf und wohnt dann darin. Mama konnten Papa und ich jedenfalls noch nie zum Zelten überreden, früher schon nicht. Jetzt erst recht nicht, da sie so viel im Bett liegen muss. Im Zelt wäre es zu unbequem für sie. Außerdem geht man beim Camping zum Duschen ins Waschhaus, sagt Max. Das würde sie stören, weil sie wieder eine Glatze hat, die soll außer uns keiner sehen. Obwohl das auch praktisch ist, die muss sie nicht föhnen. Der Zeltmann föhnt sich auch nie, der hat ja keine Steckdose da drin, und ein Waschhaus gibt es hier nicht. Und beim Haus vom Kratzbart sind alle Rollos unten, da geht der Zeltmann garantiert nicht rein. Vielleicht duscht er gar nicht. Dann will ich ihm erst recht nicht begegnen.
Ich hab´ ihn auch noch nie gehört. Los, mach´ mal das Fenster auf! Die Bibel legen wir hier rüber. Da steht zwar was über Zelte drin, aber in denen wohnt Gott, sagt Mama. Der hat das rote Zelt hundert pro nicht beim Kratzbart aufgebaut. Da passt er ja gar nicht rein. Allerhöchstens ein Engel, aber das wäre totaler Quatsch, wen soll er dann beschützen, der Kratzbart ist schon lange weg. Schutzengel verwechseln doch nicht die Häuser. Und er wüsste sowieso, dass er von da aus nix machen kann. Mama geht nämlich nicht mehr in den Garten, weil sie nicht in die Sonne soll.
Jetzt mach´ schon auf! Ja, so ist es gut. Hörst du die Amsel singen? Ich kann sie genau von den anderen unterscheiden, hat mir Opa beigebracht. Er besucht uns im Moment wieder öfter und das rote Zelt kennt er auch. Das gefällt ihm gar nicht, dass keiner weiß wer es aufgestellt hat und ob der das überhaupt darf. Und dass die Hecke so hochwächst und das Gras auch.
„Da muss man doch was machen“, hat er zu Papa gesagt. „Weiß der Alte überhaupt, dass da einer bei ihm im Garten zeltet?“
„Den kann keiner mehr fragen, weil sie ihn abgeholt haben. Der konnte nicht mehr alleine bleiben. Da kann man nichts machen.“
„Irgendwas kann man immer machen“, hat Opa geantwortet.
Papa hat mit den Schultern gezuckt und den Rasenmäher aus dem Schuppen gerollt. Er mäht unseren Rasen, damit er schön kurz bleibt und nicht so aussieht wie der vom Kratzbart.
Im Moment sitzt da nur die Amsel, Papa ist im Büro. Wenn die Amsel Luft holt, hört man das Gezwitscher von den anderen Vögeln, aber aus dem Zelt keinen Mucks. Da bewegt sich nichts. Da ist niemand drin. Aber er hat es auch nicht einfach hiergelassen. Siehst du das Küchenhandtuch an der Schnur? Das hing gestern noch nicht da. Er kommt bestimmt abends, wenn ich schon im Bett bin.
Einmal bin ich ins kleine Zimmer geschlichen, als es dunkel war. Von unten habe ich den Fernseher gehört und von oben nichts, weil Mama nur leise Geräusche macht, die schaffen es nicht die Treppe runter. Im Zelt war Licht an, Taschenlampenlicht. Das Fenster habe ich zugelassen, sonst wäre Papa hochgekommen und hätte geseufzt und mich ins Bett geschickt.
Ich bin lange am Fenster stehen geblieben, aber irgendwann ist mir langweilig geworden und mir haben die Beine wehgetan. Und außer dem Licht war gar nichts zu sehen. Ich weiß nicht, was der Zeltmann macht.
Aber manchmal denke ich drüber nach, dass sie den Kratzbart abgeholt haben. Warum durfte er nicht alleine bleiben? Vielleicht war er krank.
Außerdem hat Opa neulich was über Mama und mich gesagt, als er mit Papa in der Küche saß: „Das wird nicht mehr lange gutgehen, wenn die beiden den halben Tag allein sind“. Dass Papa doch arbeiten muss und dass es da Häuser gibt, die man sich mal anschauen könnte. Ehe Mama gar nicht mehr aufstehen kann.
Ich sag`s nur dir, bevor du wieder gehst. Ich überlege, ob sie den Zeltmann geschickt haben, um Mama zu holen. Den Papa frage ich nicht danach und den Opa auch nicht, der rubbelt sich sonst wieder so fest über die Augen und sagt „Kind, ach Kind“.
Kurz, nur kurz. Du musst gleich gehen, bevor sie wach wird. Dann kommt sie die Treppe runter und sie will nicht, dass du ihr Mondgesicht siehst. Das sagt sie selber, ich würde es nie so nennen. Denn da drin, in dem Gesicht, da ist immer noch sie. Obwohl es so dick ist, fühlt sich der Rest von ihr knochig an, wenn sie mich in den Arm nimmt. Ich drücke meinen Kopf nur an ihre gesunde Seite, weil die kuscheliger ist als die kranke und ich Mama nicht wehtun möchte. Da ist zwar der Knubbel, in den sie immer ihre Medizin bekommen hat, aber der stört mich nicht. Mein Kopf passt darunter. Früher war ihr Drücken fester als meins, aber jetzt sind wir gleichstark, obwohl ich nicht viel gewachsen bin. Wenn sie mich umarmt, weiß ich genau, dass sie nicht wegwill.
Es dauert immer länger, bis sie es zu mir runter schafft. Wenn oben die Tür aufgeht, haben wir noch genug Zeit. Mach´ das Fenster schon mal zu. Und leg´ die Bibel wieder zurück, vielleicht braucht sie die gleich. Sie sagt, das Einzige, was jetzt noch hilft, ist der Liebe Gott.
Ich habe mir einen Plan überlegt. Alleine traue ich mich nicht, aber ich frage Max, der kennt sich ja mit Zelten aus. Ich muss ihm bald alles erklären, bevor Mama es nicht mehr zu mir nach unten schafft. Wenn wir sicher sein können, dass der Zeltmann nicht da ist, krabbeln wir durch die Hecke nach drüben.
Hast du das gehört? Oben geht die Tür. Du musst dich rausschleichen. Guck´ in ein paar Tagen über das Gartentor. Dann ist das Zelt weg, glaub`s mir.