Das rote Leuchten
Es ist Frühling. Ein schöner Frühling mit vielen warmen Tagen. Lena trägt ein luftiges seidenes Sommerkleid. Alles um sie herum ist im Werden. Auch sie hat auf dem Balkon einige Pflanzen getopft. Sie versucht es mit Tomaten, Rosmarin und Basilikum, um das Essen zu bereichern, aber auch mit Zierrosen und einen Flamingobaum fürs Auge. Sie hat die Fenster offen, denn sie mag den kühlen Wind am Morgen. Sie schnappt sich ein paar Kochbücher und Ordner mit gesammelten Kochrezepten auf Blättern in allen Farben, setzt sich an den Küchentisch und beginnt zu blättern. Alles ist im Werden, denkt sie. So wie bei uns beiden. Wie gut alles war und wie leicht. Wir mussten nicht an morgen denken, denn jeder Tag ergab sich aufs Neue. Das Glück war eine Seifenblase.
Auch sie weiß, dass nichts ewig bleibt. Das ist ja auch gut so in schlechten Zeiten. Doch in guten Zeiten denkt man nicht daran. Und das hat auch seine Berechtigung. Nach dem Frühling kommt die Hochzeit des Sommers, aber dann der Herbst. Zurückfahren, einsammeln, was lustvoll verschwendet wurde, verblühen. Dann der Winter, das Erstarren, Bewegungslosigkeit, Tod. Und doch überdauert das Samenkorn, die Wurzel, der Gedanke, weil er den Frühling herbeisehnt. Doch, wie gesagt, das kann sie jetzt gar nicht denken. Es ist nur ein kleiner Moment, ein plötzlicher Einfall, der sofort wieder verschwindet, ein kurzes Zischen des Wassertropfens auf der Herdplatte, als sie diese Vision hat. Sie hat Angst und wischt sie schnell weg.
Es ist Sommer. Das Baby liegt auf dem Doppelbett, neben ihr. Es ist mit einer Baumwolldecke zugedeckt, während sie sich in ihre Daunen kuschelt. Aus den hohen Fenstern strahlt die Mittagssonne herein. In der Küche werkelt Elli, ihre Mutter. Sie bereitet das Mittagessen. Nach dem Frühstück waren sie zu dritt spazieren, um die Sonne zu genießen. Das Baby liegt auf dem Rücken, blinzelt und fuchtelt mit den Ärmchen in der Luft, lächelt unvermittelt oder schläft auf dem Bauch. Es ist ein Mädchen und heißt Fiona.
Fiona liegt da und atmet regelmäßig. Sie scheint zu träumen. Ab und zu atmet sie heftig mit einem Schnarcher ein und lässt dann erleichtert die Luft wieder heraus. Lena lächelt und sie fühlt, wie ungewohnt es sich anfühlt und wie gut es tut. Wie gut, dass meine Mutter da ist, denkt sie. Wie gut, dass es Fiona gut geht. Sie ist sich auch wieder bewusst geworden, dass sie Freunde hat, Freunde, die in Vergessenheit geraten waren durch ihr großes Seifenblasen-Glück und ihr großes Unglück. Das Milchglas der Benommenheit war endgültig zersprungen, der Schmerz des Verlustes war gekommen, doch der Schmerz der Geburt hatte jenem etwas entgegengesetzt. Die scheinbar endlose weiße Fläche hatte Strukturen bekommen, mit farblichen Abstufungen und einem Höhenrelief. Das leere Blatt Papier wurde zur Landkarte. Und Menschen lebten dort, Menschen, die sie liebte und besonders dieser kleine, den man nicht weglegen konnte, vor dem man sich nicht verstecken konnte, der sie brauchte. "Fiona", flüstert sie. "wenn du nur deinen Vater noch hättest..."
Sie hatte nie aufgehört, an ihn zu denken. Aber mit der Zeit wandelte sich der Charakter ihres Schmerzes. Er stieg ihr nicht mehr mit voller Wucht in die Kehle, so dass alle Feuerschleusen sich öffneten. Er stach nicht mehr in ihren Hinterkopf, ließ sie nicht mehr vor Verzweiflung aufheulen. Sie begann ihn, den Mann, als einen Teil ihres Lebens zu begreifen und nicht als ihr Leben selbst. Das war eine ungeheure Abkehr vom bisherigen, wahren Glauben, gegen den sie sich zunächst vehement wehrte. Doch die Zeit fraß sich durch den dicken Panzer der Lüge und befreite sie. Ihre Mutter half ihr, indem sie diese Frage ihr selbst überließ und ansonsten ihr die Schulter anbot, um sich auszuweinen und danach tief durchzuatmen. Auch Fiona trug zu ihrer Genesung bei, indem sie gnadenlos ihr Recht auf Aufmerksamkeit einforderte und sie tagtäglich zu kleinen Alltags-Entscheidungen zwang.
Es ist Herbst. Elli ist den letzten Tag da. Sie hat gerade Fiona spazieren gefahren, lässt den Kinderwagen unten stehen, nimmt Fiona in der Tragetasche mit und ächzt die Treppe hinauf. Sie öffnet die Wohnungstür und ruft "Lena, ich bin wieder da". Doch es kommt keine Antwort. Sie legt Fiona in die Küche. „Hast Du das Essen fertig? Ich habe einen Riesen-Hunger.“ Sie geht ins Wohnzimmer und sieht ihre Tochter am Tisch sitzen. Lena betrachtet ein Katzenauge, während sie es in ihrer rechten Hand hin und her bewegt. "Lena!" Jetzt dreht sie sich um und ihre Mutter sieht die Tränen in den Augen.
Nach seinem Tod war sie erst einmal in ihren Gedanken gelähmt. Sie hatte Angst in ihrer Wohnung. Am zweiten Tag danach stürzte sie plötzlich los, kaufte sich Müllsäcke und packte alles hinein, was ihm gehörte. Die Gegenwart all dieser Dinge schmerzte und so mussten sie verschwinden. Sie wusste, wenn sie nachgäbe und sie als Erinnerung behielte, würde sie ihnen verfallen, sie als Devotionalien verehren, wohlmöglich mit ihnen noch einen Schrein errichten, vor dem sie mehrmals täglich dem Verstorbenen huldigen würde. Also stopfte sie die Tüten voll, versuchte nicht an ihn zu denken und an die Erinnerungen, die sich mit den einzelnen Stücken verbanden. Die Armbanduhr, die sie mit ihm ausgesucht hatte, nachdem er endlich mal ein bisschen Geld zusammenhatte. Warum hatte er sie an jenem Morgen nicht an? Wäre der Unfall vielleicht mit Armbanduhr nicht passiert? Halt! Hör auf! Sie musste weitermachen.
Sein Handy mit dem Kanon von Pachelbel als Klingelton. Dies war sein Lieblingsstück und oft hatten sie ihm zusammen gelauscht. Als dieser Rap herauskam, bei dem Teile des Kanons erklangen, bekam sie zunächst einen Schreck und fühlte so etwas wie Entweihung. Dann fand sie es eine lustige Idee und bestaunte die unbegrenzten Möglichkeiten der Musik. Sie erinnerte sich, was er über das Stück erzählt hatte. Über die Freuden und Qualen seines Geigenunterrichts in seiner Kindheit. Wie es in der Gruppenstunde manchmal am Ende ein Wunschkonzert gab und sich alle immer den Kanon wünschten. Die Geigenlehrerin schnappte sich dann das Cello und riss kräftig und ruhig die acht Basstöne an, die das Fundament für das ganze Stück legten. Die erste Geige setzte ein. Wie vom Himmel gefallen spielte sie die acht Melodietöne gegen den Bass. Die zweite kam im Terzenabstand zur Hilfe. Wenn die dritte kommt, ist die erste aber schon bei einem neuen Thema, so dass zweite und dritte das alte Thema zusammenspielen. Und so geht das Stück weiter: Zwei spielen zusammen, während der Dritte vorauseilt oder hinterherhinkt. Das Ganze drängt vor, schwebt dahin oder fährt zurück in immer neuen Variationen über die Akkordfolge. Alles war im Werden. Bei Aufführungen waren die Zuhörer immer ganz gebannt. Wahrscheinlich taten sie einen Blick in eine andere Welt, von der sie bisher noch nichts wussten.
Versunken. Das Erinnern half ihr, die Dinge loszulassen. Sie passierten ein letztes Mal ihr Blickfeld, um ihr einen Teil von ihm zu schenken.
Alles verschwand in den knisternden Tüten, die Zimmer leerten sich. Kleidungsstücke (sollte sie die vielleicht verbrennen?) stopfte sie rein. Das wenige Geschirr, das er in die Beziehung mitgebracht hatte, zersplitterte. Sie zögerte bei seinen Aufzeichnungen, kleine, eng beschriebene DIN-A5-Blätter, doch nur kurz, dann wanderten sie den anderen Sachen hinterher.
Mit Unterbrechungen brauchte sie zwei Tage, dann standen fünf hellblaue Müllsäcke im Treppenhaus, um abtransportiert zu werden. Sie stand starr davor und hörte sich atmen. Die Abendsonne schien durchs Fenster. Da sah sie ein kleines rotes Leuchten in einem der Säcke. Sie ging darauf zu, ließ ihren Arm in den Sack hineinsinken und holte das Leuchten heraus. Dieses eine sollte von ihm übrigbleiben.
Lena wischt sich die Tränen weg und lächelt ihre Mutter an. „Ich komme schon klar. Du kannst ruhig nach Hause fahren.“ Elli tritt zu ihr hin, Lena umarmt ihren Bauch. „Ich bleibe solange, wie du willst.“ Ellis Hände fahren über ihre Haare. „Ich weiß. - Danke, Mama.“ Sie lässt Elli los und schaut auf den Stein. „Weißt du, er schenkte ihn mir, ganz am Anfang. Und er sagte...“. Sie hielt das Katzenauge zum Fenster hin, so dass das Sonnenlicht es durchflutete. „Immer, wenn du dich einsam fühlst, schau hier hinein und du findest mich.“ Beide schauten in das Rot in Lenas zitternder Hand. „Damals habe ich gelacht. – Und er auch.“
Fiona schreit. Elli dreht sich um zur Tür. Lena hält sie fest. „Ich gehe schon.“ Sie legt den Stein zurück auf den Schreibtisch und geht ruhig zur Küche.