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Das rote Kleid
Ihre Finger drückten sacht die staubigen Tasten des Klaviers, ehe sie begann mit einer Hand zu spielen. Die Töne hallten von den Wänden zurück. Draußen färbte sich der Himmel von einem kalten Blau in ein warmes Orange. Die schwüle Sommerhitze drückte sich durch das dürftig geöffnete Zimmerfenster.
Sie ließ erneut die Taste ertönen. Ihre Schultern hingen herab, die Enttäuschung saß tief. Der Geruch von Rauch hing schwer in der feuchten Luft, vernebelte die Sicht, verbarg ihr rotes Kleid. Wieder schrie das Klavier unter ihrer Berührung auf, als wollte es klagen, um die Aufmerksamkeit heraufzubeschwören die sie so verzweifelt suchte.
Sie vernahm das Geknister von altem Papier. Unzufriedenheit nagte an ihr. Sie biss sich auf die roten Lippen und strich sich das Haar zurück. Unerbittlich drückte sie die nächsten Klavierzähne hinunter.
Ihr Blick folgte dem, aus dem Fenster steigenden, Rauch zu seinem Ursprung zurück. Still saß er da, dieser Eisklotz von einem Mann.
„Ich war einkaufen“, sagte sie, „viele schöne Dinge, in rot, wie du es magst.“
Ihre Hand verharrte auf dem Klavier, wartend auf eine Antwort. Eine Reaktion. Eine Sekunde seiner Zeit. Die Antwort ließ auf sich warten, ehe er ignorant wie er war, nickte. In ihrer Stimme schwang jene Heiterkeit mit, die sie nun schon seit Jahren als Maske für die Gesellschaft trug.
„Du“, sagte sie mit aufgesetzter Miene, „erinnerst du dich noch an unser erstes Treffen? Ich hatte einen roten Mantel an. So rot wie dieses Kleid und du hast Rotwein auf mich verschüttet, so nervös bist du gewesen. Zum Glück hatte man das nicht sehen können. Was haben wir gelacht, erinnerst du dich?“
Er blätterte seine Zeitung um, überflog die Seite so beiläufig wie das Gespräch, dass sie führten.
„Ja“, meinte er, „ja, ich erinnere mich.“
Sie verweilte mit dem Blick auf ihn ruhend, die Hände im Schoß gefaltet, den Oberkörper vom Klavier abgewandt. Wieder hüllte er sie in Schweigen ein, sodass es sie zu verschlucken drohte. Ihre Lippen zu einer dünnen, weißen Linie gepresst, wandte sie sich ab. Das Gesicht verzogen, das Herz beklommen, drückte sie erneut auf die Tasten.
Wie schön. Der Klang verschmolz sich mit ihrem Gemüt. Wie schön, dass er sich an ihre Geschichte erinnerte. Sie traf die Note C und verharrte, um zu hören wie der Ton nach und nach im Nichts verschwand.
Wie traurig, dass sie nicht stimmte.