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Das rote Kleid
Das rote Kleid
Sie stand da in einem Kleid, das sich blutrot von ihrer Haut abhob. Zitterte in schmutzigem Seewasser und hörte einen Vogel, der irgendwo im Süden nach Freiheit schrie.
Etwas war geschehen. Sie wusste nicht wie, sie wusste nicht was, sie wusste nur das. Ihr blieb nur eine Ahnung und ein kaltes Angstgefühl.
Tränen hatten eine Spur aus Schminke auf ihrem Gesicht hinterlassen. Es war eingerahmt von einzelnen Haarsträhnen, die sich aus ihrer Frisur gelöst und sie auf beängstigende Art und Weise sehr schön machten.
Niemand wusste, dass sie hier war. Sie könnte ihre Flügel ausbreiten und wie der Vogel nach Süden davonfliegen. Keiner würde sie suchen und vermissen.
Sie breitete die Arme aus. Dunkle Male waren darauf zu sehen, Geschehnisse einer Nacht, an die sich vermutlich niemand erinnern würde, denn sie, die einzige die jene Geschichte erzählen könnte, hatte sie ausgelöscht.
Sie schritt aus dem See. Grauen zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, denn einen Moment hatte sie sich gewünscht, tiefer in das Wasser hinein zu gehen und mit dem Atmen aufzuhören. Der Pfad, den sie im Wasser gegangen war, war gezeichnet von schwimmenden roten Schlieren. An ihrer Schulter beleuchtete der Mond einen weißen Fleck, der sich vom Blut abhob, das das ganze Kleid rot gefärbt hatte.
Warum konnte sie sich nicht erinnern? Sie starrte in den Wald, der an den See grenzte und vernahm einen Schrei in ihrer Erinnerung. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie die Finsternis sehen. Wenn sie die Hände um ihre Arme legte, konnte sie die Schmerzen spüren. Der kalte, metallische Geschmack in ihrem Mund war Blut.
Die Angst war jetzt wieder da, viel stärker. Wollte sie sie gewalttätig in die Nacht zurückzerren, auch wenn sie sich dagegen wehrte? Wenn sie sich erinnerte, würde sie an dem Grauen der vergangenen Geschehnisse ertrinken. Und danach würde sie in den See gehen und wirklich ertrinken.
Nein, dass sie nichts mehr wusste, war gut.
Der einzige Weg für sie bestand darin, zu vergessen. Und wenn sie vergessen musste, um zu überleben, dann würde sie das tun.
Die Person, die aus den schwarzen Eingeweiden des Waldes trat, war ein Geist. Fahle Haut, ein müdes Lächeln, Augen wie staubige Kastanien. Seine Hand war rau, als er sie ihr reichte. Sie folgte ihm, wie sie ihm schon immer überall hin gefolgt war. Schon damals, als sie noch Kinder gewesen waren. Er führte sie immer tiefer in den Wald hinein und wurde mit jedem Schritt immer blasser und blasser. Hätte sie nicht den Druck seiner Hand gespürt, hätte sie gedacht, er würde sich auflösen.
Die Erde wurde nass. Und dann stand sie in einer Pfütze. In einer Pfütze aus Blut.
Kein Regen hatte sie hinterlassen, kein Schauer, nur eine Leiche. Eine Leiche, die mit offenen Augen auf das Baumkronendach starrte.
Sie hielt nicht mehr seine Hand, sondern eine tote Hand. Die Kastanienaugen waren nicht staubig sondern tot, die Hand nicht schweißnass, sondern voller Blut. Auf dem Herzen prangte eine offene Wunde, wie die aufgegangene Blüte einer Todeslilie.
Sie kniete sich nieder, ein Zittern durchlief ihren Körper. Eine Gewissheit, dass sie etwas mit seinem Tod zu tun hatte. Dass sie nicht einfach vergessen konnte, was letzte Nacht geschehen war, denn an ihn erinnerte sie sich schon fast ihr ganzes Leben lang. Ihr Leben bestand nur aus Erinnerungen an ihn.
Tränen tropften aus ihren Augen. Langsam und schweigend. Das Messer, das in seiner Brust steckte, war ihr gar nicht aufgefallen. Ein langes Taschenmesser. Ihr eigenes.