- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 18
Das Richtige tun
Das Richtige tun
"Du bist schwanger", sagte Doktor Scherninger ernst. Maike nickte schwach. Sie hatte es eigentlich gewusst. "Wirst du es deinen Eltern erzählen?" Doktor Scherninger kannte Maike schon von ihrer Geburt an, so war er bereits damals der Frauenarzt ihrer Mutter. Drei oder vier Male war er sogar als Gast bei ihren Eltern zu Hause gewesen.
"Ja, das werde ich tun", antwortete das Mädchen tonlos.
"Es ist nur menschlich", versuchte Doktor Scherninger ihr Mut zuzusprechen, "deine Mutter wird es verstehen, das weiß ich!" Maike stand auf und lächelte etwas mühselig den Arzt an.
"Ich hoffe, sie kann es verstehen. Ich danke Ihnen, Herr Doktor." Sie gab ihm die Hand und verließ das Untersuchungszimmer. Doktor Scherninger sah ihr noch nach und blickte immer noch zum Ausgang, als die Tür schon geschlossen war.
Es war bereits Abend, Maike hatte die Zeit nach dem Besuch bei ihrem Frauenarzt in der Stadt verbracht. Sie hatte nachgedacht, wie ihre Zukunft sie nun verändern würde. Sie wollte nicht nach Hause kommen, bevor ihr Vater von der Arbeit heimgekehrt war. Maike schloss die Wohnungstür auf und wurde wie immer herzlich von ihrer Mutter begrüßt.
"Hallo, mein Schatz." Ihre Mutter war sehr lieb zu ihr. Ihr Vater war sehr streng. Nichtsdestotrotz bewunderte sie ihn für sein Wesen und auch für sein Wissen, und sie hatte viel von ihm übernommen. Die Mutter stellte das Abendessen für ihre Tochter zum Aufwärmen in die Mikrowelle, und Maike begab sich ins Wohnzimmer. Ihr Vater saß in seinem Ledersessel und blickte über sein Buch hinweg auf seine Tochter.
"Guten Abend, Maraike", sagte er lächelnd. Ihr Vater war der einzige Mensch, der sie noch bei ihrem Geburtsnamen ansprach. Es war seine Eigenart, Veränderungen nicht immer zuzulassen.
"Guten Abend", entgegnete das Mädchen weniger lächelnd, stellte sich neben ihren Vater und legte ihre linke Hand auf die Lehne seines Sessels. Maikes Mutter erschien im Türrahmen.
"Dein Essen ist in wenigen Minuten fertig", informierte sie ihre Tochter. Nun waren ihre Eltern zusammen. Sie wollte nicht nach Hause kommen, wenn nur ihre Mutter da war. Sie wollte es beiden zur selben Zeit erzählen! Links neben ihr saß ihr Vater, das Stehlampenlicht beleuchtete ihn. Sie liebte ihren Vater, sie hatte viel von ihm gelernt. Er versuchte, ihr alles das, was er wusste, beizubringen. Er sah eine großartige Zukunft für seine Tochter und sah darin seine strenge Erziehung gerechtfertigt. Im Türrahmen stand ihre Mutter, die immer bemüht war, Maike ihre Liebe zu ihr fühlen zu lassen. Für sie war Maike ein großartiges Mädchen. Sie war pflichtbewusst und fleißig. Sie war immer sehr ehrlich, niemals kam eine Lüge über ihre Lippen. Aber am meisten schätzte sie an ihrer Tochter, dass sie sehr verantwortungsbewusst ist.
"Ich bin schwanger", sprach Maike klar und plötzlich aus.
Es war still. Das Lächeln ihrer beiden Eltern gefror. Dieser Satz war einer von denen, die nicht in diese Familie passten. Er schien vollkommen deplatziert. Die Zeit der Stille wurde endlos lang. Vielleicht hätte diese Stille noch eine Ewigkeit gedauert, wenn die Mikrowelle sich nicht gemeldet hätte. Diesem Kommando folgend, drehte sich die Mutter um und ging geistesabwesend in die Küche. Der Vater klappte das Buch zu und legte es auf den Tisch. ‚Sagen des klassischen Altertums', erhaschte das Mädchen den Titel, dann spürte sie den durchdringenden Blick von ihm. Maike erwiderte diesen Blick. Sie sah keine Enttäuschung in den Gesichtszügen ihres Vaters, aber sie wusste, er war bitterlich enttäuscht. Es war seine Art, es nicht zu zeigen.
"Du bist gerade erst siebzehn Jahre alt", brach er leise die Stille. "Du wirst wohl noch den Begriff Verhütung kennen?" Und schon ein wenig lauter fügte er hinzu: "Ich habe das von dir nicht erwartet. Nicht von dir!"
"Rainer", ermahnte die Mutter, die mit dem Abendessen zurückgekehrt war. "Lasse unsere Tochter erzählen", forderte sie und stellte das Tablett auf den Tisch. Die Eltern schauten Maike erwartungsvoll an.
"Ich wurde vergewaltigt." Maike schaute mit großen Augen zu ihrem Vater, der diesmal nicht verstecken konnte, wie erschrocken er war. Die Stille diesmal schien um einiges leiser zu sein als die zuvor. Die Mutter setzte sich auf die Couch, sie schien keine Kraft mehr zu haben, stehen zu bleiben.
"Wer", fragte Rainer zornig. Maike antwortete nicht. Die Mutter hätte nun gerne ihre Tochter zu sich gerufen und sie in den Arm genommen, aber sie wusste, dass Maike das nicht tun würde. Nicht jetzt! Sie würde so lange dort stehen bleiben, bis sie alles erzählt hatte. Erst viele Stunden später würde sich Maike fallen lassen, und dann würde sie ihre Tochter in ihre Arme nehmen und sie weinen sehen. "Wer", wiederholte ihr Vater seine Frage, diesmal schon sehr laut. Maike wusste, dass das Herz ihres Vaters gerade zu zerreißen drohte, er liebte sie über alles. Und es gab kaum Schlimmeres, was seiner Tochter hätte widerfahren können.
"Es war dunkel", antwortete das Mädchen.
"Wo, wie...", ihr Vater schien nicht zu wissen, welche Frage er zuerst stellen sollte, er war nur von seiner Wut übermannt.
"Rainer", ermahnte seine Frau ihn ein weiteres Mal, diesmal war es eine Tonlage, die er von ihr nur sehr selten hörte. Rainer schwieg, schaute aber seine Tochter auffordernd an.
"Es war während der Schulaufführung. Ich wollte den Text noch einmal durchgehen und bin dafür durch die leeren Schulflure gegangen. Ich hatte ja noch genug Zeit bis ich dran war. Ich war wohl sehr in den Text vertieft, als auf einmal mich jemand von hinten in den Würgegriff nahm und gleichzeitig mir den Mund zuhielt. Er stieß mich in einen Klassenraum und anschließend zu Boden. Es tut mir leid, Papa!" Rainer stand auf und ging zum Fenster. Er blickte in die Dunkelheit. Es sollte keiner merken, wenn eine Träne unkontrolliert sein Auge verließ. Maikes Mutter vergrub ihre beiden Hände in ihr Gesicht und starrte entsetzt zu ihrer Tochter, die immer noch auf den leeren Sessel blickte.
"Es war die Weihnachtsaufführung. Ich erinnere mich, du hattest eine Verletzung im Gesicht", sagte sie fast atemlos. "Du hattest uns gesagt, du hattest einen kleinen Unfall."
"Als ich zu Boden gedrückt wurde, stieß meine Wange gegen die Ecke des Lehrerpults." Rainer blieb regungslos am Fenster stehen.
"Aber", fuhr Maikes Mutter fort, "warum hast du uns das nicht sofort erzählt?" Maike schwieg.
"Ja, Fräulein, das ist ganz typisch für dich", meldete sich ihr Vater wieder zu Wort, ohne dabei seinen Blick nach draußen zu verändern. "Du wirst vergewaltigt und gehst anschließend auf die Bühne, als sei nichts geschehen. Das ist doch kein normales Verhalten!" Maike drehte sich zu ihm.
"Aber ich hätte die ganze Aufführung geschmissen, wenn ich nicht ...", Maikes Stimme drückte ihre Überzeugung aus.
"Du übertreibst es mit deinem Pflichtgefühl", entgegnete ihr Vater.
"Rainer, dieses Pflichtgefühl hat sie von dir!" Die Stimme der Mutter klang kraftlos. Es kehrte Stille ein. Jeder hing seinen Gedanken nach. Rainer ging vom Fenster weg zur Couch, setzte sich zu seiner Frau und nahm sie in den Arm.
"Lass uns über Abtreibung reden", sagte er dann zögerlich. Maike setzte sich in den Ledersessel und antwortete:
"Wenn es ein Junge wird, wird er Mark heißen, bei einem Mädchen heißt sie Karina." Rainer schloss für einen Moment seine Augen. Dann blickte er auf, drückte seine Frau fester und lächelte. Ja, das war seine Tochter, sie würde ihre Verantwortung übernehmen und sich für das Richtige entscheiden.
Am nächsten Abend kam Rainer von der Arbeit heim und versammelte seine Familie im Wohnzimmer. Er brachte einen Zettel zum Vorschein, auf dem eine ganze Anzahl von Namen aufgelistet waren. Die meisten von ihnen waren durchgestrichen. Maike kannte sie alle.
"Ich habe heute morgen mit dem Schulsekretariat telefoniert und um eine Namensliste gebeten. Auf diesem Zettel sind die Namen derer, die an der Aufführung teilgenommen hatten. Da der übrige Schulbereich für andere Personen abgesperrt war, muss es einer von denen oder der Hausmeister gewesen sein. Die weiblichen Namen habe ich durchgestrichen. Es bleiben zehn Jungen, zwei Lehrer und der Hausmeister.“ Maike fühlte sich unbehaglich, sie ahnte, was ihr Vater vorhatte. Er war Sozialarbeiter von Beruf und glaubte, die Menschen einschätzen zu können.
"Herr Kampe, dein Musiklehrer, was ist er für ein Mensch?"
"Papa!", entgegnete sie ihm entsetzt.
"Nein, Mareike, ich muss wissen, welches Monster dir das angetan hat." Maike hörte die Verzweiflung in seiner Stimme, sie schloss ihre Augen und antwortete.
"Herr Kampe ist neu an unserer Schule. Er ist ein besonders gefühlsbetonter Mensch. Er achtet immer darauf, keinen mit seiner Kritik zu verletzen."
"Ach, das hat nichts zu sagen", sagte Rainer abfällig. "Herr Lichtermann, dein Mathematiklehrer, ich kenne ihn von den Elternsprechtagen. Er ist ein rabiater Kerl." Maike hatte ihren Vater noch nie so unbesonnen erlebt, sie fühlte seinen Schmerz und es trieb ihr die Tränen in ihre Augen. Sie zwang sich, nicht zu weinen. Nicht jetzt! Es würde alles nur noch verschlimmern. "Und deine Mitschüler! Timo Geißler! Das ist doch der Junge, der in der Turnhalle beim Geschlechtsverkehr mit dieser Britta erwischt worden war!"
"Sie sind immer noch zusammen", warf Maike kleinlaut ein.
"Dieser Björn Scheidler ist ein gewissenhafter und ruhiger Junge", fuhr Rainer fort. "aber das will nichts heißen! Wer ist dieser Chris Patrowiczka? Der Name klingt sehr vielsagend.“ Maike erschrak, ihr Vater war nie fremdenfeindlich gewesen.
"Chris ist ein Mädchen, sie heißt eigentlich Christine", beantwortete sie nüchtern die Frage. Ihr Vater grummelte vor sich hin und strich diesen Namen aus.
"Maurice Becker! Ist das wenigstens ein Junge", fragte er weiter und seine Augen schauten seine Tochter verzweifelt an.
"Du kennst Maurice, Papa. Er war hier, als ich ihm Nachhilfe in Englisch gegeben hatte." Maike schaute ihren Vater an. Er tat ihr sehr leid, und sie fragte sich, ob jene Männer, die Frauen vergewaltigen, erahnen können, wie groß das Unheil ist, das sie für ihr kurzes Vergnügen heraufbeschwören. Sie wusste, warum sie geschwiegen hatte. Sie hatte zu Gott gebeten, dass er sie nicht mit einem Kind segnen würde. Sie hatte gehofft, dass es ihr Vater niemals erfahren musste.
"Maurice hat eine seltsame Art, sich zu bedanken", hörte sie ihn sagen.
"Vielleicht sollten wir die Polizei einschalten, Rainer", wandte die Mutter endlich ein.
"Ja", bestätigte ihr Mann. "Dieses Monster muss bestraft werden. Es ist nur sehr schade, dass du dich nicht sofort gemeldet hattest, dann hätte man die Spermaspuren untersuchen lassen können." Seine Stimme klang hart wie Eisen.
"Er wird seine gerechte Strafe schon bekommen", wusste Maike.
"Ja", riefen die Eltern fragend aus, denn sie erwarteten eine Information die nun endlich Licht in die Sache bringen könnte.
"Gott wird sich seiner Bestrafung annehmen", erklärte das Mädchen.
"Gott ist für die irdische Bestrafung nicht zuständig", entgegnete Rainer entmutigt. Maraikes Vater hatte in seinem Beruf schon manches Schlimme mitbekommen; jetzt, wo es seine eigene Tochter betraf, fühlte er sich zum ersten Mal hilflos. Er stemmte sich nach einer Zeit des Schweigens hoch, schaute Maike besorgt an und sagte dann leise: "Maraike! Ich liebe dich!" Damit verließ er das Wohnzimmer. Maike, setzte sich zu ihrer Mutter. Sie brauchte sie nun, denn noch nie zuvor hatte das ihr Vater zu ihr gesagt. Maike weinte, während ihre Mutter sie ganz fest umarmte.
Am nächsten Tag ging Rainer früh aus dem Haus. Es war Samstag, und er wollte diesen kalten Morgen dazu nutzen, einfach mal allein zu sein. Er hatte sonst nie dieses Bedürfnis. Rainer hatte die Überlegung, die Polizei einzuschalten, wieder verworfen. Er hätte es getan, wenn die Chance wesentlich größer gewesen wäre, dieses Scheusal zu fassen. Aber so dachte er, dass seine Tochter nun nicht noch mehr leiden müsste. Es tat ihm weh, das gestand er sich ein. Maike war sein einziges Kind. Seine Frau wäre beinahe ums Leben gekommen, als sie Maike gebar. Sie wuchs behütet auf. Er war immer sehr streng zu ihr gewesen, aber er war sich im Augenblick gar nicht sicher, ob das nötig gewesen war. Seine Tochter war immer darauf bedacht, das Richtige zu tun. Schon früh war das kleine Mädchen an seiner Seite gewesen. Es war immer an den Dingen interessiert, die er machte. Als sie zehn Jahre alt war, hatte er sie mit einem seiner Bücher entdeckt. Sie hatte in den soziologischen Grundthesen gelesen. Natürlich war ihm klar gewesen, dass sie das nicht verstehen konnte, was sie dort las, aber sie wollte es versuchen. Das war die Zeit, in der er mit dem Rauchen aufgehört hatte, denn ihm wurde bewusst, dass Maike vieles von ihm adoptieren würde.
Mit zwölf Jahren hatte seine Tochter das erste Mal nicht zu Hause, sondern bei einer Freundin geschlafen. Er hatte es sich nicht anmerken lassen, wie wenig ihm das gefiel. Er hatte geglaubt, sich zwingen zu müssen, unbesorgt und eher gleichgültig zu wirken, trotzdem hatte er Maike das Schlafen bei einer Freundin erst ein Jahr später wieder erlaubt. Mit fünfzehn Jahren hatte Maike einen Jungen mit nach Hause gebracht und ihren Eltern vorgestellt. Rainer erinnerte sich, es war einer der schlimmsten Momente für ihn. Er hatte da gestanden und nicht gewusst, wie er nun reagieren sollte. Rainer schmunzelte bei dem Gedanken, wie verblüfft er gewesen war, als Maike dann gesagt hatte, dass Frau Nilken, ihre Klassenlehrerin, sie gebeten hätte, Maurice Nachhilfe zu geben. Das aber war trotzdem der Moment für ihn gewesen, sich darauf vorzubereiten, dass seine geliebte Tochter eines Tages gehen würde. Sein kleines Mädchen würde langsam eine Frau werden.
Marianne, Maikes Mutter, hielt sich an diesem kühlen Samstag Morgen in der Küche auf. Sie dachte daran, dass sie gerne ihren Beruf aufgegeben hatte, um für ihre liebe Familie da zu sein. Sie war gerade eine OP-Krankenschwester geworden, als sie endlich mit Maike schwanger wurde. Sie erinnerte sich, dass die Geburt eine problematische Sache gewesen war. Als das Baby auf der Welt war, musste sie noch eine lange Weile im Krankenhaus bleiben. Sie hatte sehr viel Blut verloren.
Sie sah in Maike immer einen besonders mitfühlenden Menschen. Das Mädchen dachte sehr genau darüber nach, bevor sie etwas tat, was einen anderen Menschen eventuell verletzen könnte. Schon oft hatte sich Marianne überlegt, ob Maike so geworden war, weil ihr eigenes Leben bei der Geburt ihrer Tochter in Gefahr gewesen war. Sie kann sich nicht erinnern, dass Maike jemals ein problematisches Kind gewesen war. Sie vergaß niemals, zu fragen, ob sie ihrer Mutter im Haushalt helfen könnte. Sie ging auf die Menschen zu und hatte jedes Mal ein herzliches Lächeln bereit. Manchmal allerdings war Marianne schon ein wenig eifersüchtig gewesen, musste sie sich zugeben. Maike hing sehr an ihrem Vater!
Ihre Tochter würde nun ein Kind bekommen. Marianne freute sich darauf.
Die Monate waren über das Land geflogen. Maikes Bauch war naturgemäß gewachsen. Das Mädchen hatte das von Anfang an nicht versteckt. Sie hatte ihrem Charakter entsprechend offen gezeigt, was sie erwartete. In der Schule hatte es viele interessante Gerüchte und Spekulationen gegeben; das Mädchen war so manches Mal verblüfft über die Fantasie der Menschen gewesen. Sie hatte aber keine der neugierigen Fragen beantwortet. Im Mathematikunterricht hatte Herr Lichtermann einmal wuchtig auf den Tisch geschlagen, als er das Getuschel über Maike mitbekommen hatte. "Wir sind hier nicht im Biologieunterricht", hatte er gebrüllt. Maike hatte geschmunzelt. Toni war der frechste von allen gewesen. "Nun sag schon, wer ist der Vater? Es bleibt auch unter uns Frauen", hatte er gesagt. Maike hatte darüber lachen müssen. Maurice war übernervös gewesen, er glaubte, Maike immer verteidigen zu müssen. Timo und Britta hatten nun oft Maikes Nähe gesucht. Sie hatten sich ihr wohl verbunden gefühlt, so dass Maike sich überlegt hatte, ob Britta vielleicht gerade ein kleines Geheimnis mit sich herumtrüge.
Frau Nilke hatte die Gelegenheit genutzt, eine Aufklärungsstunde zu integrieren und ihre schwangere Schülerin als bekleidetes Anschauungsobjekt zu verwenden. Maike hatte gewusst, dass es von ihrer Klassenlehrerin nicht böse gemeint gewesen war, aber Frau Nilke hatte ein großes Gelächter verursacht, als sie von der Wichtigkeit der Verhütung gesprochen hatte.
Herr Kampe schien der einzige Mensch der ganzen Schule gewesen zu sein, der gar nicht Notiz davon genommen hatte, dass Maike schwanger gewesen war. Maike hatte gedanklich gelächelt bei ihrer Überlegung, in welcher Welt dieser Lehrer wohl lebte.
Einzig Björn schien noch ruhiger geworden zu sein, als er vorher schon gewesen war.
Nun lag Maike im Kreissaal. Ihre Mutter war bei ihr. Es war lange her, dass sie eine Schwesterntracht trug. Maike dachte, vielleicht bekäme ihre Mutter wieder Spaß an ihrem Beruf.
Die Schmerzen schienen unerträglich zu sein, aber das Mädchen ertrug sie tapfer. Sie hörte die schweren Schritte ihres Vaters, die unruhig auf dem Flur draußen auf und ab gingen. Auch wenn Maike sie nicht immer hören konnte, sie wusste, sie waren da. Einige wenige Stunden lang drehte sich die Welt um sie herum, als sei Kirmes. Viele Erinnerungen und Gedanken vermischten sich mit den Rufen des Arztes:
"Pressen, pressen! Schreien sie ruhig, das hilft!" Ihre Mutter hielt ihre Hand auf die Stirn ihrer Tochter.
"Atme tief, mein Liebling."
"Sie soll schreien", rief der Arzt laut Marianne zu. "Sie verkrampft sich sonst zu sehr." Maike schüttelte wild ihren Kopf. Sie wollte nicht schreien. Ihr Vater würde auch nicht schreien. Der Arzt setzte die Saugglocke an. "Das ist unser letzter Versuch", teilte er den Anwesenden mit. Marianne schickte ein schnelles Stoßgebet. Sie bat Gott, er möge ihrer Tochter das Schicksal einer Operation ersparen.
Nach einigen Minuten entspannte ein Babygeschrei die Situation.
"Dir ist kalt, Mark", flüsterte Maike sehr entkräftet und trotzdem lächelnd. "Du bist aber in einer warmen Familie zu Hause!" Dann legte der Arzt den Kleinen auf Maikes Körper.
Rainer brachte wenige Tage später Maike und Enkelkind heim. Maike war wieder einigermaßen bei Kräften. Rainer schaute unentwegt in das kleine Körbchen, in dem der kleine Mark friedlich schlummerte. Marianne musste ihren Mann daran erinnern, dass der Koffer sich nicht allein hochtragen würde.
"Ich muss kurz gehen", sagte Maike zu ihrer Mutter, als ihr Vater mit dem Koffer verschwunden war.
"Ich weiß", antworte sie.
"Du weißt es?", fragte Maike erstaunt. Marianne lächelte.
"Du bist meine Tochter und keine Fremde. Für dich war es immer wichtig, das Richtige zu tun." Maike lächelte zurück, umarmte ihre Mutter und ergriff das Körbchen.
"Ich bin gleich wieder zurück", rief sie beim Gehen.
Maike musste den Bus nehmen, auch wenn die Strecke nicht sehr lang war, so war das Mädchen noch nicht bereit, einen längeren Fußmarsch auf sich zu nehmen. "Das Richtige zu tun", hatte ihre Mutter gesagt. Ihre Mutter kannte Maike wohl besser, als sie geahnt hatte. Das Richtige ist, kein Leben zu zerstören, wenn man es retten kann.
Als sie ankam, stellte sie erst das Körbchen zur Seite und klingelte. Sie blickte durch das Glas der Tür und sah, wer ihr öffnen würde. Schnell brachte sie das Körbchen wieder zum Vorschein.
Björn erschrak und wurde kreidebleich.
"Ich bin gekommen", leitete Maike ein, "um dich zu fragen, ob du deine Verantwortung für unser Kind mittragen wirst."
"Du hast es gewusst?", fragte er stammelnd, und Maikes Stimme klang frostig, als sie knapp antwortete:
"Ja, von Anfang an."