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Das Relikt
Dreihundert Jahre blickte er auf das weite Tal, das umgeben war von steil aufragenden Felsen. Wie das Gebiss eines Raubtieres umfassten sie die Ebene mit ihren zugespitzten Gipfeln und zerklüfteten Kämmen, als griffen sie nach dem Himmel, um die Sterne verschlingen. Alle 15 Segs wanderte ein roter Zwerg über den Horizont und tauchte die Landschaft in ein unwirkliches, dumpfes Licht. Es erschien Kampfeinheit 22, als hätte sich dieses Bild mit den Jahrhunderten zu einem unauslöschlichen Fragment seines Speichers entwickelt. Die Konturen der unregelmäßigen, stechend scharf zulaufenden Gesteinsformationen, die sich schemenhaft gegen den zwielichtigen Hintergrund abhoben, die Unzahl an Gestirnen darüber, die im Laufe der Jahre erneut und erneut ihre immer gleichen Kreisbahnen zogen, und eine blutrote Scheibe, die den bizarren Anblick in regelmäßiger Wiederkehr in gedämpfte Rottöne tauchte.
Die Reste seines zerschossenen Jägers konnte er bisher nicht entdecken. 8,8 Segs lang verfolgte er noch die Materialschlacht über Atair, dann Endete das zuckende Aufleuchten am pechschwarzen Himmel. Auch die abgetrennten Komponenten seiner Einheit konnte er nicht ausmachen. Beides musste sich hinter ihm befinden oder war im Zwielicht nicht zu erkennen. Weder seine Erbauer, noch die Menschen hatten wohl ein Interesse daran gehabt, Material bergen zu wollen. Dort oben gab es schon lange niemanden mehr.
In den nächsten zweihundert Jahren begann der rote Zwerg zu pulsieren und in regelmäßigen Intervallen aufzuflammen. Leuchtend gelbe, kreisrunde Punkte erschienen auf seiner Oberfläche und vermischten sich mit dem blutigen Rot wie Farben, die man ineinander zu Fäden und Schattierungen verrührte. Manchmal warf er gewaltige Schwaden an glühender Materie in den Raum, die in langen Schweifen dahinzogen und den Himmel mit blasser Farbgewalt erfüllten. Dann tobten unbändige Stürme über der Ebene. KE 22 vernahm das schaurige Heulen der aufgepeitschten Atmosphäre und unbändiges Prasseln von Sandkörnern und kleinen Steinen auf seiner Titanhülle. Doch stets kehrte die vollkommene Stille zurück und hinterließ in ihm den Anschein, in der endlosen Leere zwischen zwei Galaxien erstarrt zu sein.
Im 602ten Jahr auf Atair überprüfte KE 22 seinen sekundären Reaktor, der den Kern seines metallischen Schädels bildete, Sensoren und Prozessoren mit Energie versorgte und bei Erfordernis mit einem elektromagnetischen Feld abschirmte. Seine Leistung hatte sich um vierzehn Prozent verringert, was deutlich unter den vorgegebenen Werksparametern lag. Die Energiereserven lagen bei 62 Prozent. Er berechnete seinen Energieverbrauch und seine zu erwartende Existenzdauer, ermittelte die Strahlenbelastung auf Atair und baute den Schutzschirm auf, um seine Funktion zu testen. Eine Analyse seiner noch betriebsbereiten Systeme zeigte keine Fehlleistungen oder weitere Ausfälle auf.
Im Jahr 912 registrierte KE 22 eine beträchtliche Anzahl von Eruptionen auf dem roten Zwerg, die sich wie Perlen auf einer Kette aneinanderreihten und den gesamten Äquator entlangwanderten. Es erschien ihm nicht wie ein natürliches Phänomen, dafür erfolgten die Ausbrüche zu schnell und regelmäßig aufeinander. In einer gigantischen Explosion blähte der Zwerg sich auf zu einem kolossalen Feuerball, der Atair einzuverleiben schien, um ihn mit sich zu reißen in einen Strudel unabänderlicher, endgültiger Auflösung. Doch der brennende Himmel fiel in sich zusammen und hinterließ eine kleine Sonne mit intensiver Leuchtkraft.
Zum ersten Mal konnte KE 22 seine Umgebung detailliert betrachten. Die Ebene war von einem schillernden, blass blauen Eisfeld überzogen, gerade und glatt wie ein ruhiges Meer. Die rötlichen Felsen erschienen wie eine Anhäufung aus bröckeligem Gestein mit bizarren Vorsprüngen, die bei der geringsten Berührung zusammen zu stürzen drohte. Einhundert Meter vor ihm hatte sich ein Flügel seines Jägers in die bläuliche Fläche gebohrt und ragte wie ein pechschwarzer Dorn einsam aus dem flachen, spiegelnden Untergrund. Mit dem Schmelzen des Eises neigte sich der Flügel mehr und mehr zu Seite, um eines Tages mit zähem metallischen Schaben und einem berstenden Schlag auf den Boden zu stürzen.
Die getaute Flüssigkeit sammelte sich in einem Kessel am Horizont und gab einen braunerdigen Untergrund frei. Jahrzehnte jagten regentreibende Stürme wie schwarze Fäuste über das Tal hinweg. Die aufgeladene Atmosphäre entfachte gleißende Entladungen, die wie wirre Netze über die Ebene zogen und wütend brüllend in die Erde stachen. KE 22 erhöhte die Leistungsabgabe für sein Kraftfeld auf das Maximum.
Als die Stürme vergingen, stieg wallender Nebel aus dem Erdreich empor. Mal rollte er in wogenden Wellen über das Tal hinweg, dann wieder schienen seine Schwaden sich ineinander zu verschlingen oder voreinander herzutreiben. Im 1032sten Jahr lichteten sich die Nebelwände und die Sonne erschien wärmend über der Bergkette, die langgezogenen, spitze Schatten über das Tal warf.
Ganz allmählich kroch grüner Bewuchs über das erdige Gelände und eroberte selbst die schattigen Steilhänge der aufragenden Felsen. Die flechtenartige Pflanze veränderte sich ohne Unterlass und immer neue Formen hoben sich dem blauen Himmel entgegen. KE 22 registrierte, das sie ihm schon in wenigen Jahren der freien Sicht über das Tal berauben würden. Dann sah er das Raumschiff.
Seine silberne Außenhaut glitzerte im Sonnenlicht. Geräuschlos schwebte es hinab, fuhr seine Landestützen aus und setzte keine zweihundert Meter entfernt von ihm in der grünen Ebene auf. Die Bauart des Schiffes war nicht in der Datenbank von KE 22 enthalten, doch es schien sich aufgrund der Abmessungen um eine Art Shuttle zu handeln. Er überprüfte seinen Chronometer. Es war sein 1245stes Jahr auf Atair. Seine Datenbanken waren veraltet.
Eine Rampe schwang seitlich an dem gedrungenen Schiff herab und drückte die aufstrebenden Gewächse nieder. Vier Geschöpfe traten aus der sich öffnenden Schleusentür hervor, verharrten auf der Rampe und blickten sich um. Zwei der Lebewesen überragten die anderen beiden Organismen um etwa eine Körperhälfte. Es waren Menschen!
KE 22 fuhr unvermittelt den Reaktor auf Volllast hinauf. Seine Kampfprotokolle wurden aufgerufen und in die Recheneinheit gespeist. Angriff, Verteidigung, Rückzug, Tarnung..., keine der taktischen Vorgaben war für ihn ausführbar. Das Ende der Liste bildeten Beobachtung, Sabotage und Schutz der eigenen Technologie.
„Heute schnuppert ihr das erste Mal die Luft eures neuen Zuhauses“. Karl Bricklayer blickte schmunzelnd auf seine beiden Kinder herab. Der achtjährige Jonathan war ein cleveres Bürschchen und einer der besten Schüler in den bordinternen Unterrichtsklassen. Er würde es hier auf Atair zu etwas bringen. Fünfhundert Jahre nach Beendigung des Krieges wurden nun wirtschaftliche Beziehungen zu den Nga-Voy aufgebaut. Das Misstrauen hatte sich gelegt und es entstanden die ersten Handelspunkte in der entmilitarisierten Zone.
Die vierjährige Mandy war Papas Sonnenschein. Er fasste ihr ans Haar und spürte ihren kleinen Kopf in seiner Handfläche. Ihre blauen Kulleraugen blickten in angespannter Erwartung zu ihm auf. Solche Momente genoss er zutiefst.
„Wird auch mal wieder Zeit für frische Luft.“ Amy Bricklayer erschien aus der Pilotenkanzel. „Die Rampe ist heruntergelassen. Gott, ich kann die ungefilterte Luft jetzt schon riechen.“ Sie schlug Karl mit der flachen Hand sanft auf das Hinterteil und lächelte ihn erheitert an.
Johnathan lachte hell auf und flitzte hastig zur Außenschleuse.
„Kann ich aufmachen, Papa?“ Seine Finger verharrten ungeduldig über der Entsperrtaste.
„Nur entriegeln, John. Wir gehen alle gemeinsam hinaus.“ Karl blickte in die Kulleraugen. „Und du, kleine Dame, machst deinen Schuh zu.“
Amy musste kichern. „Ich nehm die Ausrüstung“, verkündete sie im Plauderton und ging John nach.
Die kleine Mandy schoss wie ein Blitz in die Hocke und fummelte an ihren Schnürsenkeln. Karl Bricklayer verfolgte amüsiert ihre Bemühungen und wartete das Ergebnis ab. „Und los. Suchen wir uns einen hübschen Platz für unser Häuschen.“
Als sie gemeinsam vor der Schleuse standen, wendete er sich Jonhthan zu.
„Du darfst, John.“ Der Junge betätigte den Schalter für die Schleusenöffnung.
Die hereinströmende Luft roch nach Erde und ein wenig nach Pflanzen. Nicht so, wie von der Erde gewohnt, aber auch nicht unangenehm. Ein kleines bisschen süßlich. Amy atmete tief durch die Nase ein und mit einem zufriedenen gehauchten „haaaah“ durch den Mund wieder aus. Karl tat es ihr gleich. Sie traten hinaus auf die Rampe und blickten entspannt über die grüne Ebene.
Die Organismen hatten die Rampe verlassen und bewegten sich vom Schiff fort. Die beiden kleinen Einheiten liefen scheinbar vollkommen ziellos umher, wobei die eine Einheit der Anderen zu folgen schien. Die größeren Exemplare richteten ein dreibeiniges Gestell auf, auf dem sie einen schwarzen, rechteckigen Kasten positionierten. Mehrfach stülpte eine der Einheiten den Kopf gegen das Element und zog ihn wieder zurück. Alle Exemplare schienen unbewaffnet, registrierte KE 22. Die beiden kleineren Einheiten gaben deutlich vernehmbare Geräusche von sich und liefen hektisch umher. Dann bewegten sie sich in Richtung seiner Position und rannten die überwucherte, sanfte Anhöhe zu ihm hinauf. Sie kamen direkt auf ihn zu.
„Ich krieg dich, Mandy“, konnte KE 22 die dünne und helle Stimme der Einheit vernehmen. Die Andere stieß stakkatoartige Laute hervor. Abrupt blieb die kurzhaarige Einheit vor KE 22 stehen und blickte mit offenem Mund auf ihn herab.
„Schau mal Mandy. Ein Kopf“, sprach sie schnaufend.
Die zweite Einheit verharrte neben der Ersten, streifte sich das lange Haar aus dem Gesicht und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
„Er ist ganz schmutzig.“ Das organische Wesen kniete sich in eine kauernde Körperhaltung und betrachtete ihn aufmerksam.
„Wie lange der wohl schon hier liegt?“ Die kurzhaarige Einheit beugte sich zu KE 22 herab und streckte die Arme nach ihm aus.
„Lass ihn liegen. Er sieht böse aus.“ Die langhaarige Einheit schüttelte erregt den Kopf, wendete ihm den Rücken zu und rief: „Papa, Papa.“
KE 22 überlastete seinen Reaktor. Die eigene Technologie durfte unter keinen Umständen in die Hände des Feindes fallen. Er registrierte das hochfrequente Sirren der Überladung. Mit weit geöffneten Augen pressten die Einheiten ihre Hände gegen ihre Köpfe. Die Explosion verwandelte das sonnenüberflutete Tal in eine glutgefüllte Schüssel aus geschmolzenem Gestein.