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Das Reh
"Nur noch fünf Minuten", dachte sich Linda, als der Wecker klingelte. Nach ein paar Anläufen konnte sie sich gegen die Müdigkeit durchzusetzen und rappelte sich aus dem Bett. Zielstrebig steuerte sie die Kaffeemaschine an, ohne dessen Hilfe sie den Tag nicht überstande hätte. Zuvor klopfte sie noch an Louise's Tür und trank danach ihr Morgengetränk. Im Zimmer ihrer Tochter herrschte nach wie vor Totenstille.Hilft alles nichts, dann muss ich eben andere Mittel aufziehen, dachte sich Linda, kippte ihren Kaffee runter, und ging Richtung Louise's Zimmer.
"Guten Morgen, Schätzchen, bist du wach?" Die Antwort blieb aus. Linda fuhr weitere Geschütze auf und zog die Rolladen auf – noch immer keine Reaktion.
"Louise, steh' bitte auf, wir müssen los." Die Antwort blieb nach wie vor aus. Linda zog Louise's Decke weg und ging aus dem Zimmer. Nach kurzem Innehalten hörte sie schon das Gemotze ihrere Tochter. Na also, dachte sie sich, geht doch.
Es war sieben Uhr und für einen gewöhnlichen Arbeitstag waren erstaunlich wenig Autos unterwegs. Das Radio war aus, im Fahrzeuginneren waren nur die Motorengeräusche des Wagen's zu hören. Louise war noch einmal eingeschlafen und lehnte mit dem Kopf an der Autotür. Linda würde es ihr am Liebsten gleich tun.
Das Auto hielt an einem Parkplatz der Grundschule.
"Louise, wir sind da", flüsterte Linda und strich ihrer Tochter die Haare aus dem Gesicht. Die Augenlider des Kindes zogen sich auf und orientierten sich.
"Mama, ich mag nicht in die Schule. Schule ist blöd."
"Schule ist blöd? Wieso ist die Schule denn blöd?"
"Hat Papa auch immer gesagt. Dass Schule blöd ist." Linda überlegte nach einer geschickten Antwort.
"Mama, warum ist Papa nicht mehr bei uns? Warum ist er weggegangen?"
"Naja, er ist weggegangen, weil ..."
"Hat Papa uns nicht lieb?" Diese Frage zerbrach Linda das Herz. Nein, dieses arrogante Arschloch hat uns nicht lieb, lag ihr auf der Zunge. Linda umarmte ihre Tochter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Am Liebsten hätte sie Louise nie mehr aus den Armen gelassen.
"Doch, natürlich hat uns Papa lieb! Er hat nur gerade eine ganz wichtige Arbeit in einer anderen Stadt."
"Warum habt ihr dann immer gestritten?"
"Louise, lass' uns heute Nachmittag nach der Schule über deinen Papa reden, okay?"
"Okay, Mama. Bis später, hab' dich lieb!"
"Ich dich auch mein Schatz." Die Autotür ging auf und Louise rannte nach einem kurzen Abschiedskuss zum Schulegebäude. Heute Nachmittag werde ich ihr von ihrem Papa erzählen, dachte sich Linda und drehte den Zündschlüssel um.
Linda trat aufs Gaspedal, da sie spät dran war. Louise hatte etwas getrödelt und diese Zeit musste sie wieder einzuholen. Die Uhr im Amaturenbrett zeigte bereits halb acht an. Um dreiviertel acht würde die Besprechung losgehen. Wäre sie nicht die, die diese Besprechung leiten müsste, könnte sie es sich erlauben etwas zu spät zu sein. So nicht. Bitte lass' nirgendwo einen Blitzer stehen. Unwillkürlich dachte sie an ihrem Bruder. Sie müsse sich noch bei ihm bedanken, dass er letztes Wochenende auf Louise aufgepasst hatte Vielleicht mit einer Schokolade? Was mochte er noch gleich so gerne? Rum-Traube- Nuss? Ich fahr' einfach nach der Arbeit kurz vorbei und bedanke mich bei ihm. Ist persönlicher als einfach anzurufen.
Hinter ihr drängelte ein anderes Fahrzeug und fuhr sehr nah auf. Ich fahr bereits hundertzwanzig auf der Landstraße, du Vollidiot.
"Nicht aufregen", sagte sie sich, während der Wagen hinter ihr immer weiter auffuhr. Für eine Überholaktion kamen zu viele Autos entgegen. Lichthupe.
Das ist Nötigung, du blödes Arschloch, Linda verzog das Gesicht und dämpfte die Geschwindigkeit leicht. Ihre Augen wanderten erneut zum Rückspiegel, um die Reaktion auf ihre Provokation zu verzeichnen. Der Wagen hinter ihr baute etwas Abstand auf.
Na, hast du es nun verstanden, dachte sie und grinste; die Augen noch immer auf den Rückspiegel gerichtet. Zufrieden fokussierte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Straße und sah direkt in die angsterfüllten Augen eines jungen Rehs.
"Fuck", schrie sie und riss das Steuer herum. Die Räder stellten sich quer und das Auto folgte der neuen Fahrtlinie. Ein lauter Knall. Dunkelheit. Stille.
"Können Sie mich hören", drang eine Stimme, weit entfernt, an ihre Ohren, als würde ihr jemand zurufen. Ein junger Mann zeichnete sich sehr undeutlich vor ihrem Blickfeld ab.
"Du gehst joggen? Wir wollten doch einen Film anschauen.", protestierte seine Freundin Melina, während er seine Laufschuhe band.
"Wir schauen den Film danach, versprochen. Ich hab's bloß gestern nicht mehr geschafft, weil ich länger arbeiten musste."
"Beeil dich aber, ja? Ich warte auf dich." Sie zwinkerte ihm zu und lächelte.
Enis richtete sich auf und flüsterte in ihr Ohr: "Ich bin in einer Dreiviertelstunde wieder da, leg' schon mal den Film ein"
"Mach ich, bis gleich."
"Bis gleich."
Die Dämmerung. Perfektes Laufwetter im Hochsommer. Enis setzte einen Fuß vor den anderen und bemühte sich darum nicht zu schnell los zu laufen. Er überprüfte die Einstellungen auf seinem Smartphone, damit die Route auch wirklich aufgezeichnet wurde. Früher war er immer ohne Hilfsmittel gelaufen, aber mittlerweile gefiel es ihm. Seine neuen Laufschuhe federten auch auf dem Asphalt gut ab, auch wenn sie noch etwas steif waren. Ein paar Routen später müsste er sie eingelaufen haben. Bewusst und lange ausatmen und nicht zu schnell loslaufen. Seiner Meinung nach die zwei wichtigsten Bedingungen für einen gelungenen Lauf.
Endlich Waldboden, dachte er, als er in einen neuen Faunaabschnitt eintrat. Enis lauschte und hörte in den Bäumen Vögel zwitschern. Herrlich. Er schloss kurz die Augen und genoss die Stille, ergänzt durch das Vogelgezwitscher. Seine Joggingrunden waren für ihn wie Medition. Abgesehen von der sportlichen Betätigung bekam er so am Besten den Kopf frei. Die Vögel wurden von Autogeräuschen übertönt.
"Wie idyllisch", murmelte er ironisch. Eine kurze Passage neben der Landstraße ließ sich nicht vermeiden. Ein Reh. Es stand zwischen den Bäumen und fixierte etwas im Unterholz, am Rand der Landstraße. Er blieb kurz stehen. Wie ungewöhnlich. Es war ihm noch nie passiert, dass er bei seiner täglichen Joggingroutine ein Reh sah. Bevor er das Tier außgiebiger beobachten konnte, zog es auch schon weiter. Er tat es dem Reh gleich und setzte seine Runde fort. Ein dünner Ast zerbrach unter seinem Gewicht und zeitgleich brach ein Fahrzeug vor ihm in den Wald hinein. Der Wagen prallte mehrmals vom Boden ab, wodurch er sich des öfteren überschlug. Völlig perplex starrte Enis dem alten Ford nach, erstmal unfähig irgendetwas zu tun.
Was zum Teufel? Ohne langes Zögern rannte er zum Unfallfahrzeug.
Das Auto war ohne Baumkontakt nach mehreren Überschlägen auf den Rädern zum Stehen gekommen. Die Karosserie war stark verbeult, die Seitenfenster zerbrochen und die Windschutzscheibe hing nur noch halbwegs im Rahmen. Als Enis am Unfallwagen ankam und die Frau sah, zog es ihm den Boden unter den Füßen weg.
"Linda!", hörte er sich schreien, während er an der Autotür rüttelte. Seine Knie schlotterten und die Tränen liefen ihm in Strömen aus den Augen. Sie war überzogen von Blut, Prellungen und Schnitten. Der Sicherheitsgurt hatte Bremsspuren an ihren Hals hinterlassen und sie vor der tödlichen, tiefhängenden Windschutzscheibe bewahrt.
Beruhige dich, sie atmet noch, dachte er, auf ihren Brustkorb starrend, der sich zäh hob und senkte. Rasch zog er sein Handy aus der Tasche und wählte die Notrufnummer. Die Augenlider der Frau zogen sich langsam auf.
"Enis", drang es kaum hörbar aus ihrem Mund.
"Ja, ich bin da, Hilfe ist unterwegs", antwortete er und legte seine Hand durch das zerbrochene Fenster auf Ihre. Sie war kalt.
"Hallo, wer ist da?", sagte der Mann am Telefon und riss Enis aus der Situation.
"Enis. Ich möchte einen Unfall melden. Meine Schwester Linda ist auf der Landstraße zwischen Ultaberg und Joishausen von der Straße abgekommen. Ungefähr fünf Kilometer vor Joishausen."
"Ist die Dame ansprechbar?"
"Nicht wirklich."
"Hilfe ist unterwegs, bitte bleiben Sie in der Leitung, bis der Rettungswagen bei Ihnen ist." Enis nickte resigniert, als könnte der Mann am Telefon seine Bewegungen sehen.
"Sind Sie noch da?", fragte der Mann am Telefon nach.
"Ja", sagte Enis und legte das Telefon bei Seite, die Aufmerksamkeit wieder vollkommen auf seine Schwester gerichtet und nicht merkend, dass der Mann am Telefon noch etwas zu sagen hatte.
"Linda", schluchzte er, "der Rettungswagen ist unterwegs und ich bin solange bei dir."
Keine Reaktion. Lindas Augen hatten sich mittlerweile wieder geschlossen. Enis griff durch das Fenster an ihren Hals und fühlte ihren Puls. Ihr Herz gab noch Signale von sich.
"Immer wenn ich mit Louise spiele, erzählt sie mir, wie toll ihre Mutter ist. Louise ist ein sehr ehrliches und aufrichtiges Mädchen", sagte Enis, während seine Hand auf der Ihrigen verweilte, den Kopf durch das Fenster gesteckt, um möglichst nah bei ihr zu sein. Ihr Atem war leicht an seinem Kopf zu spüren, was ihm etwas Sicherheit gab, dass noch nicht alles zu spät war.
"Heute vor einer Wochen habe ich mit ihr noch Verstecken gespielt", fuhr er fort, "obwohl sie sich nur im Haus verstecken durfte, brauchte ich eine gefühlte Ewigkeit sie zu finden." Auf seinem Gesicht zeichnete sich ein verzweifeltes Lächeln ab. An seiner Hand spürte er mittlerweile eisige Kälte. Würde die Autotür nicht klemmen, hätte er sie aus dem Auto geholt und in eine Rettungsdecke gewickelt.
Moment mal! Sofort wandte er sich ab und stolperte zum Kofferraum.
Bitte lass dich öffnen, flehte er.
Gott sei Dank! Er zog den Erste-Hilfe-Kasten heraus und griff gezielt nach der Rettungsdecke. Unbeholfen versuchte er sie durch das Seitenfenster einzuwickeln. In der Ferne hörte er bereits die Sirene des Einsatzfahrzeuges. Finden sie hier her? Soll ich zur Straße vor laufen? Aber ich kann sie doch nicht alleine lassen! Sein Kopf schwenkte schnell zwischen Linda und Straße. Er nahm die Beine in die Hand und rannte Richtung Straße. Auf halben Weg kam ihm bereits einer von drei Männern entgegen.
"Sind Sie Enis?", sagte einer der drei Männer, die angerannt kamen.
"Ja, der bin ich! Bitte helfen Sie meiner Schwester", sagte er und zeigte auf den alten Ford.
Der Sanitäter schritt zum Auto und nahm Linda unter die Lupe. Es dauerte wenige Sekunden, dann drehte er sich zu seinen Kollegen um und schüttelte den Kopf.
"Nein", schrie Enis weinend und stürmte zur Fahrertür. Der Sanitäter ließ ihn nicht durch und hielt ihn fest. Die Worte des Sanitäters kamen nicht bei Enis an. Er sank auf den Boden und krümte sich zusammen, ließ die Tränen fließen, zitterte am ganzen Körper.