Das Regenbogentagebuch
10.01.2016
Hallo! Das ist mein erster Eintrag in dieses Tagebuch und der Zeitpunkt ist denkbar günstig, denn es verändert sich grad viel in unserer Familie, was ich noch nicht so ganz fassen kann. Aber bevor ich hier mit Familienproblemen herausrücke, sollte ich vielleicht erstmal meine Familie und mich vorstellen.
Mein Name ist Mara, ich bin 15 Jahre alt und lebe mit meiner verrückten Patchworkfamilie in Berlin. Zuerst einmal, ich habe zwei Mütter, Charlie und Luisa. Charlie, eigentlich Charlotte, ist meine leibliche Mutter. Ich und mein drei Jahre jüngerer Bruder Alex stammen aus einer früheren Ehe, bevor Charlie erkannte, dass sie lesbisch ist. Wir haben aber keinen Kontakt zu unserem Vater, er will das nicht. Keine Ahnung, wieso, aber es stört mich auch nicht besonders. Ich brauche keinen Vater.
Dann habe ich noch zwei sieben-jährige Brüder, Zwillinge, die Kasper und Jakob heißen. Sie sind durch eine Samenspende entstanden. Luisa ist ihre Mutter, aber ich sehe in ihnen trotzdem richtige Brüder.
Unsere Familienkonstellation ist im Großen und Ganzen nicht schwieriger als bei anderen Familien. Unsere Freunde und Bekannten haben sich ganz gut an die ganze Geschichte gewöhnt.
Doch im Moment verkompliziert sich alles ziemlich. Charlie und Luisa streiten ständig und Alex beginnt, sich auch irgendwie zu verändern. Ständig will er etwas mit mir und meinen Freundinnen machen. Außerdem ist er richtig weinerlich geworden, obwohl er schon 12 ist. Deswegen bin ich echt froh, dass ich zu Weihnachten dieses Tagebuch bekommen habe, wo ich alle meine Gedanken und Sorgen hinein schreiben kann. Ich habe es Regenbogentagebuch getauft, einerseits wegen seinem Regenbogenmuster auf dem Einband und andererseits wegen meiner zweifellos bunten Regenbogenfamilie.
Ich muss Schluss machen, melde mich aber bald wieder!
Bis dann!
27.01.2016
Ich habe wichtige Neuigkeiten! Tut mir übrigens leid, dass ich zwischendurch nicht noch einmal geschrieben hab, es hat sich aber nichts Interessantes zugetragen, außer dass sich die Lage noch etwas verstärkt hat mit Alex. Luisa und Charlie haben jedoch aufgehört zu streiten, sie schienen sogar glücklicher zu sein als vorher. Das hat uns alle ziemlich erleichtert, zumal Jakob und Kasper letzte Woche Geburtstag hatten. Doch ihr Geburtstagswunsch hat es wieder etwas verdorben. Sie wollen nämlich ihren Vater kennenlernen. Den Mann, der die Samen gespendet hat. Luisa hat versucht, es ihnen auszureden. Sie hat mit Charlie argumentiert, die beiden bräuchten doch keinen Vater, sie haben ja zwei Mütter. Doch das hat die beiden nur in ihrem Vorhaben bestärkt. Glücklicherweise haben sie jedoch gesagt, dass sie Charlie trotzdem als ihr zweites Elternteil anerkennen, sie wollen nur die Identität ihres Erzeugers wissen. Sehr weise gesprochen, für acht-jährige Jungen. Trotz dessen will Luisa sie nicht suchen lassen. Deswegen gibt es wieder Streit zwischen ihr und Charlie. Charlie versucht sie zu überzeugen, dass das sehr wichtig für die beiden ist und dass man ihnen solch eine Information nicht vorenthalten darf. Doch Luisa hat Angst, dass sich Jakob und Kasper nach dem Kennenlernen ihres Vaters für ihn und gegen sie und Charlie entscheiden könnten. Ich kann beide Seiten gut verstehen, doch trotzdem unterstütze ich die Entscheidung meiner Brüder. Deswegen helfe ich ihnen auch heimlich, ihren Vater zu finden. Ich hoffe inständig, dass die Suche bald Erfolg hat, sie ist nämlich unglaublich ermüdend, zumal wir alles vor Luisa verbergen müssen.
So, jetzt zur zweiten wichtigen Sache. Ich habe Alex in meinem Zimmer erwischt! Er hat meine Röcke und Kleider anprobiert! Es war ein Schockmoment, als ich ihn inmitten eines Kleiderhaufens in rosarotem Minirock und Top entdeckte. Er hat sich die Kleider vom Leib gerissen, mich entsetzt angeblickt und ist dann in sein Zimmer gerannt. Als ich ihm folgen wollte, musste ich feststellen, dass er abgeschlossen hatte. Das macht er neuerdings oft. Es darf auch niemand mehr sein Zimmer betreten. Ich finde das alles äußerst besorgniserregend. Am liebsten möchte ich mit ihm darüber reden, aber im Moment lässt er niemanden an sich ran. Ich hoffe, das bessert sich bald, denn eigentlich weiß er, dass er mit mir über alles reden kann.
Auf jeden Fall schreib ich wieder, wenn sich irgendetwas ereignet!
22.02.2016
Liebes Tagebuch,
Wir kommen gut voran mit der Vatersuche, da wir jetzt eine heiße Spur haben. Ich bin dafür extra zur Samenbank gefahren und habe so viele Informationen gesammelt, wie ich kriegen konnte. Ein paar Sachen wurden mir jedoch wegen meines Alters vorenthalten, deswegen sind wir noch immer am recherchieren. Mehr davon später. Bis dahin!
04.03.2016
Mehrere wichtige Infos, meine Geschwister betreffend.
Wir haben endlich Kaspers und Jakobs Vater gefunden! Durch intensive Recherche haben wir seine Adresse herausgefunden und ihn in einem Brief um ein Treffen gebeten. Und siehe da: heute ist eine Antwort eingetroffen. Wir gehen ihn nächste Woche besuchen! Beziehungsweise Jakob und Kasper. Ich werde sie nur als wachsamer Schatten begleiten. Nach dem Treffen werden wir alles Charlie und Luisa offenbaren. Das ist nötig und hoffentlich nicht allzu schmerzhaft. Ich jedenfalls wünsche meinen Brüdern Glück!
Und jetzt zu Alex. Vor ein paar Nächten kam Alex in mein Zimmer geschlichen und legte sich neben mich. Und dort, im Schutz der Dunkelheit erfuhr ich das große Geheimnis. Von nun an hatte ich keinen Bruder mehr. Alex fühlt sich im falschen Körper geboren.
Sie ist ein Mädchen.
Anfangs war es ein Schock, aber ich bin stolz auf sie, dass sie es überhaupt jemandem erzählt hat. Ich akzeptiere das alles und versuche, sie so gut es geht zu unterstützen. Das Problem ist nur, dass sie es niemand anderem erzählen möchte. Es ist jedoch viel zu wichtig und gravierend, als dass sie es ewig geheim halten könnte. Ich weiß auch, dass man Hormone in Form von Tabletten nehmen kann, um geschlechtstypische Merkmale zu entwickeln. Doch für solch eine Behandlung müssen Charlie und Luisa davon wissen.
Ich hoffe, Alex überlegt es sich noch anders und erzählt der ganzen Familie davon.
Wenigstens passt der Name auch zu Mädchen, das erleichtert die Umgewöhnung für mich sehr.
10.03.2016
Eben haben wir Jakobs und Kaspers Vater besucht! Es war ein schöner Nachmittag. Der Mann ist wirklich nett und war auch freundlich zu meinen Brüdern. Doch es steht fest, dass die Zwillinge uns niemals wegen diesem Mann verlassen würden! Nicht, dass sie ihn nicht mögen, er ist einfach nicht ihr Typ. Er ist zu schüchtern und höflich. Es wurden zu selten Witze gerissen oder Späße gemacht!
Jetzt müssen wir unsere ganze Verschwörung nur noch Luisa und Charlie erzählen. Ich hoffe, das wird nicht allzu schlimm.
Als wir gerade wieder von dem Besuch zurückkamen, hatte ich eine Eingebung. Ich habe dann lange auf Alex eingeredet, dass sie endlich allen sagt, dass sie transident ist. Ich glaube, das ist unglaublich wichtig. Sie soll aufhören, sich zu verstecken!
Jetzt hoffe ich mal, dass meine Worte Wirkung zeigen.
11.03.2016
Oh Mann, das Gewitter ist losgegangen!
Gestern haben die Zwillinge alles gebeichtet. Da ich ja auch nicht gerade wenig an dem Ganzen beteiligt war, habe ich den Donner auch voll abbekommen. Es ist aber nicht so schlimm geworden wie erst erwartet, da Charlie sich teilweise für uns eingesetzt hat und Luisa schon ziemlich froh war, dass Jakob und Kasper nicht von uns weg wollen. Trotzdem haben wir von beiden Eltern mächtig Ärger bekommen, schon wegen der Tatsache, dass wir heimlich einen fremden Mann besucht haben. „Es hätte ja sonst was passieren können!“ Jetzt herrscht jedenfalls ziemlich angespannte Stimmung, die Erwachsenen scheinen etwas überfordert mit der Situation zu sein, besonders Luisa.
Ich muss jetzt gleich zum Abendbrot nach unten in die Küche… Hoffentlich wird es kein Leichenschmaus!
Eigentlich müsste ich schon im Bett liegen, aber das hier muss jetzt unbedingt noch raus aus meinem Kopf! Außerdem kümmert sich grad sowieso niemand um solche Banalitäten. Denn eben am Abendbrottisch ist Alex mit der Wahrheit herausgerückt.
Charlie war erstmal wie gelähmt, sie hat sich an ihren Kartoffeln verschluckt. Nicht, dass sie Transsexualität irgendwie verurteilen würde, es war einfach ein denkbar schlecht gewählter Zeitpunkt für solch eine Information. Ich glaube, Alex hat sich meine Rede von gestern etwas zu sehr zu Herzen genommen. Außerdem war sie wahrscheinlich zu stark mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, um den Streit von gestern so richtig wahrnehmen zu können. Jedenfalls ist es ihr einfach so herausgerutscht. Alle haben sie angestarrt und bis sich Charlie wieder erholt hatte, hat keiner was gesagt. Dann kam Kasper aus der Ecke und fragte, was das denn ist, Transsexualität. Keiner hat auf ihn geachtet. Deshalb hab ich es ihm dann erklärt, als Charlie und Luisa mit Alex ins Wohnzimmer verschwunden waren. Ich glaube, er hat es nicht so ganz verstanden, und Jakob auch nicht, aber das sollen ihnen Charlie oder Luisa oder Alex selbst erklären. Das Abendbrot war damit beendet und Luisa hat uns alle auf unsere Zimmer geschickt, außer Alex natürlich. So, und jetzt bin ich hier und Alex immer noch unten im Wohnzimmer mit Charlie und Luisa. Ich mache mir aber wenig Sorgen, die beiden sind super entspannt bei solchen Themen. Jetzt ist erstmal schlafen angesagt. Morgen wird sich sicherlich alles klären!
12.03.2016
Der nächste Tag ist da und Alex ist ganz froh, allen von ihrer Transsexualität erzählt zu haben. Da jetzt Wochenende ist, haben alle Zeit, die Fülle an neuen Informationen zu verarbeiten. Charlie und Luisa haben den Zwillingen nochmal erklärt, was Transsexualität überhaupt bedeutet. Daraufhin sind sie zu Alex gegangen, haben sich schweigend vor sie gestellt und dann angefangen zu kichern. Das macht mich wütend. Sie checken nicht, wie ernst die Lage ist und machen sich über Alex lustig! Ich weiß ja, es ist schwierig, wenn man plötzlich keinen Bruder mehr, sondern eine zweite Schwester hat, doch Jakob und vor allem Kasper scheinen sich nicht mal die Mühe zu machen, sich in Alex hineinzuversetzen. Und das Schlimmste ist, dass Luisa und Charlie nichts dagegen unternehmen!! Ich glaube, sie bemerken es nicht mal… Sie sind zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Wie es jetzt weitergehen soll, was sich ändern muss. Ich hoffe, das legt sich alles bald, denn im Moment habe ich das Gefühl, ich bin die Einzige, die sich um Alex kümmert.
15.03.2016
Heute ist eigentlich nichts Spannendes passiert, aber gestern hatte ich keine Kraft mehr zum Schreiben. Und gestern ist Einiges passiert!
Zuerst einmal hatte Alex mich ja vorgestern gebeten, dass ich ihr bunte Strähnen in ihr ansonsten blondes Wuschelhaar färbe. Ich fand das sehr passend, zum Einen, weil sie so ihre Weiblichkeit offen zeigt und zum Anderen, weil der Regenbogen ja für Toleranz und sexuelle Freiheit steht. Also habe ich es sofort gemacht, mit Einwilligung unserer Eltern natürlich. Es sieht übrigens toll aus! Alex hat sich auch wohl gefühlt damit, man hat es ihr angesehen. Doch gestern, als wir in die Schule kamen, wurde sie erstmal von allen komisch angestarrt. Sie hat sich aber nicht unterkriegen lassen – sie ist der mutigste Mensch, den ich kenne – und ist ganz normal zu ihren Freunden gegangen(alles Jungs). Die haben sie auch abschätzig so von der Seite angeguckt. Schon bei diesen Blicken hätte ich in die Luft gehen können! Dann kam die Erklärung von Alex. Darauf kamen wieder merkwürdige Blicke und Kommentare wie: „Und du willst dann immer noch mit uns befreundet sein?“ Als ich das gehört hab, bin ich rüber zu denen und hab gesagt, entweder sie akzeptieren sie so, wie sie ist, oder sie verschwinden ganz schnell um die nächste Ecke. Ich glaube, Alex fand meine Einmischung nicht so toll, aber glücklicherweise hat es fürs Erste gewirkt.
Auch meine Freundinnen haben mich ausgefragt, natürlich, aber sie haben viel entspannter reagiert als Alex‘ Freunde. Da bin ich echt froh drüber. Ich hoffe, dass das bald zur Normalität wird, aber es ist alles auf einem ganz guten Weg.
Wenn wieder etwas Ausschlaggebendes geschieht, schreibe ich!
04.04.2016
Etwas Schreckliches ist geschehen! Es erfüllt mich mit Trauer, dass doch noch so etwas passieren musste! Dabei lief alles so gut! Alex hat angefangen, Pubertätsstopper zu nehmen, damit kein Bartwuchs und Stimmbruch und so weiter eintritt.
Später will sie auch Hormontabletten nehmen.
Und dann mussten ja unbedingt diese Arschlöcher ankommen und Alex eins auf die Nase hauen!
Sie war gerade auf dem Heimweg, ich wollte gleich nachkommen, weil ich noch etwas mit einer Freundin besprechen musste, da hörte ich ihre Schreie! Ein paar Jungen aus meiner Parallelklasse hatten sie hinterrücks angegriffen und schlugen nun von allen Seiten auf sie ein! Und als sie schon am Boden lag, da traten sie nach ihr und beschimpften sie. Ich möchte hier nicht wiederholen, was die gesagt haben, so etwas sollte nicht ausgesprochen werden! Natürlich rannte ich ihr zu Hilfe, mehrere meiner Freundinnen hinterher. Sie haben sofort von ihr abgelassen und sind abgehauen, als sie uns sahen.
Alex lag auf dem Boden, ein blaues Auge, ein gebrochenes Handgelenk und zahllose Prellungen. Ich schwöre es, wenn diese Jungs mir das nächste Mal begegnen, dann bekommt jeder von ihnen den gleichen Schmerz zu spüren, den auch Alex ertragen musste!
26.04.2016
Liebes Tagebuch,
ich habe lange nicht mehr geschrieben. Das lag daran, dass ich keine Zeit hatte. Die Schule ist unglaublich stressig geworden und die Sache mit Alex hat mich sehr beschäftigt. Alex selbst ist aus der Sache mit dem verprügelt werden eher gestärkt hervorgegangen. Sie ist dadurch irgendwie selbstbewusster geworden, als wollte sie der ganzen Welt zeigen, dass sie sich von so etwas nicht unterkriegen lässt! Das hat sie geschafft und ich bin unglaublich stolz auf sie! Wir waren zusammen shoppen. Jetzt hat sie ein paar Röcke und Kleider und Ähnliches. Außerdem trägt sie bunte Ketten und Ohrringe. Das sieht so toll an ihr aus! Ich hab ihr auch etwas geholfen, neue Freundinnen zu finden. Jetzt bildet sich langsam ein Freundeskreis um sie herum, richtige Freunde, die sie in gewisser Weise schützen.
Die Arschlöcher, die Alex verprügelt haben, sind von der Schule geflogen. Ich kann nicht sagen, dass sie mir leid tun…
Insgesamt geht es bergauf und ich denke, das Schwierigste ist überstanden. Und das betrifft sowohl Alex, als auch mich und die restliche Familie.
Bis bald!