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Das Rauschen der Nordsee
Und nun bin ich auf dem Weg zu Oma. Aus dem Radio kommt leise Musik. Bei Papa ist das Radio im Auto nie laut, weil er sich sonst nicht konzentrieren kann, sagt er. Eigentlich motze ich dann immer und drehe die Musik auf, aber heute sage ich nichts. Denn heute bin ich traurig. Ich schaue die Regentropfen, die gegen die Fensterscheibe prasseln, an. Die einen sind gross, die anderen klein, aber alle rinnen gemeinsam die Schiebe hinab. Es sieht aus, als würde die Tropfen ein Rennen führen. Wer am schnellsten am Ende der Scheibe ist.
Papa schickt mich die Herbstferien über zu Oma. Er sagt, er braucht Zeit mit Mama allein, weil es in letzter Zeit zwischen ihnen nicht so gut lief. Ich bete jeden Abend, dass alles wieder gut wird, aber ich glaube nicht, dass sie nach den Herbstferien noch verheiratet sein werden.
Ich schaue an den Tropfen auf der Fensterscheibe vorbei auf die Landschaft. Durch den Regen ist die Sicht verschwommen, die Wälder und Wiesen sehen aus wie mit Wasserfarbe gemalt. Das Wasser zieht mich in seinen Bann, und ich lehne den Kopf an die Scheibe.
Oma ist alt geworden. Ihr ganzes Gesicht ist mit Hunderten von Falten gezeichnet. Sie sieht alt und müde aus, aber in ihren Augen liegt etwas Frisches, Glückliches. So als wäre ihr Leben genauso abgelaufen, wie sie es sich immer gewünscht hatte.
„Niels, mein Junge, ich habe dich schon so lange nicht mehr gesehen!“, ruft sie und drückt mich. So stark, dass ich glaube, sie zerquetscht mich. Dann drückt sie auch Papa. „Hendrik, bleib doch noch ein Weilchen und trink eine Tasse Tee“, sagt sie zu ihm, doch er lehnt ab. Er müsse schnell wieder nach Hause, weil ihm noch so viel Arbeit bevorsteht. Sein verschwörerischer Blick zu Oma entgeht mir nicht. „Machs gut, Niels“, sagt er und streicht mir über den Kopf. Ich antworte nicht. Die ganze Autofahrt lang hab ich kein einziges Wort gesagt.
„Niels. Zwei Wochen sind doch nicht so lange! Ihr werdet bestimmt viel Spass haben, du und Oma.“ Papa versucht mich mit lieben Worten zum Reden zu bringen, ich spüre Omas Lächeln im Nacken. Als er weg ist, setze ich mich noch immer stumm auf einen Stuhl an den Küchentisch. „Möchtest du eine Tasse Tee?“, fragt Oma. „Oder lieber etwas essen?“ Sie ist so wie immer, lieb und fürsorglich, wie eine Grossmutter so ist. „Nein? Lieber ein Spiel spielen?“ Sie ist besorgt, weil ich ihr nicht antworte. Alle denken, ich würde nichts mitbekommen, nur weil ich erst zehn bin. Aber ich bekomme alles mit. Ich bekomme mit, dass Mama und Papa ganz schlimmen Streit haben und, dass Papa nur deswegen so schnell wieder nach Hause ist. Gar nicht wegen seiner Arbeit. Und Oma tut so, als wüsste sie von alldem nichts, aber ich weiss alles. Alles über jeden aus dieser Familie. Und keiner merkt das.
Ich schaue aus dem Küchenfenster. Weit entfernt sehe ich ganz viel Wasser. Mehr Wasser, als in hundert Badewannen Platz hat. Das ist die Nordsee. Und auf dem Fenstersims steht ein kleiner Leuchtturm aus Porzellan. Den gibt es auch in echt, aber vom Küchenfenster aus sieht man ihn nicht. Oma schaut mich an, ich glaube, sie weiss nicht, wie sie mich zum Reden bringen soll.
„Ich würde gerne zum Leuchtturm“, sage ich und deute auf den kleinen Porzellanturm. Sie erfüllt mir den Wunsch, und wir gehen den Weg hinunter zum Strand. Ich trage eine warme Jacke, weil es im Herbst so kalt an der Nordsee ist. Weil kein einziger Sonnenstrahl durch die dicke Wolkendecke dringt. Die Nordsee ist blau und der Himmel ist weiss, und meine Wangen sind rosig von der Kälte. Ich schaue den ganzen Weg lang auf den Boden, halte Omas warme, faltige Hand. Plötzlich bleibt sie stehen und ich schaue auf. Meine Augen weiten sich und in mir breitet sich grosses Staunen aus. Vor uns erstreckt sich ein riesiger blau- weiss gestreifter Leuchtturm, viel grösser als die kleine Porzellanfigur. Daneben wirken Oma und ich wie kleine Käfer. Ich habe das Gefühl, dass in meinen Ohren Musik erklingt. Keine Popsongs. Es klingt wie…klassische Musik. Ein grosser Orchester, das eindrückliche Musik spielt, passend zu diesem eindrücklichen Turm.
Ich weiss nicht, wie lange ich die Mauern des runden Gebäudes anstarre, ich weiss auch nicht, ob Oma in der Zeit etwas zu mir sagt, ich weiss gar nichts mehr, weil der Turm alles aus meinem Kopf getrieben hat.
Als wir wieder in der warmen kleinen Wohnung meiner Oma sind, geht mir der Leuchtturm nicht mehr aus dem Kopf. Die rund angelegten Backsteine, blau-weiss angemalt. Und dahinter erstreckt sich die Nordsee bis ins Nichts. Bis an den Horizont und die Welt dahinter. Ich schmunzle. Papa sagt immer, ich sei so kitschig wie Mama. Ob der Leuchtturm in der Nacht noch beeindruckender ist? Ich muss es wissen. Ich nippe am heissen Tee und schmiede einen Plan. Ich werde es herausfinden. In der morgigen Nacht, wenn Oma längst schläft, werde ich mich aus dem Haust schleichen, um zum Leuchtturm am Strand zu gelangen. Dort kann ich dann auch reingehen und mir alles von innen ansehen. Sie darf es nur nicht erfahren.
„Willst du Monopoly spielen, Niels?“, fragt Oma und ich nicke lächelnd.
In der folgenden Nacht ist es soweit. De Zeiger bewegt sich auf 23 Uhr 30, und ich öffne schlagartig die Augen. In einer halben Stunde ist Mitternacht. Ich schlage die Decke zurück und springe aus dem Bett. Jacke, Schuhe, sowie Schal und Mütze liegen auf meinem Tisch, bereit dazu, angezogen zu werden. Ich muss ganz leise sein, damit Oma mich nicht hört!
Ich schlüpfe so leise wie es geht in meine Klamotten und tappe aus dem Zimmer, versuche, mucksmäuschenstill zu sein. Doch als ich die erste Stufe der Treppe betrete, knarrt es fürchterlich. Ich bekomme einen gewaltigen Schreck und ziehe meinen Fuss sofort wieder zurück. Ich bin so aufgeregt! Dass bloss Oma mich nicht erwischt! Aber den restlichen Weg nach unten schaffe ich ohne irgendeinen Mucks. In der Wohnung ist es stockdunkel, und ich zünde mir mit der Taschenlampe den Weg.
Ich habe die Hand bereits auf der Klinke, als sich plötzlich fünf knochige Finger in meine Haut bohren. Ich werde an der Schulter gepackt und herum gerissen. Jetzt steigen etwa zehntausend Gefühle in mir auf. Sie kommen aus dem Bauch, schlängeln sich an Organen vorbei, durchbrechen meinen Brustkorb und rasen an meinem Herz vorbei in den Kopf. Jetzt wurde ich erwischt.
Ob sie sauer ist? Ob ich nun die ganzen restlichen Tage im Haus bleiben muss? Vielleicht schickt sie mich nach Hause! Da bleibe ich viel lieber hier, als den Riesenstreit zwischen Mama und Papa mitzukriegen.
Ich starre Oma mit aufgerissenen Augen an, ihre Gesichtszüge wirken streng. Doch nach wenigen Sekunden lösen sich die Spannungen auf ihrem Gesicht. Sie sieht plötzlich ganz weich und zart aus. Sie schüttelt den Kopf und nimmt mich in den Arm. „Ach Niels..was kommst du auch immer auf solche Dummheiten..“, murmelt sie. Dann geht sie und zieht Jacke und Schuhe an. „Du wolltest zum Leuchtturm, nicht“, bemerkt sie und nimmt den Schlüssel vom Haken. Woher weiss sie das? Ehe ich nicken kann, ist sie schon zur Tür raus und zieht mich hinter ihr her.
Die Luft an der Nordsee ist kalt. Oma und ich sitzen da, vor uns erstreckt sich die weite See, neben uns schiesst der imposante Turm in die Höhe. „Ich nehme an, du weißt von der baldigen Trennung deiner Eltern“, meint Oma plötzlich. Ich schaue sie an und nicke. „Woher weißt du das alles, Oma?“
Sie schmunzelt. „Ich würde sagen, dass ich seit vierzig Jahren Mutter und seit zehn Jahren Grossmutter bin. Diese Erfahrung reicht aus.“
„Ich fühle mich aussen vor gelassen“, beginne ich und senke den Blick. „Mama und Papa streiten sich nur noch. Das würde auch ein Zweijähriger mitbekommen! Aber sie denken, sie können mich für blöd verkaufen.“
„Eltern wollen oft, dass ihre Kinder durch ihre eigenen Problem nicht belastet werden“, erwidert Oma.
„Nur was soll das bringen? Ich entferne mich immer mehr von ihnen, wenn sie so weiter machen!“
„Hast du Angst?“, fragt sie. „Naja, ein bisschen schon.“ Eine Träne kullert mir über die Wange, und für den Bruchteil einer Sekunde frage ich mich, ob sie wohl durch die Kälte erfrieren kann.
„Dieser Leuchtturm bedeutet für mich irgendwie Stärke, man respektiert ihn und sieht zu ihm auf. Behandelt ihn wie man selbst auch behandelt werden will. Sowas will ich auch“, murmle ich. Oma sagt nichts dazu. Sie lächelt, legt den Arm auf meine Schulter, küsst mich auf die Stirn. Die Wärme ihres Armes drängt sich durch die Jacke und strahlt auf meinen Rücken. Ausser unseren Atemzügen höre ich nichts als die klassische Musik und das Rauschen der Nordsee.