Das Radio mit dem goldenen Herzen
Das Radio mit dem goldenen Herzen
Es war einmal ein Radio, das stand auf einem kleinen Küchentisch in der Wohnung der Familie Eberlein. Jeden Morgen wurde es eingeschaltet wenn Mutter, Vater und Sohn frühstückten. Die Familie hörte die Nachrichten oder etwas Musik, je nachdem ob sich der Vater oder die Mutter durchgesetzt hatte. Der kleine Sohn war noch zu jung, um sich durchzusetzen und löffelte meist in heller Vorfreude auf den Kindergarten sein Müsli.
Das Radio war sehr stolz auf seine Aufgabe. Es war erst vor kurzem gekauft worden und stand nun seit fast einer Woche in der Küche. Davor hatte Familie Eberlein ein sehr altes Radio gehabt, das eines Tages aus der Küche verschwunden war.
Das neue Radio aber wusste nichts davon und spielte die Musik so fröhlich es konnte, verbreitete die Nachrichten so seriös wie möglich und freute sich zusammen mit den Menschen auf das Wochenende, an dem es für viele spielen würde.
"Es war viel zu gut, dieses alte Radio" flüsterte der alte und weise Kühlschrank dem Neuankömmling eines Nachts zu "es hatte ein goldenes Herz, aber die Menschen verstehen uns Maschinen ja nicht. Noch heute fängt meine Pumpe an zu ächzen, wenn ich an diese Geschichte denke.".
Das neue Radio schwieg. Es hielt nicht viel von solch negativen Meinungen über die Familie Eberlein.
Doch am nächsten Morgen, als es wieder spielte waren seine Schaltkreise ganz aufgeregt und es beobachtete alles sehr genau. Wie konnte dieser kleine, strahlende Junge, der mit so viel Hingabe sein Müsli löffelte oder dieser riesige Vater, der immer ein leichtes Lächeln auf der Lippe hatte und nach dem Einschalten einmal zärtlich über sein Display strich, oder gar die Mutter, die den Vater mit einem unendlichen Vorrat von guter Laune vor neuen, unsinnigen und teueren Anschaffungen bewahrte, ein Radio mit einem goldenen Herzen weggeben? Außerdem waren Mutter und Vater Ärzte. Sie halfen täglich anderen Menschen und konnten doch gar nicht in der Lage sein, etwas so furchtbares zu tun.
Solche Gedanken geisterten durch die Platine des neuen Radios, während sein Lautsprecher strahlendes Wetter und ein wenig Ostwind verkündete.
"Es geht so nicht weiter! Ich bin überhaupt nicht mehr bei der Sache. Immer wenn ich eingeschaltet werde, erinnere ich mich an deine Geschichte von dem alten Radio mit dem goldenen Herzen. Bitte. Erzähl sie mir doch" plärrte das neue Radio also eines Tages, als Familie Eberlein gerade nicht zu hause war, dem Kühlschrank zu.
"Hmm" brummte dieser "also gut. Aber du brauchst starke Drähte!".
"Ja ja, die hab ich ganz bestimmt. Ich bin ein Qualitätsprodukt mit über.."
"Ist ja gut" unterbrach es der Kühlschrank mit seiner ruhigen, tiefen Stimme, bei der manchmal sogar der Boden vibrierte "ich werde dir die Geschichte erzählen. Angefangen hat alles mit dem Sohn von Frau und Herr Eberlein. Vor langer Zeit fing er häufig an, fürchterlich laut zu schreien und zu weinen und niemand konnte ihn beruhigen. Das alte Radio bekam jedesmal einen Schreck und dachte, es wäre schuld an dem Unglück. Das stimmte natürlich nicht. Niemand war Schuld. Menschen machen einen solchen Krach, wenn sie klein sind. Das müssen sie, um uns Maschinen zu zeigen, wer der Boss ist. Trotzdem war das alte Radio nicht mehr in der Lage, weiter Musik zu machen und ging einfach aus. Zuerst bemerkten die Menschen nichts, da sie ja damit beschäftigt waren, ihr kleines Baby zu beruhigen. Aber dann ertappte der Vater das alte Radio bei einem erneuten Nervenzusammenbruch. Er verhielt sich allerdings sehr freundlich und verstand, glaube ich, sogar den Zusammenhang. Von da an hatte das alte Radio..."
"Pssst!" rief der Herd "die Menschen kommen zurück".
Sofort verstummten alle, der Kühlschrank hörte auf zu brummen und das neue Radio tat so, als würde es schlafen.
Und so vergingen einige Tage, bis das neue Radio den Kühlschrank weiter löchern konnte.
"Hey, hallo!" rief es jetzt sehr aufgeregt "erzähl mir die Geschichte weiter"
"Wo waren wir denn stehengeblieben?" brummte der Kühlschrank und seine kleinen Lämpchen flackerten ungeduldig. Er verstand die Aufregung der Jugend nicht.
"Das alte Radio war immer ausgegangen und.."
"Ach so, ich weiß es wieder." unterbrach es der Kühlschrank
"Also. Seit diesem Vorfall war das es regelrecht vernarrt in die Menschen und wollte ihnen nur Gutes tun.
Also dachte es sich eine Menge Dinge aus. Zum Beispiel spielte es lauter, wenn ein Lied kam, dass den Menschen gefiel. Oder es wurde leiser, wenn es merkte, dass es bei einer Unterhaltung störte. Es wollte alles tun um den Menschen zu gefallen. Die Menschen bemerkten dies allerdings nicht. Sie wissen ja nicht, was in uns Maschinen vorgeht. Das alte Radio wurde sehr traurig, als es dies feststellte.
"Da strenge ich mich so sehr an, um ihnen das Leben zu erleichtern, und sie merken es noch nicht einmal" sagte es einmal niedergeschlagen zu mir.
"Ich weiß" sagte ich "es ist mir auch schon oft so ergangen und ich habe in meinem langen Leben viele dieser Situationen miterlebt. Die Menschen sind dumm. Sie wissen nichts über uns und solche Anstrengungen sind völlig nutzlos."
Aber ich konnte das alte Radio nicht von seinem Weg abbringen.
"Ich möchte mich gerne altruistisch verhalten" plärrte es jetzt sehr aufgebracht "und wenn die liebe Familie Eberlein nichts davon mitbekommt, dann werde ich mich eben noch mehr anstrengen müssen."
Seit diesem Tag war das alte Radio regelrecht angespornt, es den Menschen immer leichter zu machen. Mit mir aber redete es kein Wort mehr.
Es ließ sich lauter verrückte Dinge einfallen."
Der Kühlschrank schwieg eine Weile und das neue Radio wartete geduldig.
"Nun musst du dazu wissen, dass nicht nur die Menschen uns nicht richtig verstehen, wir Maschinen können sie auch nicht richtig verstehen" fing er wieder an.
"Das alte Radio war besessen. Wenn die Familie sich jetzt unterhielt, spielte es lauter, damit sie es trotzdem hören konnten. Wenn schlechte Nachrichten über Kriege oder dem Konkurs einer Elektronik-Firma kamen, wurde es sehr leise, oder ging gar ganz aus. Es war wirklich traurig zu beobachten, wie es sich selbst zerstörte. Der Vater brachte es sogar einmal zum Elektriker. Aber nichts half. Es wurde jeden Tag schlimmer.
Eines Tages saß die Mutter etwas betrübt am Tisch und schaute zum Fenster hinaus. Draußen war Herbst und die Blätter trieben ziellos im Wind, ein Wenig Regen schlug gegen die Scheibe und der Himmel war voller schwarzer Wolken. Das alte Radio hatte morgens den Wetterbericht gespielt und wusste aus einer Wissenschaftsendung, wie die Menschen auf diese Jahreszeit und das Wetter reagieren. Es schaltete sich ein und spielte irgendeine traurige Musik. Ich fing sofort an zu rumoren, um es davon abzuhalten. Aber es war zu spät. Zuerst merkte die Mutter nichts, aber dann sprang sie erschrocken vom Stuhl auf und stieß das alte Radio vom Tisch.
Das war der Todesstoß. Diese Kränkung überlebte das alte Radio nicht und sein Herz war gebrochen. Es konnte keine Musik mehr spielen und die Menschen brachten es weg. Ich habe es seitdem nie wieder gesehen."
Der Kühlschrank war verstummt. Nur hin und wieder war ein leichtes Ächzen von ihm zu
vernehmen.
Auch das neue Radio schwieg und erst als der Herd anfing zu schluchzen, stimmte es mit ein.
Seit jenem Tag war es sehr vorsichtig, ja geradezu ängstlich. Nur hin und wieder unterhielt es sich mit dem Kühlschrank.
"Es hatte wirklich ein goldenes Herz" sagte es dann.
"Ja, und es war so mutig" stimmte dieser mit ein.
Und so verging fast ein halbes Jahr. An einem schönen Sommertag geschah dann etwas atemberaubendes. Der Vater hatte sich in letzter Zeit offenbar häufig verspätet und die Mutter stellte einen Wecker auf den Küchentisch neben das neue Radio. Er war sofort die Attraktion für die Maschinen und als sie hörten, dass er aus dem Schlafzimmer kam, waren alle sehr interessiert und durchbohrten ihn mit Fragen. Doch irgendwann hatte der Wecker es leid, immer nur zu erzählen.
"Ich möchte auch einmal eine Geschichte von euch hören!" piepste er.
"Er hat ja recht! Wir sind so egozentrisch" murmelte der Herd.
"Wollen wir ihm die von dem Radio mit dem goldenen Herzen erzählen?" brummte der Kühlschrank
"Super Idee, aber lass sie mich erzählen, du machst es immer zu traurig" plärrte das neue Radio.
"Aber, aber" stammelte der Kühlschrank
"Nichts aber, lass es das Radio machen! Es ist schließlich ein Profi" mischte sich der Herd ein.
Und das neue Radio erzählte die Geschichte. Am Ende waren alle sehr traurig, wie jedesmal. Nur der Wecker fing munter an zu piepsen, ja er brach sogar in schallendes Gelächter aus.
"Ach darum! Der alte Geheimniskrämer" piepste er.
Sofort wollten alle wissen, wovon er sprach.
"Ihr müsst wissen, dass im Schlafzimmer genau so ein Radio steht, wie ihr erzählt habt. Es wollte nie damit herausrücken, woher es kommt. Aber es muss dieses alte Radio sein, denn der Vater nennt es "mein kleiner Zauberkasten" und auch die Mutter ist ganz vernarrt in es. Wenn ich das alte Radio nach dem Geheimnis seines Erfolges fragte, kam es mir mit Altruismus und Karma und wollte mir erzählen, dass alles Illusionen seien. Ich hatte mich irgendwann damit abgefunden, dass bei ihm eine Schraube locker ist."
Als das neue Radio dies hörte, fing es augenblicklich an zu singen und auch der Kühlschrank stimmte in einem tiefen Bass mit ein. Nach und nach überwanden sich auch der mürrische Herd und der Wecker und schließlich sang sogar der sehr verschlossene und schweigsame Toaster mit. Als die Familie Eberlein nach Hause kam, grölten alle Maschinen im Chor, der Fernseher zappte wie wild und die Stereoanlage machte die Nachbarn rasend. Wären sie nicht so maschinen-spirituell veranlagt, so hätten sie vermutlich an einen Poltergeist geglaubt. So aber gingen sie nur in das Schlafzimmer und strichen zärtlich über das Display des alten Radios.
© by Olafson, 10.10.02, 1639 Wörter