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Das Rätsel der verschwundenen Schiffe
Es geschah vor langer, langer Zeit auf einem der Weltmeere, die die Erde auch heute noch überziehen.
Die Sonne stand hoch am Himmel und es wehte eine leichte Brise. Das Schiff ‚Poseidon’ mit dem jungen Kai an Bord schipperte langsam auf dem Wasser herum.
„Es weht nicht genügend Wind“, rief der Kapitän ihm zu, der gerade den Steuermann ablöste. „So kommen wir nie voran. Unser Auftraggeber erwartet seine Ware in einer Woche. Je länger wir uns auf See befinden, umso größer ist die Gefahr, dass wir den sicheren Hafen vielleicht niemals mehr sehen werden. Hoffentlich kommt noch ein ordentlicher Wind auf, damit wir an Fahrt gewinnen.“
Kai hatte in einer der Hafenkneipen von Seglern gehört, die mit kostbarer Ladung an Bord ihren Bestimmungsort nie erreicht hatten. In letzter Zeit häuften sich solche Fälle in dieser Gegend. Niemand konnte sagen, was mit den Booten geschah, denn keiner der Besatzungsmitglieder erreichte je wieder festen Boden unter den Füßen. Sie blieben auf ewig verschwunden.
Da war es natürlich, dass der Kapitän nervös wurde und auf dem schnellsten Weg aus diesem Gewässer heraus wollte.
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis der Wind endlich auffrischte und am Horizont sich dunkle Gewitterwolken auftürmten.
„Alle Mann an Bord!“, ertönte der Ruf eines Matrosen aus dem Ausguck.
Trotz des Gewimmels wusste jeder der Männer, was er zu tun hatte, um die ‚Poseidon’ vor einem kräftigen Sturm zu schützen.
Keine Minute zu früh. Binnen kurzer Zeit begann sich das Wasser in riesige vom Wind aufgepeitschte Wellen zu verwandeln. Jetzt hieß es für die Mannschaft Segel einholen, Taue befestigen und vor allem sich selbst gegen die aufbrausende Gischt zu schützen.
Als der Wind schon etwas abflaute, sichtete Kai ein weiteres Schiff, das unkontrolliert auf den Wellen auf und ab tanzte. Die SOS-Flagge war gehisst, aber sonst war von der Besatzung nichts zu sehen.
„Schiff auf backbord!“, schrie der Junge gegen den tosenden Sturm an.
Eilig übernahm der Kapitän das Ruder, drehte nach links und nahm Kurs auf den herrenlos treibenden Zweimaster. Es war schwierig auf gleiche Höhe mit dem hin und her schwankenden Boot zu kommen. Schließlich gelang es die Enterhaken in dessen Planken zu werfen und die ersten Matrosen, angeführt vom Käp’tän, kletterten an Bord.
Keine Menschenseele ließ sich blicken. Alles war pikobello aufgeräumt und festgezurrt.
„Es sieht aus, wie ein Geisterschiff“, flüsterte Kai.
„Geh bitte zurück auf die ‚Poseidon’, mein Junge. Ich will nicht, dass dir etwas passiert oder du dich mit einer Krankheit ansteckst, falls die Mannschaft von der Pest dahingerafft wurde.“
Kai gehorchte und trat den Rückweg an.
Er erreichte gerade die Tür zur Kombüse, als sich ein lautes Geschrei erhob. Sämtliche Luken im fremden Schiff öffneten sich und jede Menge Männer stürmten an Deck. Sie sahen zum Fürchten aus. Ihre Gesichter waren von dichten, langen Bärten bewachsen. Teilweise fehlte ihnen ein Arm oder ein Bein. Wie wild fuchtelten sie mit Krummsäbel und Musketen. Jeder der von der Besatzung in ihre Nähe kam, wurde angegriffen und niedergemetzelt.
Blitzschnell versuchte der Rest von den zurückgebliebenen Matrosen die Enterhaken zu lösen. Einige der Männer setzten das Hauptsegel, drehten es in den Wind und bevor die Seeräuber auf die ‚Poseidon’ überspringen konnten, nahm diese Fahrt auf und verschwand rechtzeitig, ohne dass die gesamte Mannschaft ihr Leben verlor.
Nach zwei Tage endlich erreichten sie den Bestimmungshafen. Überglücklich, mit dem Leben davongekommen zu sein, gingen die Matrosen in die nächste Kneipe.
Auch Kai marschierte mit ihnen. Heute hatten sie das Rätsel um die verschwundenen Schiffe der letzten Monate gelöst.
„Ihr glaubt es kaum“, rief Kai. „Der unbekannte Segler hatte SOS geflaggt. Wir natürlich unseren Kurs geändert, um ihnen zu Hilfe zu kommen. Kaum dass wir an Bord geklettert waren, kamen sie aus allen Löchern, die grauslich aussehenden Piraten. Mit ihren Macheten und Schlagstöcken haben sie unsere Leute niedergeschlagen. Ein paar von uns haben sofort die Segel der ‚Poseidon’ gesetzt. Bei dem fürchterlichen Sturm war das gar nicht so einfach. Das Segeltuch wäre beinahe gerissen und was hätte uns alles passieren können?“
Kai plapperte und plapperte. Dabei dichtete er noch einige grausige Szenen dazu. Doch die Matrosen an der Bar konnten nicht genug bekommen von seinen Erzählungen.
Einer der Männer hörte zwar aufmerksam zu, sagte aber kein Wort. Nachdem er genug erfahren hatte, verließ er die Kneipe und ging hinunter zum Hafen, wo sein Dreimaster, die ‚Dämon’, vor Anker lag.
Endlich hatte er die Gelegenheit, den Seeräuberhäuptling zu schnappen. Vor einigen Monaten hatte sich dieser mit ihm unterhalten, dabei entschlüpfte dem Fremden ein Vorschlag. Wäre es nicht machbar, bei Sturm eine Seenot vorzutäuschen? Die Mannschaft müsse sich dann unter Deck verbergen und wenn die Rettung eintraf, könnte man dann selbst das andere Schiff überfallen.
Es war eine Theorie, die die beiden Männer sich an der Theke ausgedacht hatten. Dass es nun der andere Seemann in Wirklichkeit umsetzte, hatte der Fremde erst erahnt, als immer mehr Boote auf See verschwanden.
Morgen würde er sich seinen Anteil holen.
„Lege dich nie mit dem Teufel an“, brummte der fremde Seemann, setzte die Segel und verließ den Hafen.
Während dessen erreichten die Seeräuber ihre kleine Insel, wo sie sich in Sicherheit fühlten.
„So ein Mist, dass ein Teil der Mannschaft entkommen ist“, knurrte der Anführer. „Sie werden von unserem Trick erzählen und es wird in Zukunft schwer werden, reiche Beute zu machen.“
Mühsam schleppten einige Piraten zwei Kisten an Land, die noch aus einem der anderen Überfälle stammten. Sofort fiel die ganze Meute drüber her.
„Zurück mit euch!“, befahl der Bandenführer und scheuchte seine Leute von den Truhen weg. „Das bleibt, wo es ist. Ihr habt dieses Mal keinen Lohn verdient, denn die kostbaren Waren der ‚Poseidon’ sind uns durch die Lappen gegangen.“
Danach zog er sich mit einem Matrosen in eine zerfallene Hütte zurück, um zu überlegen, wie es weiter gehen sollte.
„Wir müssen uns eine Zeitlang auf der Insel aufhalten. Neue Überfälle sind zu gefährlich“, schlug der Pirat vor.
„Wir haben kaum noch Ware“, knurrte der Räuberhauptmann. „Fidelius wartet im Landesinnern auf neue Schätze, um sie zu veräußern. Er will nächste Woche nach Indien aufbrechen und Gold und Silber mitnehmen.“
„Da muss er halt noch ein bisschen Geduld haben. Das ist besser, als geschnappt zu werden. Sämtliche Mannschaften wissen bestimmt schon von unserem missglückten Überfall. So etwas spricht sich schnell herum.“
„Du musst deinen Kopf ja nicht hinhalten, wenn sich die Lieferung an Fidelius verzögert“, brummte der Anführer.
So ging es noch eine Weile hin und her, ohne dass die Männer zu einer Einigung kamen. Die Nacht brach herein und die Räuber zogen sich in die Hütten zurück, da es leicht zu regnen begann. Man roch bereits, dass ein neues Unwetter in der Luft lag.
Schon im Morgengrauen überzog sich der Himmel mit großen grauen Wolken und der Wind frischte auf.
„Das wäre ein herrlicher Tag, um auf Beutezug zu gehen“, sagte der Piratenhäuptling zu seinen Männern.
„Ich dachte, wir hätten ausgemacht, damit noch eine Weile zu warten?“, bemerkte einer von ihnen.
„Papperlapapp, wer sagt so etwas. Los, Männer, Segel setzen! Wir stechen in See. Es wäre doch gelacht, wenn wir heute keine Reichtümer erbeuten.“
Sofort brach lauter Jubel aus. Die Männer warfen ihre Decken zur Seite und liefen mit Gebrüll zu den kleinen Booten, die sie zum Segler brachten, der in einer verdeckten Bucht ankerte.
Zur gleichen Zeit befand sich auch der Fremde auf dem Meer. Er hatte einige Kisten mit schweren Steinen geladen, um vorzutäuschen, dass er viele Waren mit sich führte.
Ganz allein steuerte er sein Schiff. Er brauchte keine Mannschaft. Wie durch Geisterhand bewegte sich die ‚Dämon’ durch die höher werdenden Wellen. Nur noch einige Meilen, dann war er an der Stelle angelangt, die er sich für sein Unterfangen ausgesucht hatte.
„Hier wirst du mir ins Netz gehen!“, dachte der Fremde laut und legte sich auf die Lauer.
Es dauerte nicht lang, da sah er am Horizont einen Zweimaster auftauchen. Der Sturm wurde stärker und die Gischt peitschte der Mannschaft ins Gesicht. Die SOS-Flagge wurde hochgezogen und gleich darauf war die Mannschaft von Deck verschwunden.
„Du verwendest ja immer noch den gleichen Trick.“ Heimlich lächelte der Mann. „Na warte, dir wird noch Hören und Sehen vergehen, wenn das Spektakel hier beginnt.“
Langsam steuerte er sein Boot auf das Piratenschiff zu, legte längsseits an und kletterte hinüber. Kaum hatte er das Deck betreten, als die Freibeuter hervorkamen, etwas stutzten, weil der Retter nur allein gekommen war und sich dann brüllend auf ihn stürzten.
Plötzlich tauchten wie aus dem Nichts dutzende von Matrosen auf. Es waren die Seelen der überfallenen Seeleute, die bei den Raubzügen ums Leben gekommen waren. Sie hatten ihre menschliche Gestalt wieder angenommen und gingen auf die Widersacher los, nahmen sie fest und brachten sie gefesselt und geknebelt auf die ‚Dämon’. Der Fremde blieb zurück, übernahm das Steuer des Seglers und drehte ab. Der einzige der noch an Bord geblieben war, war der Anführer der Seeräuber. Er hatte sich in der Kombüse verkrochen, als die einfallende Meute aufs Schiff kam. Nun, da er keinen Lärm mehr vernahm, wagte er sich nach oben. Umso erstaunter war er, statt seiner Kumpanen lediglich einen Fremden zu sehen, der am Steuerrad stand und gerade den Kurs änderte.
„W… was ist hier los? W… wer seid Ihr?“, fragte er ganz verdutzt.
„Ihr kennt mich nicht mehr? Vor nicht allzu langer Zeit habt Ihr mit mir in einer Bar gezecht und dabei den Plan für die Überfälle erhalten.“
„Ihr seid das?“
„Ja, ich bin es.“
„Und was wollt Ihr von mir? Ich habe weder Gold noch Edelsteine. Alles was ich habe ist mein nacktes Leben und das meiner Leute. Wo sind die überhaupt?“ Der Häuptling schaute sich um und stellte fest, dass außer dem Fremden und ihm keine Menschenseele zu sehen war.
„Es ist niemand da, Seeräuber. Und wenn du kein Geld hast, dann gibst du mir halt dein Leben“, bestimmte der Mann.
„Wer seid Ihr, dass Ihr so etwas fordern könnt?“
„Ich bin der Teufel! Und ab heute gehörst du mir. Du schuldest mir mehr als dein Leben wert ist. Aber, sei es. Zur Strafe wirst du nie wieder festen Boden unter den Füßen spüren.“
Und so geschah es. Gesehen hat ihn keiner mehr. Nur ab und zu erzählen Seeleute auch heute noch, dass ihnen ein Zweimaster begegnet sei, der wie durch Geisterhand übers Wasser fuhr und an dessen Reling ein wild aussehender Mann stand. Ob das unser Seeräuberhäuptling war?