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Das Puzzle
Als Jürgen die graue Schachtel aus seinem Schrank zog, konnte er sich nicht erinnern, sie jemals gesehen zu haben. Sie war etwas kleiner als ein Schuhkarton und wirkte unscheinbar. Keine Schrift, kein Logo zierte ihre Oberfläche.
Er schüttelte sie und hörte, wie ihr Inhalt raschelte. Er legte seine Stirn in Falten und überlegte, ob sie ihm nicht doch bekannt vorkam. Vielleicht stammte sie aus dem aufgelösten Haushalt seiner Mutter. Sie war vor über drei Jahren gestorben, und damals hatte er viele Dinge, von denen er sich nicht trennen konnte – oder wollte – in seinem Hobbyraum im Keller in verschiedenen Schränken verstaut.
Er trug die Schachtel zu seinem Schreibtisch, öffnete sie und lachte laut auf, als er sah, dass sie unzählige Teile eines Puzzles enthielt.
„Ach du Scheiße“, sagte er und schüttelte den Kopf. In seiner Jugend war er ein begeisterter Puzzler gewesen, doch noch nie hatte er ein Puzzle gemacht, zu dem er das Motiv nicht kannte. Er kramte in der Schachtel und hoffte auf eine Zeichnung oder ein Bild, welches das Motiv zeigen würde, doch die Schachtel enthielt nur die einzelnen Teile.
Vermutlich stammte es tatsächlich aus dem Haushalt seiner Mutter. Vielleicht hatte sie ihm dieses Puzzle irgendwann einmal gekauft, und es war aus irgendeinem Grund in Vergessenheit geraten und in einer grauen Schachtel gelandet. Und so war es irgendwie in Jürgens Hobbyraum gelandet.
In diesem Raum ging Jürgen verschiedenen Hobbys nach – hauptsächlich malte er. Er besaß einen langen, rechtwinkligen Schreibtisch, auf dessen einer Seite sein Computer und seine Musikanlage standen. Die andere Seite enthielt nur ein paar Bücher und gerahmte Bilder von ihm und Kerstin. Er betrachtete die Fläche und schätzte, sie würde für ein etwas größeres Puzzle ausreichen.
Könnte eine interessante Herausforderung werden, dachte er.
Obwohl er sich noch nicht entschlossen hatte, das Puzzle zusammenzusetzen, leerte er aus Neugier die Schachtel auf der Tischfläche aus und begann, die Teile zu sortieren. Er schätzte ihre Anzahl auf etwa 1000. Vor zwanzig Jahren wäre das eine Kleinigkeit für ihn gewesen, obwohl das fehlende Motiv den Schwierigkeitsgrad deutlich steigerte.
Man beginnt immer mit dem Rand, erinnerte er sich.
Er nahm jedes Teil in die Hand und prüfte, ob es zum Rand gehörte. Falls ja, landete es zu seiner Linken, falls nein, legte er es mit der korrekten Seite nach oben zurück in die Mitte. Schon nach kurzer Zeit stellte er fest, dass es sich um ein überwiegend dunkles Motiv handelte. Die meisten Teile waren schwarz oder zumindest sehr dunkel, einige Andere leuchteten dafür in hellem Orange oder Rot.
Könnte schwierig werden. Der rote Teil wird einfach, aber die vielen schwarzen Teile sehen sich so ähnlich.
Die Randteile nach links, der Rest in die Mitte. Die Arbeit war monoton, doch Jürgen stellte fest, dass er immer schneller wurde. Noch immer war er nicht sicher, ob er das Puzzle wirklich zusammensetzen wollte. Eigentlich hatte er an seinem aktuellen Bild weitermalen wollen, doch was sprach dagegen, dem Puzzle eine Chance zu geben?
Es interessierte ihn, welches Motiv am Ende herauskommen würde.
Bei all den schwarzen Teilen.
„Du warst lang im Keller gestern Abend“, sagte Kerstin beim Abendessen am nächsten Tag. Es klang nicht vorwurfsvoll, obwohl Jürgen das erwartet hätte. Sie waren beide berufstätig – er in einer Versicherung, sie in einer Bücherei – so dass sie meist nur den Abend gemeinsam hatten.
„Ja, bin an einem neuen Bild dran“, log Jürgen. Er wollte ihr nichts von dem Puzzle erzählen, so lange er noch nicht sicher war, es auch zu beenden.
Kerstin fragte ihn nicht, was das Bild darstellte. Jürgen fand, sie zeigte immer weniger Interesse an seiner Person. Das Schweigen zwischen ihnen war mittlerweile zu einem ständigen Begleiter geworden, und Jürgen kam es so vor, als wog es immer schwerer. Sie versuchten, seit mehr als einem halben Jahr ein Baby zu bekommen, doch es klappte nicht. Auch wenn Kerstin das niemals gesagt hatte, so vermutete Jürgen, gab sie ihm die Schuld daran.
„Wie läuft die Arbeit?“, fragte er, doch es klang uninteressiert, gezwungen.
„Viel Stress momentan. Matthias hat sich krank gemeldet, da bleibt die ganze Arbeit an mir hängen.“
Jürgen wünschte, er hätte nicht gefragt. Er hatte ihren Kollegen einmal gesehen, einen jungen, sportlichen Mann. Ihm gefiel der Gedanke nicht, dass sie den ganzen Tag zusammen waren, insbesondere jetzt nicht, wo ihre Beziehung eine womöglich ernsthafte Krise durchmachte. Auch ohne konkreten Anlass fühlte er jedes Mal einen Stich im Herz, wenn sie seinen Namen erwähnte.
„Weißt du schon, was du heute Abend im Fernsehen schauen willst?“, fragte ihn Kerstin. Jürgen dachte an das Puzzle im Keller und verspürte auf einmal große Lust – beinahe einen Drang – daran weiterzuarbeiten. Es würde ihn von attraktiven Männern in Kerstins Nähe und unerfüllten Schwangerschaftswünschen ablenken.
„Nein, ich denke, ich werde noch ein wenig malen“, antwortete er.
Kerstin sagte nichts darauf, doch Jürgen fand, das drückte mehr aus als tausend Worte.
Kurze Zeit später setzte er sich wieder an das Puzzle. Er hatte beinahe den kompletten Rand geschafft und wunderte sich, wie schnell er vorankam. In vielen Fällen griff er – trotz des fehlenden Motivs – zielsicher nach den richtigen Teilen.
Nur eine halbe Stunde, sagte er sich. Dann würde er sich zu Kerstin auf das Sofa setzen und mit ihr gemeinsam fernsehen. Vielleicht würden sie sogar ein wenig miteinander sprechen.
Die Arbeit lief flüssig. Jürgens Hände flogen förmlich über die ausgebreiteten Teile, nahmen immer wieder eines davon heraus und setzten es an seinen richtigen Platz. Das Motiv nahm langsam Gestalt an, doch er konnte es noch nicht erkennen. Es enthielt einfach zu viel Schwarz.
Plötzlich spürte er, wie ihm eine Schweißperle die Schläfe hinunterlief. Er empfand seinen Hobbyraum auf einmal als stickig, und er meinte, Motorengeräusche zu hören.
Er richtete sich auf. Motorengeräusche?
Sie waren verschwunden, und er war sicher, sich diese nur eingebildet zu haben. Er musste an ihre Fahrt nach Italien im letzten Sommer zurückdenken, als sie für zwei Wochen auf einen Campingplatz gefahren waren. An das monotone Surren des Motors, während Kerstin geschlafen hatte.
Warum denke ich ausgerechnet jetzt an diese Fahrt?, fragte er sich, doch er ging der Frage nicht weiter nach. Er konzentrierte sich nur auf das Puzzle und dessen Motiv, von dem immer mehr sichtbar wurde.
Da waren Autos. Zwischen den schwarzen Stellen konnte er Autos erkennen. Ein Teil von ihnen wurde sogar durch einen Lichtschimmer erhellt, doch Jürgen konnte die Quelle nicht sehen. An dieser Stelle klaffte noch ein großes Loch. Er sah auch einzelne Menschen. Einige von ihnen waren aus ihren Autos gestiegen und blickten in Richtung der unbekannten Lichtquelle. Ihre Gesichter beunruhigten Jürgen. Sie wirkten -
„Tina! Tina!“
Jürgen schreckte hoch und fegte dabei einige Puzzleteile auf den Boden.
Was war das?
Es hatte sich angehört, als würde ein Mann direkt hinter ihm schreien. Jürgen wirbelte herum und erwartete, einen Mann in seinem Hobbyraum zu sehen. Doch natürlich war da niemand.
Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und stellte fest, dass es schweißüberströmt war. Sein Hemd klebte an seinem Oberkörper, und sein Herz pochte.
Was war das gewesen? Wer hatte da geschrien?
Er blickte auf die Uhr und schluckte. Er hatte beinahe vier Stunden an dem Puzzle gearbeitet. Kerstin war inzwischen bestimmt längst ins Bett gegangen.
„Nicht zu glauben“, flüsterte er. Ein großer Teil der linken Hälfte des Puzzles war fertig. Er zeigte Autos, die mit hoher Geschwindigkeit ineinander gefahren waren. Einige davon waren kaum mehr als Autos zu erkennen, so sehr hatten sich die Wracks ineinander verkeilt. Jürgen sah zerborstene Scheiben und zusammengedrückte Karosserien.
In manchen Autos konnte man vage die Silhouetten von Menschen sehen, doch die meisten – zumindest die Unverletzten – waren ausgestiegen. Einige bluteten, und ein Teil von ihnen beugte sich in die Fahrzeuge, um nach Insassen zu sehen. Andere blickten auf die rechte Seite, wieder andere schienen davor zu flüchten. Zwischen ihnen befanden sich immer wieder große, schwarze Flächen, die das eigentliche Motiv bedeckten.
Jürgen blickte schockiert auf die Gesichter der Menschen, die zu erkennen waren. Sie wiesen alle eine Gemeinsamkeit auf. Sie waren zu Fratzen verzerrt, die wildes Entsetzen, Angst und Panik ausdrückten.
Sie schrien alle.
Am nächsten Tag musste er ununterbrochen an das Puzzle denken. Er hatte leichte Kopfschmerzen bekommen, doch er fieberte dem Moment entgegen, wenn er es beenden und endlich das komplette Motiv würde sehen können.
Kerstin war direkt nach der Arbeit mit Freundinnen ausgegangen, so dass Jürgen kein weiteres, mit unangenehmem Schweigen durchsetztes Abendessen ertragen musste und statt dessen direkt in den Keller gehen konnte.
Er blickte lange auf das Puzzle mit den verängstigten und verletzten Menschen und überlegte, dass es besser sein könnte, es nicht zu beenden. Mit seinen vielen Löchern erinnerte es ihn an ein klaffendes Maul, dem Zähne fehlten. Es war unheimlich, doch es übte gleichzeitig eine düstere Faszination auf ihn aus. Es war wie eine schreckliche Szene in einem Horrorfilm, bei der man sich zwar die Hände vor die Augen geschlagen hatte, gleichzeitig aber durch die Finger lugte, weil man unbedingt sehen musste, was da kam.
Er musste dieses Puzzle beenden. Er musste einfach das komplette Motiv sehen.
Jürgen setzte sich hin, nahm ein weiteres Teil und setzte es beim ersten Versuch an den passenden Platz.
Seine Gedanken schweiften ab, während er puzzelte. Er spürte, wie seine Augen schwerer wurden. In der Ferne meinte er wieder, die Geräusche von fahrenden Autos zu hören. Der Beginn eines Traums? War er dabei, einzuschlafen?
Die Geräusche wurden intensiver, klangen jetzt lauter. Nicht weil sie näher gekommen waren, sondern weil er -
Weil ich durch einen Tunnel fahre, dachte er.
Das eintönige Brummen des Motors wirkte noch einschläfernder. Jürgen schloss seine Augen, doch seine Hände bewegten sich wie in Trance weiter.
Als er das laute Quietschen von Bremsen hörte, riss er seine Augen auf. Er saß immer noch in seiner gewohnten Umgebung, doch es waren fremde Geräusche, die auf ihn hereinbrachen. Für einen Moment hörte er lautes Prasseln und schreiende Menschen. Wieder erklangen Rufe nach einer Tina, doch diesmal waren sie leiser und gingen in dem anderen Lärm unter.
Panik kroch in ihm hoch, sie fühlte sich an wie ein eiskalter Finger, der seinen Rücken entlang strich. Er öffnete den Mund, um selbst zu schreien, um aus diesem Albtraum endlich vollständig zu erwachen.
Dann verstummten die Geräusche um ihn herum. Die einsetzende Stille wirkte bedrückend. Jürgen hörte sein eigenes Keuchen und war sich nicht sicher, ob er selbst auch geschrien hatte.
Er blickte hinunter und sah, dass das Puzzle fertig war. Jetzt sah er, wovor die Menschen flüchteten und woher all die dunklen Stellen kamen.
Das Motiv zeigte einen brennenden Lastwagen und mehrere brennende Autos in einem Tunnel. Andere Autos waren vor dem Feuer zum Stehen gekommen und ineinander gefahren. Die orange-roten Teile gehörten zu Flammen, die aus den Fahrzeugen schossen. Schwarzer Rauch zog durch die schmale Tunnelröhre und verdichtete sich an der Decke.
Einige der Menschen auf dem Motiv flüchteten vor dem Rauch und den Flammen, doch im Prinzip war das aussichtslos.
So wie es aussah hatten sie nicht die geringste Chance.
Er erfuhr es am nächsten Tag aus den Nachrichten, kurz nachdem er von der Arbeit nach Hause gekommen war.
Er hätte überhaupt nicht gehen sollen. Trotz zweier Aspirin hatte er den ganzen Tag Kopfschmerzen gehabt, und immer wieder waren seine Gedanken zu dem Puzzle zurückgekehrt. Im Laufe des Tages war er zum Entschluss gekommen, es wieder zu zerstören. Ein solches Motiv konnte er ohnehin nicht an die Wand hängen. Er glaubte, sich ohne dieses unheimliche Puzzle im Haus wohler zu fühlen. Nachdem er diese Entscheidung getroffen hatte, fühlte er sich besser. Bis er am Abend den Fernseher einschaltete und die Nachricht erfuhr, über die in einer Sondersendung berichtet wurde.
Er blickte mit offenem Mund auf den Fernseher. Seine Knie wurden weich.
Oh nein. Bitte, lieber Gott, nein.
Als Kerstin zu ihm trat und mit wachsendem Entsetzen den Bericht im Fernsehen verfolgte, bemerkte er das kaum.
Es hatte einen Unfall in der Schweiz gegeben. Im Gotthard-Tunnel war aus bislang nicht bekannter Ursache ein Feuer ausgebrochen und hatte den Tunnel innerhalb kürzester Zeit in eine Flammenhölle verwandelt. Jürgen sah Bilder, die vor der Tunnelröhre aufgenommen worden waren. Rettungs- und Feuerwehrwagen verteilten sich vor dem Eingang, aus dem eine dichte Rauchwolke aufstieg.
Es war das reine Inferno.
Aus den Nachrichten erfuhr er, dass die Feuerwehr aufgrund der enormen Hitzewelle nicht zum Brandherd vordringen konnte. Im Tunnel herrschte eine Hitze von über 1000 Grad, und die Behörden gingen von einer hohen zweistelligen Zahl an Opfern aus.
„Meine Güte, Jürgen, da sind wir auch schon durchgefahren“, sagte Kerstin. „Letzten Sommer erst.“
Jürgen nickte beiläufig. Er erinnerte sich an das prasselnde Geräusch, das er am vorigen Abend in seinem Keller gehört hatte. Es war das Geräusch von Flammen, die sich ihren Weg durch den Tunnel bahnten. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass es ein LKW war, in dem das Feuer ausgebrochen worden war.
„Weißt du noch, wie ich gesagt habe, wie gefährlich das ist? Dass es nur eine Röhre für beide Richtungen gibt?“
Jürgen antwortete nicht.
Er dachte an die Menschen, die aus ihren Autos gestiegen waren und panisch versucht hatten, der Hölle zu entkommen. Er dachte an ihre Schreie. Über 1000 Grad. Er fröstelte.
Natürlich konnten noch keine Einzelheiten zu den Opfern veröffentlicht werden, doch Jürgen war sich sicher, dass auch eine Frau oder ein Mädchen namens Tina dabei war.
Spät an diesem Abend ging Jürgen zurück in den Keller. Er kostete ihn viel Überwindung, er wollte keinen weiteren Blick auf das entsetzliche Puzzle werfen. Ein Unfall in einem Tunnel war vermutlich der schlimmste Albtraum eines jeden Autofahrers, ganz zu schweigen von einem Tunnelbrand.
Das Puzzle zeigte einen solchen Unfall, und heute war tatsächlich einer geschehen. Ein Zufall?
Was sonst?
Er weigerte sich, mehr darin zu sehen.
Du hättest den Unfall vielleicht verhindern können. Vielleicht war es eine Warnung.
Klar. Was hätte er tun sollen? Die Behörden verständigen, ihnen das Puzzle zeigen? Ihnen von den Autogeräuschen und Schreien erzählen, die er während des Zusammensetzens gehört hatte? Sie hätten ihn für verrückt erklärt.
Er betrat seinen Hobbyraum und beschloss, an seiner ursprünglichen Idee festzuhalten und das Puzzle zu zerstören. Er wollte es nicht länger im Haus haben. Er würde –
Er bliebt abrupt stehen. Lange blickte er auf das Puzzle auf seinem Schreibtisch und wollte nicht glauben, was er da sah.
Es war nicht mehr zusammengesetzt. Auf dem Tisch lagen nur noch die Einzelteile.
Jürgens Magen zog sich zu einem heißen, schmerzhaften Klumpen zusammen, und er stöhnte.
Sein erster Gedanke war, dass Kerstin es auseinander genommen hatte. Doch das war unmöglich, so etwas würde sie nicht tun. Sie hätte ihn darauf angesprochen.
Hatte er sich das Motiv gestern Abend nur eingebildet? War er vielleicht wirklich eingeschlafen und hatte es niemals zusammengesetzt? Das würde zumindest seine Halluzinationen erklären.
Nein. Unmöglich. Ich habe das Bild gesehen. Da waren Flammen, da waren kaputte Autos, da waren schreiende Menschen.
Er schloss die Augen, versuchte seine rasenden Gedanken unter Kontrolle zu bringen.
Er wollte an seinem Entschluss festhalten und es entsorgen, es nie wieder sehen, weder in Einzelteilen noch zusammengesetzt. Als er die Teile in die Schachtel werfen wollte, sah er, dass es nicht mehr dasselbe Puzzle war. Während das erste Motiv hauptsächlich aus dunklen und einigen roten Teilen bestanden hatte, gab es bei diesem hier viele helle Teile mit verschiedenen Brauntönen.
Was soll das? Was geht hier vor?
Jürgen zögerte. Er blickte auf die Teile. Welches Motiv würden sie wohl ergeben?
Lass es. Denk nicht dran. Wirf es weg.
Wieder fühlte er eine unheimliche Faszination und spürte den Drang, es zusammenzusetzen. Mit unsichtbaren Fingern schienen die Teile nach ihm zu greifen, ihn zu liebkosen, ihn in ihren Bann zu ziehen. Er spürte ein Jucken in seinen Fingern, wollte sie bewegen, wollte die Teile damit zusammensetzen.
Tus nicht. Es ist ein Fehler.
Doch statt auf seine innere Stimme zu hören, setzte er sich auf seinen Stuhl. Wenn das erste Puzzle nur eine Einbildung gewesen war – und es musste eine gewesen sein, das war offensichtlich – dann war das hier das echte Puzzle, das aus dem Nachlass seiner Mutter stammte.
Jürgen fragte sich, was es wohl tatsächlich darstellte.
Er begann, die Teile zu sortieren.
Es war nach Mitternacht, als er sich neben Kerstin ins Bett legte. Er hatte alle Teile sortiert und begonnen, den Rand zusammenzusetzen. Diesmal ohne Einbildungen. Das war ein weiteres Indiz dafür, dass er das Zusammenbauen des Tunnelbrands wirklich nur geträumt hatte.
In dieser Nacht schlief er unruhig. In seinem Traum stand er vor einer verschlossenen Tür, hinter der er ein leises, sich ständig wiederholendes Quietschen hörte.
Am nächsten Morgen fühlte er sich wie gerädert. Sein Kopf pochte, und sein Hals schmerzte beim Schlucken. Er musste sich eine Erkältung eingefangen haben und beschloss, sich heute krank zu melden.
Kerstin hatte Verständnis dafür. „So wie du aussiehst, gehört du wirklich ins Bett“, sagte sie, während sie in der Küche ihr Frühstück vorbereitete. „Kein Wunder, wenn man die halbe Nacht im Keller verbringt. Was machst du da unten denn die ganze Zeit?“
„Bin an meinem neuen Bild dran“, log Jürgen. Er wollte Kerstin nicht von dem Puzzle erzählen, so lange er das Motiv noch nicht kannte. „Aber es war kaum die halbe Nacht. Ich war um halb eins im Bett.“
Er nahm eine Aspirin und spülte sie mit einem Schluck Kaffee hinunter. Das Schlucken bereitete ihm Schmerzen, und er verzog sein Gesicht.
Kerstin lachte trocken. „Ja, und um drei oder so bist du wieder aufgestanden.“
Jürgen blickte sie mit verschlafenen Augen an. „Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst.“
„Bist du jetzt unter die Schlafwandler gegangen, oder was? Du bist heute Nacht gegen drei aufgestanden und erst am frühen Morgen wieder ins Bett gekommen. Du hast doch gemalt, oder?“
Jürgen sagte nichts mehr und blickte seine Freundin mit großen Augen an. Er hatte das Gefühl, er sei zu einer Salzsäule erstarrt.
Sein Kopf pochte und pochte.
„Was?“, fuhr Kerstin ihn an. „Willst du mir erzählen, du würdest dich daran nicht mehr erinnern?“
Er erinnerte sich nicht mehr.
Es war ihm gelungen, Kerstin nicht zu sehr zu beunruhigen, indem er erzählt hatte, er erinnere sich doch, sei aber nicht im Keller gewesen, sondern auf dem Sofa und sei dort vor dem Fernseher eingeschlafen. Sie hatte nicht überzeugt ausgesehen.
Jürgen rief bei seinem Chef an und meldete sich krank. Dann ging er wieder in den Keller.
Das Puzzle war beinahe komplett zusammengesetzt. Jürgen war auf einen solchen Anblick vorbereitet; dennoch erschrak er. Hatte er das wirklich heute Nacht gemacht, ohne sich daran erinnern zu können?
Wenigstens zeigte es diesmal kein Unglück. Es zeigte einen Raum, der seinem Hobbyraum nicht unähnlich war. Die Wände waren aus Kork, und an den Seiten standen Bücherregale. An der Wand hing ein Bild von Wassily Kandinsky. Das Zimmer wirkte warm, gemütlich. Doch er konnte nicht alles sehen – in der Mitte klaffte noch ein großes Loch.
Lass es. Bau es nicht zusammen.
Diesmal schien keine Gefahr davon auszugehen. Es zeigte kein Unglück, und warum sollte es auch? Beim ersten Mal war es schließlich nur ein Traum gewesen.
Es fehlten vielleicht noch hundert Teile. Das war eine Kleinigkeit.
Tu das nicht. Zerstöre es. Wirf es weg.
Es wirkte harmlos. Beinahe schon zu langweilig. Er ignorierte seine innere Stimme erneut, tat sie als Nachwirkung des ersten Puzzle-Traums ab.
Seine Hände griffen wieder zielsicher nach den richtigen Teilen. Irgendwo hörte er ein gleichmäßiges, leises Quietschen, wie in seinem Traum, doch er achtete kaum darauf. Statt dessen blickte er gebannt auf das Motiv, das sich langsam vervollständigte.
Jürgen sah, dass in der Mitte des Raumes eine Person stand. Er hatte die Beine und den Rumpf schon zusammengesetzt. An der Statur erkannte er, dass es der Körper eines Mannes war. Seine Arme hingen schlaff am Körper herunter. Am rechten Handgelenk befanden sich mehrere Armbänder, und Jürgen wunderte sich, weshalb ein Mann mehrere Armbänder –
Er stockte. Sie kamen ihm bekannt vor. Wo hatte er diese Armbänder schon einmal gesehen?
Das Quietschen im Hintergrund wurde lauter.
Es fehlten nur noch ein paar wenige Teile, dann würde er sehen, wer –
Jürgen setzte das letzte Teil an seinen Platz und blickte auf das fertige Bild. Kaltes Entsetzen legte sich über seinen Verstand, und er spürte, wie sich ein Schrei in den Tiefen seiner Kehle bildete. Er wollte schreien, so lang und so laut, bis dieses schreckliche Bild vor ihm verschwinden würde.
Das Puzzle zeigte einen Mann, der ihn direkt anblickte. Seine Augen waren groß und dunkel. Sein Blick wirkte erschöpft, ausgelaugt und traurig. Dieser Blick traf Jürgen mit voller Wucht und schien sich direkt in sein Gehirn zu bohren.
Dann fiel ihm der Hals des Mannes auf. Er war dunkelblau angelaufen und schien geschwollen.
Doch das Schlimmste von allem war, dass er diesen Mann kannte. Es war Matthias Reibmeier, Kerstins Kollege aus der Bücherei.
Sie weckte ihn, als sie in das Schlafzimmer stürmte.
„Jürgen. Jürgen, wach auf.“
Es war früher Abend. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und tauchte das Schlafzimmer in orange-rotes Licht.
Nachdem er das Puzzle beendet hatte, waren seine Kopfschmerzen zu einem unerträglichen Hämmern angewachsen. Nach zwei weiteren Aspirin war er ins Bett gegangen. Jeden Gedanken an das Puzzle oder den seltsamen Umstand, dass es eine bekannte Person zeigte, hatte er beiseite gewischt. Er wollte schlafen, nur noch schlafen.
Jetzt schreckte er hoch. Seine rasenden Kopfschmerzen waren einem entfernten Pochen gewichen.
Kerstin setzte sich zu ihm ans Bett. „Bist du wach?“
Er sah, dass Tränen in ihren weit aufgerissenen Augen standen. Sein Herz machte einen Sprung, und sämtliche Schläfrigkeit wurde aus seinem Körper gejagt.
„Ja. Was ist passiert?“
„Es ist schrecklich. Jürgen, es ist was Schreckliches passiert.“ Ihre Stimme brach beinahe, und Jürgen schoss ein entsetzlicher Verdacht in den Kopf.
„Ist dir was passiert?“ Er packte seine Freundin an den Schultern.
Jetzt liefen Kerstin Tränen über die Wangen. Sie schüttelte den Kopf, und Jürgen fühlte sich zumindest etwas erleichtert. „Nein, das nicht. Es ist ... es ist Matthias.“
Alle Kraft wich aus Jürgens Körper, und er ließ seine Arme langsam sinken.
„Was ist mit ihm?“, fragte er, doch die Frage war überflüssig. Er wusste es, hatte es bereits gewusst, als er an diesem Morgen das letzte Teil an das Puzzle angefügt hatte.
Das ist nicht wahr. Ich wusste nichts. Ich konnte vor lauter Kopfschmerzen nicht mehr klar denken.
„Er ist tot“, sagte Kerstin und schluchzte dabei laut. „Es ist furchtbar. Ich wollte nach der Arbeit schnell bei ihm vorbei, da haben sie ihn –“ Ihre Stimme brach erneut, und sie wischte sich mit der Faust über die Nase und schniefte. „Sie haben ihn aus seiner Wohnung getragen. In einem Sarg. Seine Schwester war auch da, sie hat ihn gefunden. Sie hat gesagt ... sie hat gesagt ...“ Kerstin gelang es kaum, diese Worte über die Lippen zu bringen, doch Jürgen wusste, was sie sagen würde. Er versuchte, sich innerlich dagegen zu wappnen, doch ihre Worte trafen ihn mitten ins Herz.
„Sie hat gesagt, er hat sich umgebracht.“
Kerstin schlug sich die Hände vor ihr Gesicht und weinte hemmungslos.
In dieser Nacht träumte Jürgen erneut von der verschlossenen Tür. Dahinter erklang wieder das leise Quietschen, das immer wieder kurz aussetzte, nur um dann von Neuem zu beginnen.
Er streckte seine Hand aus, doch noch bevor er die Klinke berührte, flog sie auf. Er blickte in einen Raum, den er schon einmal gesehen hatte. Er erkannte die Wände aus Kork, er erkannte das Bild von Wassily Kandinsky. Und er erkannte Matthias Reibmeier, der in der Mitte des Raumes an einem Strick baumelte. Sein Gesicht war blau und aufgedunsen, die Augen geschlossen. Das Seil drehte sich langsam und quietschend von einer Seite auf die andere und ließ den toten Körper immer wieder frontal durch Jürgens Gesichtsfeld schweben.
Er wusste, dass dies ein Traum war, doch diese Erkenntnis konnte sein Entsetzen nicht schmälern. Er wollte schreien, aber sein Mund öffnete sich nur in Zeitlupe.
Plötzlich schlug Matthias die Augen auf und blickte Jürgen an. Auch diesen erschöpften Blick hatte er schon einmal gesehen.
„Tina“, sagte Matthias, doch es war kaum mehr als ein Röcheln. „Tina. Tina.“
Er sagte das wieder und wieder.
Auf einmal veränderte sich sein Gesicht, wurde zu einer Fratze des Zorns. Immer wieder röchelte er nur dieses eine Wort. „Tina. Tina. Tina.“ Dann riss er seine Arme nach oben und die Hände in sein Gesicht, fuhr sich mit seinen Fingern über die Wangen, kratzte blutige Striemen in seine Haut, und schrie immer wieder diesen einen Namen.
„Tina. Tina. Tina.“
Wieder und wieder bohrte er seine Finger in die blutigen Wunden, kratzte immer tiefer, riss sich selbst das Fleisch aus dem Gesicht. Dann knallte die Tür vor Jürgen mit einem lauten Schlag zu, und er wachte auf.
Jürgens Hand zitterte, als er am nächsten Morgen seinen Kaffee trank. Unerträgliche Schmerzen hämmerten in seinem Kopf.
Kerstin war blass, ihre Augen immer noch gerötet. Sie hatte beschlossen, in die Bücherei zu fahren.
„Du solltest zu Hause bleiben“, sagte Jürgen.
„Als ob das irgendwas besser machen würde“, antwortete Kerstin kalt. „Als ob ihn das wieder lebendig machen würde.“
Jürgen sagte nichts. Er wollte, dass sie zu Hause blieb, weil er sich davor fürchtete, wieder in den Keller zu gehen. So lange sie hier war, würde er dem Drang widerstehen können, doch er befürchtete, sobald er allein war, würde es ihn wieder rufen. Doch er hatte kein Ahnung, wie er ihr das hätte erklären sollen.
„Bitte, Kerstin, überleg es dir doch nochmal.“ Seine Stimme war leise, schwach. Er sah immer wieder Matthias' aufgedunsenes Gesicht. Sah, wie er sich das Gesicht zerfetzte.
„Ich glaube nicht, dass es mir gut tut, hier zu bleiben“, sagte Kerstin, und Jürgen wusste nicht, was er von dieser Aussage halten sollte. Ein paar Minuten später war sie verschwunden, und Jürgen spürte, wie seine Finger zu jucken begannen.
Er konnte bis in den frühen Nachmittag widerstehen, doch dann gab er nach.
Er musste sehen, was das Puzzle zeigte. Die Erinnerung daran begann wie ein Traum langsam zu verblassen.
Ohne große Überraschung stellte er fest, dass das Puzzle nicht mehr zusammengesetzt war. Die Teile lagen wieder einzeln auf seinem Tisch.
Vielleicht, weil du es noch nie zusammengebaut hast.
Jürgen fragte sich, ob er durchdrehte, ob er langsam verrückt wurde.
Er überlegte, ob er beide Unglücke ausgelöst hatte, indem er das Puzzle zusammengesetzt hatte.
Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Wirf es endlich weg.
Und wenn es statt des Auslösers eine Warnung gewesen war? Vielleicht wollte ihm das Puzzle – oder eine höhere Macht durch das Puzzle – die Möglichkeit geben, Unglücke zu verhindern?
Matthias Reibmeier konntest du jedenfalls nicht retten.
Vielleicht hätte er es gekonnt. Wenn er es wirklich gewollt hätte. Aber selbst wenn er gewusst hätte, dass das Bild eine Warnung darstellte, und selbst wenn er eine Möglichkeit gesehen hätte, den Mann zu retten – hätte er es getan?
Natürlich hättest du.
Aber er war sich da nicht so sicher. Vielleicht war es besser, diese Frage nicht zu stellen.
Er begann, die Teile in die Hand zu nehmen und in die Schachtel zurück zu legen. Sein Entschluss stand fest, er würde sich endgültig davon trennen. Er konnte nicht riskieren, ein weiteres Unglück auszulösen.
Wirf es weg. Wirf es endlich weg.
Immer wieder füllte er seine Hände mit Einzelteilen und warf sie in die Schachtel. Er sah, dass es wieder ein anderes Motiv war. Die Teile waren erneut überwiegend hell, doch der Anteil von braunen Teilen war geringer. Das Motiv schien bunter zu sein.
Was es wohl darstellte?
Denk nicht dran.
Ein weiteres Unglück, das er auslösen würde?
Denk nicht dran.
Oder eines, das er würde verhindern können?
Denk nicht dran.
Er fuhr fort, die Teile in die Schachtel zu werfen, und wünschte sich, die Stimmen in seinem Kopf würden endlich Ruhe geben. Plötzlich stellte er mit Entsetzen fest, dass er die Teile statt in die Schachtel hinein wieder aus der Schachtel heraus nahm und wieder auf den Tisch warf.
„Nein“, flüsterte er. „Bitte lieber Gott, nein. Ich kann nicht mehr.“
Sein Kopf hämmerte, seine Finger juckten. Es gab nur eine Möglichkeit, diese Schmerzen loszuwerden.
Er setzte sich auf seinen Stuhl und begann zum dritten Mal, die Randteile auszusortieren.
Er würde es einfach zusammenbauen und schauen, was es zeigte. Wenn es wieder ein Unglück war, würde er alles in seiner Macht Stehende tun, um es zu verhindern.
Vergiss es, Jürgen. Du weißt, es ist zu spät.
Er bekam erst mit, dass Kerstin wieder zu Hause war, als sie an die Tür seines Hobbyraumes klopfte. Er schreckte hoch.
„Jürgen?“, rief Kerstin. „Bist du da drin?“
Er konnte sich nicht erinnern, die Tür abgeschlossen zu haben. Aber er durfte sich jetzt nicht unterbrechen lassen. Er musste sich beeilen. Je schneller das Puzzle fertig war, umso besser. Er musste einfach sehen, was es darstellte.
Er antwortete nicht, nahm statt dessen ein weiteres Teil und setzte es an seinen Platz. Das Motiv schien ein Büro darzustellen. Er sah Ansätze eines Regals und eines Schreibtisches. Noch wirkte es harmlos, doch Jürgen wusste, dass es das nicht war.
„Jürgen?“ Es klang jetzt drängender, und Kerstin rüttelte an der Tür. „Jürgen, wenn du da bist, mach die Tür auf.“
Wie im Wahn nahm Jürgen ein Teil nach dem Anderen. Das Regal wuchs in die Höhe.
„Jürgen, warum machst du nicht auf?“ Ihre Stimme war jetzt leiser, und er hörte, dass sie weinte.
Ich würde gern öffnen, Kerstin, dachte er. Aber es geht nicht. Ich muss das hier erst fertig machen. Ich muss erst sehen, was es diesmal zeigt.
Nach einiger Zeit verschwand Kerstin wieder, und Jürgen arbeitete weiter. Er setzte weitere Teile an das Puzzle und sah, dass es sich um ein Bücherregal handelte. Für ein normales Zimmer war es sehr untypisch, fast zu groß. Bücherregale dieser Art fand man eher in Buchhandlungen.
Oder in Büchereien.
Er arbeitete bis in den frühen Morgen.
Er konnte sich nicht an alle Einzelheiten erinnern und vermutete, manchmal eingeschlafen zu sein. Allerdings hatte er das Gefühl gehabt, seine Hände seien ständig in Bewegung gewesen, selbst als er schlief. Für Jürgen spielte das keine Rolle mehr. Wichtig war, dass seine Kopfschmerzen verschwunden waren, und wichtig war, dass er das Motiv möglichst schnell erkennen konnte.
Um kurz vor acht Uhr am Morgen war es beinahe geschafft.
Das Motiv zeigte das Innere einer Bücherei. Im Vordergrund standen zwei Schreibtische hinter einer kleinen Theke, im Hintergrund waren Regale voller Bücher zu sehen.
Jürgen kannte diesen Ort.
An einem der Schreibtische saß eine Person, eine Andere stand links daneben. Es war ähnlich wie bei Matthias – die Gesichter der Personen waren das Letzte, was er zusammensetzte. Weil es das Puzzle so wollte.
Es waren noch etwa fünfzehn Teile übrig.
Jürgen begann mit der Person neben dem Schreibtisch. Er setzte das Gesicht zusammen und erkannte zu seinem großen Entsetzen, dass es sein Eigenes war. Es war zu einem Schrei verzerrt und blickte auf die Person am Schreibtisch hinunter.
Was soll das?
Er wusste jetzt, dass er einen Fehler gemacht hatte. Doch es war zu spät, er musste auch sehen, wer die andere Person war – auch wenn er es bereits wusste. Doch er musste sie sehen.
Mit zitternder Hand setzte er die letzten fünf Teile an das Puzzle und sprang auf.
Die Person, die am Schreibtisch saß, war Kerstin. Sie lächelte, obwohl sie auf dem Puzzle nur ein Auge hatte. An der Stelle ihres rechten Auges klaffte ein dunkles Loch.
„Nein“, brüllte Jürgen und fegte das Puzzle auf den Boden. Die meisten Teile blieben ineinander verkeilt.
Kerstin. Wo war sie? Gestern Abend wollte er ihr nicht aufmachen, doch wo war sie jetzt?
„Kerstin“, rief er und rannte nach oben. Das Haus war still. Er rannte ins Schlafzimmer, doch da war sie nicht. War sie etwa schon –
Jürgen rannte zurück in die Küche und sah den Zettel, den Kerstin ihm auf dem Tisch zurückgelassen hatte.
Jürgen, bin zur Arbeit gefahren. Ich weiß nicht, wo du bist. Falls du mich verlassen hast, sag mir das bitte. Ich hoffe du liest diese Nachricht. Gruß, Kerstin.
Sie war in der Bücherei. Er schrie erneut auf.
Dann rannte er nach draußen, sprang in seinen Wagen und fuhr zu Kerstins Arbeitsplatz.
Die Bücherei hatte um diese Uhrzeit – es war kurz nach acht – noch nicht viele Besucher. Auf dem Parkplatz davor standen nur zwei Autos.
Jürgen hörte ein leises Ticken in seinem Kopf. Die Zeit lief ab.
Er stürmte in das Gebäude. Im Erdgeschoss konnte er nicht einen Besucher sehen, doch dafür entdeckte er Kerstin. Sie saß hinter der Ausgabetheke an einem Schreibtisch und blätterte in einem Ordner. Es ging ihr gut, und Jürgen fiel ein Stein vom Herzen.
Es war dieser Schreibtisch, den das Puzzle dargestellt hatte.
„Kerstin“, rief er, und sein Schrei klang ungewöhnlich laut und fremd in diesem Gebäude.
Sie blickte hoch, und ihr Ausdruck entwickelte sich von erschreckt über verblüfft zu verärgert. Jürgen rannte hinter die Theke. Kerstin stand auf.
„Was machst du hier?“
„Mein Gott, bin ich froh, dass es dir gut geht“, sagte er und keuchte. Er wollte ihren Arm fassen, doch sie zog ihn zurück.
„Lass das. Wo warst du, verdammt nochmal?“
„Das erzähl ich dir später. Komm jetzt mit. Wir müssen uns in Sicherheit bringen.“
„Was?“
Er sah, dass auf dem Schreibtisch, der ihrem gegenüberstand, eine einsame rote Rose lag.
„Hör zu Kerstin, jetzt ist keine Zeit für Erklärungen. Ich weiß nicht, was passiert, aber etwas wird passieren. Und es wird hier passieren. Wir müssen verschwinden.“
Wieder griff er nach ihrem Arm.
„Lass mich los“, rief sie wieder. „Ich gehe nirgendwo mit. Was ist los mit dir? Erklär mir lieber, wo du heute Nacht warst. Ich hab mir riesige Sorgen gemacht. Wie kannst du mich nur allein lassen, ohne mir zu sagen, wo du –“
„Kerstin Merkel?“
Jürgen drehte sich überrascht um. Vor der Theke stand eine ganz in Schwarz gekleidete Frau, vermutlich eine Besucherin. Sie war bleich und wirkte erschöpft. Sie musste die Bücherei nach ihm betreten haben, denn eben war sie noch nicht hier gewesen. Vielleicht hatte sie in einem der Autos auf dem Parkplatz gesessen.
„Ja?“ Auch Kerstin blickte die Frau verblüfft an. Sie schien sie nicht zu kennen.
Die Frau zog ihre rechte Hand aus der Tasche ihres Mantels, und Jürgen sah, dass sie eine Pistole umklammerte. Sie richtete die Mündung auf Kerstin.
„Verdammt, was soll das? Packen Sie die weg!“ Er spürte, wie Adrenalin in seine Blutbahn gepumpt wurde. Das Licht war auf einmal viel greller, jedes Geräusch viel deutlicher. Er stellte sich schützend vor Kerstin und spürte ihren heißen Atem in seinem Nacken.
„Mein Name ist Julia Frentzen, und ich bin die Verlobte von Matthias Reibmeier.“
Kerstin sog laut hörbar Luft ein und begann panisch zu sprechen. „Hören Sie, es war vorbei. Ich wollte das nicht, ich wollte das nicht, ich hab ihm gesagt dass es vorbei war.“
Vor Jürgens innerem Augen fügten sich Bilder wie die Teile eines Puzzles zusammen. Kerstins leuchtende Augen, wenn sie von Matthias sprach. Die Abende, die sie angeblich gemeinsam mit ihren Freundinnen verbrachte. Die Tatsache, dass sie vorgestern nach der Arbeit zu seiner Wohnung gefahren war.
War da doch mehr gewesen?
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er wusste nicht, was. Er wollte etwas Beruhigendes sagen, etwas, das die Situation entschärfen würde, doch ihm fiel nichts ein.
Dann drückte die Frau ab. Jürgen sah das Mündungsfeuer. Der Knall war ohrenbetäubend laut, und er spürte, wie dicht an seinem rechten Ohr etwas vorbei zischte.
„Nein“, rief er und wirbelte herum. Kerstin sackte zusammen. Die Kugel war durch ihr rechtes Auge in ihren Kopf eingedrungen. Er konnte in das Loch sehen, doch darin war es dunkel. Wie in einem Tunnel, wenn die Lichter ausgingen.
„Nein“, schrie er erneut und rechnete damit, jeden Moment aufzuwachen. Das konnte nur ein Albtraum sein.
Er kniete sich neben sie, wollte sie berühren, doch er hatte Angst, ihr weh zu tun.
Er drehte sich zu der Frau um. Ihr Blick war kalt und völlig ausdruckslos. Jürgen hörte sich selbst schreien. Er sprang auf und stürzte auf die Frau mit der Pistole zu. Er sah, wie sie die Waffe hob und auf ihn richtete. Er war so langsam, so unendlich langsam.
Sein letzter Gedanke galt dem Puzzle in seinem Hobbyraum. Er wusste, dass es jetzt nicht mehr zusammengesetzt war und wünschte sich, es niemals angefasst zu haben.
Was hätte das geändert?
Dann sah er erneut das Mündungsfeuer aufblitzen, doch den Knall dazu hörte er nicht mehr.
Alexander setzte sich an seinen Esstisch.
Er war betrunken, doch es war nicht so schlimm wie an manch anderen Tagen der vergangenen Monate. Seit sein Bruder und dessen Freundin bei einem Amoklauf ums Leben gekommen waren, hatte er den Halt verloren.
Er schlug die Hände vor das Gesicht, atmete schwer.
Wieder und wieder fragte er sich, warum Jürgen an diesem Tag in der Bücherei gewesen war, doch er konnte sich keinen Grund vorstellen. Er war an dem Tag krank gewesen und nicht zur Arbeit gefahren, doch das war alles, was Alexander wusste.
Es gab einen Zusammenhang zwischen der verrückten Frau und Kerstin. Ihr Verlobter war Kerstins Kollege gewesen, der sich zwei Tage zuvor das Leben genommen hatte. Mehr wusste Alex nicht, der Rest war reine Spekulation. Die Frau konnte er nicht mehr fragen, da sie sich am Ende selbst eine Kugel in den Kopf geschossen hatte.
Er nahm seine Hände nach unten und griff nach der grauen Schachtel, die vor ihm stand.
Er konnte sich nicht erinnern, sie jemals gesehen zu haben. Sie musste zu Jürgens Sachen gehören. Bei der Räumung seines Hauses hatte er viele davon abgeholt. Die Schachtel enthielt ein Puzzle, doch kein Bild des Motivs. In seiner Jugend war Jürgen begeisterter Puzzler gewesen, doch Alex hätte nicht gedacht, dass er sie bis zuletzt gern gemacht hatte.
Vielleicht würde es ihn ablenken. Ein Versuch konnte sicher nicht schaden.
Er breitete die Teile auf seinem Esstisch aus. Die meisten zeigten verschiedene Blautöne, und Alex vermutete, sie stellten eine Unterwasserwelt dar. Er liebte Unterwasserwelten, war selbst begeisterter Sporttaucher. Seit Jürgens und Kerstins Tod war er nicht mehr im Wasser gewesen, aber sehr bald würde er wieder tauchen. Das Leben musste weitergehen, das sagte jedenfalls sein Psychologe.
Alex kannte sich nicht aus mit Puzzles, doch es war sicher eine gute Idee, mit dem Rand zu beginnen. Er fing an, die Randteile auszusortieren.
Und fragte sich, was das fertige Puzzle wohl darstellen würde.