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Das Projekt
Das Projekt (überarbeitet 29.01.04)
1. Das Konzept
„Geschafft“ – eigentlich wollte er das jubeln – heraustrompeten – der ganzen Welt kundtun. Eigentlich. Warum nur eigentlich? Hatte er sich nicht seit langer Zeit intensiv auf diesen Moment vorbereitet, hart dafür gearbeitet? Hatte er sich nicht immer auf diesen Moment gefreut, ja, sogar manchmal davon geträumt? Im Traum sah er sich als lächelnden Sieger. Nach außen zwar bescheiden die Ovationen abwehrend – innerlich aber stolz und mit geschwellter Brust. Am Morgen danach war er jeweils schweißgebadet – so wie andere aus einem Angsttraum aufwachen. Für ihn war es aber niemals Angst. Diese Träume beflügelten ihn, ließen Adrenalin in seine Blutbahn schießen.
„Geschafft“ – jetzt erschien ihm plötzlich alles wie selbstverständlich. Es ist doch nur natürlich, dass er dieses Projekt bekam. Oder treffender ausgedrückt: Für ihn war es logisch, war es einfach folgerichtig. So musste es kommen. So hatte er es kalkuliert. Und kalkulieren war seine Stärke. Nicht unbedingt das Kalkulieren mit Zahlen und Werten; dafür hat man ja heute Computer. Viel mehr das Kalkulieren von Ereignissen. In der Beantwortung von Fragen des Typs „was passiert, wenn....“ vollbringt er regelmäßig verblüffende Leistungen. Schon in der Schule und erst recht später an der Hochschule beneideten ihn seine Freunde um diese Fähigkeit. Seine Feinde natürlich umso mehr. Und die Anzahl der Feinde wuchs mit jedem Jahr. Und sie wird wahrscheinlich weiter wachsen. Wie heißt doch das Sprichwort? – „Viel Feind, viel Ehr“. Eigentlich recht altmodisch, aber trotzdem glitt ihm ein Lächeln über die Lippen. Ganz leicht und unkontrolliert.
Ja. Jetzt war es geschafft. Zwar bekam er die Zusage für das Projekt erst mündlich. Eben – vor einigen Minuten. Aus dem Munde des höchsten Chefs des Konzerns. Es waren im Grunde keine überwältigenden Worte. Er sagte nur: „Sie werden das Projekt realisieren“. Dabei sah er ihn ernsthaft und auch etwas herausfordernd an. Oder war es eher Provokation, was da in seinen Augen blitzte? Er, „der Alte“, wie ihn seine Mitarbeiter nannten, wenn sie in der Pause beim Kaffee saßen, war eigentlich immer dagegen. Seine jüngeren Kollegen in der Führungsmannschaft hatten ihn überstimmt. Er wollte natürlich auch eine Reorganisation des Unternehmens. Klar. Das war offensichtlich. Das musste sein. Aber bitte nicht so radikal, nicht so schnell. Der Alte hätte sich gern mehr Zeit gelassen. Nach Möglichkeit bis zu seiner Pensionierung. Und nach seiner „Flucht“ in den Ruhestand dann die Sintflut. So wäre es ihm recht gewesen.
„Sie werden das Projekt realisieren“. Natürlich wird das Peter, der redegewandte Berater erledigen. Es war in der Theorie alles bestens vorbereitet. Seine letzte Präsentation heute vor dem Direktorium des Konzerns war der eigentliche Höhepunkt in einer ganzen Reihe von Präsentationen. Er hat diesen Höhepunkt regelrecht inszeniert, sich von Termin zu Termin gesteigert. Alle möglichen Einwände gegen sein Konzept hatte er im voraus sorgfältig durchdacht, katalogisiert und seine Gegenargumente wie spitze Pfeile in seinen Köcher gelegt. Bereit zum Abschuss. So hatte er es gelernt an der Uni. Einwände im Keime gleich ersticken. Nicht groß werden lassen. Diese Devise hatte man ihm eingetrichtert. Und er hat sie angenommen, denn sie war für ihn sinnvoll, nachvollziehbar und logisch. Im Laufe der Jahre wurde ihm diese Devise wie eine zweite Haut. Sie war untrennbar mit ihm verbunden. Peter Bircher brillierte bei seiner letzten großen Arbeit an der Hochschule damit. Jetzt ist er Dr. Peter Bircher. Er ließ gleich am nächsten Tag neue Visitenkarten drucken. Den zweiten Vornamen, den er sich während des Studiums in den USA nach amerikanischer Sitte zulegte, druckte er gleich dazu auf die neuen Visitenkarten: Dr. Peter Joe Bircher.
Die ersten Arbeiten für dieses Projekt erledigte Dr. Peter Joe Bircher fast nebenher. Es war mehr Sport als Arbeit. Fast so etwas wie eine Denksportaufgabe. Wenn er in seinem Wagen unterwegs war, sprach er oft „Gedankenblitze“, wie er es nannte, in sein kleines Diktiergerät, das er immer mit sich führte. Allmählich verdichteten sich diese einzelnen Gedanken – jeder für sich genial – zu einem Konzept. Am Konzept wurde gefeilt. Ideen wurden verworfen und durch andere ersetzt, wuchsen zusammen, bekamen eine Linie. In den späteren Phasen der Vorbereitung hielt Peter dieses Konzept oft wie ein Ball in seinen Händen. Er drehte und wendete es. Er musste jeden Blickwinkel erfassen. Oder er ging um die schriftliche Fassung des Konzeptes herum. Buchstäblich. Er legte es auf den großen Tisch in der Mitte des Raumes und ging um den Tisch herum. So fiel es ihm viel leichter, das Konzept wirklich kritisch zu betrachten. So, als ob es jetzt seine Aufgabe wäre, dieses Konzept zu Fall zu bringen. Diese „Übung“ half ihm, alle Ecken, an denen sich die Kritiker einhaken könnten, glatt zu schleifen. Und das Ergebnis liegt heute auf dem Tisch. „Sie werden das Projekt realisieren“. Ein mehrheitsfähiges Sanierungskonzept. Glatt und in sich stimmig.
Die ersten Gespräche mit der Konzerleitung waren Sondierungsgespräche. Er wollte dabei möglichst viele Informationen aus seinen Gesprächspartnern herausholen. Die Technokraten waren dabei die gesprächigsten Herren. Warum wohl, fragte er sich damals? Haben die sonst nichts zu sagen? Beim Heimfahren nach diesem Gespräch murmelte er diese Frage gleich in sein kleines Diktiergerät. Er wollte dieser Frage ernsthaft nachgehen. Später. Natürlich nutzten die Führungskräfte der obersten Ebene des Konzerns diese Gespräche auch, um dem jungen Berater gehörig auf den Zahn zu fühlen. Für Peter war das jeweils so etwas wie Spiegelfechterei. Oder wie beim Stierkampf, wenn der Torero mit einer eleganten Seitwärtsbewegung den schweren Stier einfach ins Leere laufen lässt. Peter hatte in der Hochschule mit Begeisterung solche Rede-Duelle inszeniert. Und meist mit Bravour gewonnen. Wenige konnten ihm hier das Wasser reichen. Auch auf die oft bohrenden Fragen der Herren im Konferenzraum wusste er überzeugende Antworten zu finden und konnte diese auch klar und ruhig formulieren. Er war ein Gewinner. Mit ruhiger Hand strich er über seine glatte Torero-Frisur.
Wie sich dann später das Konzept weiterentwickelte (falsch: nicht ES entwickelte sich weiter, sondern ER entwickelte es weiter), fing Peter an, die Einladungen zu diesen Gesprächen selbst zu formulieren und ließ sie dann über das Sekretariat des Vorstandes verteilen. Aus den „Gesprächen“ wurden ab diesem Zeitpunkt „Konzeptdiskussionen“. Und von sporadischen Gesprächen ging er schnell weg und legte seine Konzeptdiskussionen genau geplant auf jeweils Dienstag, 17.00 Uhr, fest. Es gab eine eindeutige Tagesordnung und ein peinlich genau geführtes Protokoll. Frl. Rosa Bühler, die Vorstandssekretärin, führte es. Nach alter Schule. Sauber durchstrukturiert. Einzig die mit TIPP-EX korrigierten Tippfehler fielen unangenehm auf. Warum schrieb eigentlich „Röschen“ immer noch nicht mit einem PC, fragte sich Peter schon nach der ersten Konzeptdiskussion. Steno während der Besprechung – und dann noch am selben Abend die Reinschrift in der Maschine. Auch wenn er Röschen innerlich oft belächelte – fleißig war sie auf jeden Fall. Das konnte ihr keiner absprechen. Trotzdem war es Zeitverschwendung, was sie machte.
Natürlich führte der Vorstandsvorsitzende die Gespräche, bzw. später die Konzeptdiskussionen. Am Anfang jedenfalls. Peter übernahm schnell und mit einem ganz natürlichen Charme diese Aufgabe. So sah er es zumindest. Der Alte schluckte dreimal leer, als Peter ihm diese Position aus der Hand nahm. Doch er musste zugeben, dass die Diskussionen durch Peters straffe Führung effizienter wurden. Also ließ er es geschehen. Peter war auch diplomatisch: er überließ dem Alten den angestammten Platz an der oberen Schmalseite des großen Konferenztisches. Man konnte ja nicht unmenschlich sein! Immerhin war der Alte der Chef im Hause.
Dr. Peter Bircher war immer schon ein ehrgeiziger Mensch. Er bereitete sich auf jedes seiner Konzeptgespräche peinlich genau vor. Im Grunde wäre es nicht mehr erforderlich gewesen, die einzelnen Schritten mit einem Berater-Kollegen durchzusprechen. Aber als Sicherheitsfanatiker machte er es trotzdem gewissenhaft für jeden Dienstags-Termin. Oder sollte man sagen: für jeden Dienstag-Auftritt? Innerlich freute er sich jedes Mal darüber, wenn seinem Kollegen nichts anderes übrig blieb, als zustimmend zu nicken. Es gab einfach nichts auszusetzen. Peter war die Perfektion in Person. Seine Ideen waren schlichtweg brillant. Einmal stach ihn der Hafer: er baute extra einen Fehler ein – und beobachtete gespannt die Reaktion seines Berater-Kollegen.
Für jedes Teilthema des Konzeptes bereitete er einen Einführungsvortrag vor, den er mit farbig gestalteten Graphiken illustrierte. Manchmal gelang es ihm mit einer Karikatur, die er meist aus einer Management-Zeitschrift kopierte, echte Lacherfolge zu erzielen. Auch ein, an strategisch richtiger Stelle eingefügter Witz, mit Schalk in der Stimme vorgetragen, hatte oft einen durchschlagenden Erfolg und diente gezielt dazu, die Stimmung zu lockern. Als er Monate später Einzelgespräche mit Abteilungsleitern führte und anschließend mit diesen Herren zum Mittagessen in die Kantine ging, passierte es mehr als einmal, dass ihm genau der Witz, den er der obersten Heeresleitung erzählte, zum Nachtisch präsentiert wurde. Eine große Genugtuung für Peter. Witze gab es sonst in diesem verkalkten Haufen kaum. Wer hatte schon was zu lachen dort? Dr. Peter Bircher war von seiner Natur her überhaupt kein spaßiger Mensch. Das Erzählen dieser Witze musste er stundenlang vor dem Spiegel üben. Mimik, Gestik in Kombination mit der Stimme. Es musste perfekt sein. Jeder der Herren glaubte, der Witz sei ihm spontan über die Lippen gekommen. Peter war ein guter Schauspieler. Die Show war gekonnt.
Mehr und mehr wurde also die Arbeit am Konzept für Dr. Bircher ein echter Fulltimejob. Sportlich sah er die Aufgabe zwar immer noch – aber sie war eben mit echter Arbeit verbunden. Arbeit mochte er; sie machte ihm Spaß. Auch heute noch. Arbeit sah er nicht als Qual, sondern als Herausforderung. Und er war ein kämpferischer Bursche, dieser Berater.
Die Hauptarbeit lag natürlich in der konzeptionellen Gliederung und in der sachlichen Absicherung der einzelnen Punkte. Aber er verwandte auch sehr viel Zeit und Mühe auf die Gestaltung seiner Präsentationsunterlagen und der „Hand-outs“. Alles aus einem Guss und in sich stimmig. Diese ganzen Unterlagen musste er selber im Computer gestalten. Zwar hatte ihm der Alte schon ganz am Anfang – noch zur Zeit der „Gespräche“ großmütig die Arbeitskraft von Fräulein Bühler zur Verfügung gestellt, um ihm solche „Sekretariatsarbeiten“ abzunehmen. Doch was sollte er mit Röschen und ihrer elektrischen Schreibmaschine? Sollte Sie für ihn all diese Diagramme und Graphiken vielleicht von Hand zeichnen? Das wäre seiner Konzeptidee diametral entgegengelaufen. Also zog er es vor, diesen „Sekretariats-Job“ selber zu machen. Meist abends; da hatte er die nötige Ruhe dazu. Und die brauchte er unbedingt zum arbeiten.
„Sie werden das Projekt realisieren“ – die Worte des Alten hallten wie ein angenehmes Echo in seinem Kopf. Wie war eigentlich die Betonung dieses Satzes? Sagte der oberste Boss: “SIE werden das Projekt realisieren?“, oder „Sie WERDEN das Projekt realisieren“, oder eher „Sie werden DAS Projekt realisieren“, um den Schwierigkeitsgrad des Unterfangens hervorzuheben. Oder sagte er: „Sie werden das Projekt REALISIEREN“, so, als ob er seine Zweifel unterschwellig zum Ausdruck bringen wollte? Eigenartig. An dieses Detail der Betonung konnte er sich nicht erinnern, obwohl es doch jetzt – in der Rückschau sicher bedeutungsvoll gewesen wäre. Peter war mit sich unzufrieden. Keine fünf Minuten war es her, und er hatte etwas so Wichtiges einfach vergessen. Oder hatte er es in seiner Genugtuung gar nicht richtig beobachtet? Nicht richtig erfasst? Eine schwache Leistung, entschied er für sich, tadelnd zu sich selber.
Zur eigentlichen „internen Entscheidungsfindung“, wie es der Alte nannte, wurde Peter gebeten, „einige Minuten“ den Konferenzraum zu verlassen. Logisch – Peter hätte es an der Stelle des Alten auch so gemacht. Es sollten nochmals – zum letzten Mal – alle Pro’s und Contras in Bezug auf das Konzept, aber auch in Bezug auf die Person des Beraters, abgewogen werden. Für Peter also nur noch eine reine Formsache. Er ging lockeren Schrittes in das Büro von Fräulein Bühler. Wie jedes Mal, wenn er dort eintrat, erhob sich die Vorstands-Sekretärin, begrüßte ihn förmlich (obwohl er sie vor knapp zwei Stunden das letzte Mal gesehen hatte) und bot ihm einen Kaffee an. Peter akzeptierte das heiße Getränk gerne. Während der offiziellen Projektdiskussionen trank er prinzipiell nur Wasser. Er hatte es einmal für sich selber so entschieden. Einen genauen Grund dafür gab es eigentlich nie – aber er hielt sich an diese Entscheidung. Er nahm auf dem Stuhl gegenüber dem Schreibtisch der Sekretärin Platz und wartete darauf, bis Fräulein Bühler mit dem Kaffee aus der kleinen Küche kam, die zwischen ihrem Büro und dem großen Konferenzraum lag. Er war ja schon viele Male in diesem Büro gewesen. Nie aber nahm er sich die Zeit, sich in Ruhe die Details aufzunehmen. Heute fand er die Ruhe dazu.
Wenn man sich ein typisches Alt-Herren-Arbeitszimmer, so kurz nach der Jahrhundertwende vorstellte, würde man vielleicht diesem Sekretariat am ehesten gerecht. Ein hoher Raum mit weißer Stuckatur-Decke. Die Reliefs waren in einem matten Gelbton hervorgehoben. Das Mobiliar war dunkel gehalten. Jedes einzelne Möbelstück ein Stilmöbel. Selbst der Schreibtisch. „Unpraktisch“, ging es Peter durch den Kopf, ein Schreibtisch sollte doch funktionell sein, und nicht nur „stilvoll“ und „schön“. Was waren das für Bücher, in den ausladenden Regalen? Peter stand auf und ging um den Schreibtisch herum, um einige Titel zu lesen. Er fand zwar keine Klassiker, wie man sie vielleicht in dieser klassischen Umgebung erwartet hätte, aber zum Beispiel einige Bücher zu den Themen „Rechtswissenschaft“ und „Soziologie“. Alle Bücher waren in Leinen gebunden. Paperbacks, wie sie in seiner Junggesellen-Luxuswohnung in Mengen standen, konnte Peter nicht entdecken. Er nahm wahllos ein Buch in die Hand und schlug die zweite Innenseite auf. Erschienen im Hiebeler-Verlag, 2. Auflage 1954.
Das jüngste Teil in diesem Sekretariat war mit Sicherheit die moderne Telefonanlage. In ihrem funktionellen hellen Beige stach sie schon fast unangenehm aus der klassischen Umgebung hervor. Sie nahm den wichtigsten Platz auf dem Schreibtisch ein. Auf einem etwas niedrigeren Nebentisch, L-förmig zum Schreibtisch stehend, war die elektrische Schreibmaschine untergebracht. Sie fügte sich mit ihrer dunkelroten Farbe schon fast harmonisch in die Umgebung ein. Einige Blättchen TIPP-EX lagen griffbereit neben der Schreibmaschine.
In Peters Gehirn fügte sich das Bild dieses Sekretariates nahtlos in den Gesamteindruck ein, den er im Laufe der Konzept-Arbeit vom ganzen Konzern erhalten hatte: Stilvoll zwar bis ins Detail, aber rettungslos veraltet und praxisfremd. Genau das war der Punkt, wo sein Konzept im Großen, wie im Kleinen ansetzte. Sein Ziel war es – und wird es immer sein – alte Zöpfe abzuschneiden. Radikal und ohne die Möglichkeit der späteren Umkehr.
Es war schon fast rührend zuzusehen, wie Röschen das kleine Silbertablett mit der Tasse aus feinstem Porzellan vor Peter auf den Schreibtisch stellte. Neben der mit feinen Goldmustern verzierten Tasse standen die Zuckerdose und ein kleines Kännchen für Rahm. Irgendwie rührte ihn diese Sorgfalt für einen kurzen Moment. Es war nicht nur Sorgfalt, sondern Röschen war fürsorglich. Wenn er sich in der Früh oder spät abends einen Kaffee machte zu Hause, dann war die Qualität zwar exzellent (schließlich hatte er sich erst vor kurzer Zeit die neueste italienische Kaffeemaschine angeschafft). Aber er füllte das heiße Getränk zu Hause nur in eine einfache Tasse, goss aus dem Kühlschrank einen Spritzer Kondensmilch dazu und streute zwei Löffel Zucker in die Tasse. Danach wurde der Kaffee schnell getrunken, und die Tasse sofort in die Spülmaschine gestellt. Er mochte es nicht, wenn bei ihm zu Hause gebrauchtes Geschirr herumstand. Dr. Bircher war ein ordentlicher Mensch.
Aber Fräulein Bühler servierte ihm diesen Kaffee liebevoll. Sie tat es mit Hingabe. Man spürte, dass sie es gerne machte. In ihren Bewegungen lag dazu eine Art professioneller Natürlichkeit. Das Ganze wirkte überhaupt nicht verkrampft. Er erinnerte sich jetzt, dass er Röschen schon bei den Konzeptgesprächen fast ehrfurchtsvoll beobachtet hatte, wenn sie ihrem Chef den Kaffee servierte. Und jetzt kam er zum ersten mal selbst in diesen Genuss.
Nachdem Fräulein Bühler das Tablett vor ihn hingestellt hatte, ging sie um den Schreibtisch herum an ihren Arbeitsplatz. Ihre Art zu gehen, sich zu bewegen und ihre Kleidung passten haarscharf in die klassische Umgebung ihres Büros. Die eher hagere Gestalt in der seidenmatten, zartbraunen Bluse mit dem kleinen Spitzenbesatz unter dem hochgeschlossenen Kragen und im goldfarbenen, halblangen Rock harmonierten bestens mit den dunklen Möbeln im klassischen Stil. Sie entschuldigte sich höflich bei ihm, dass sie noch viel zu tun hätte, setzte sich an ihre Schreibmaschine und fing an, einen Text einzutippen. Das Knattern der Kugelkopf-Schreibmaschine schnarrte wie Maschinengewehrfeuer und holte Peter aus seinem Tagtraum zurück. Wie lange wartete er eigentlich schon? Der Alte sprach von „ein paar Minuten“, die er draußen warten sollte. Ein schneller Blick auf seine goldene Armbanduhr sagte ihm: es waren schon fast 40 Minuten.
Dr. Bircher wurde unruhig.
Warum brauchten die so lange? Es war doch alles klar – sogar sonnenklar! Alle wichtigen Einwände hatte er in den vielen Vorgesprächen aus dem Weg geräumt. In ganz wenigen Fällen hatte er sogar sein Konzept angepasst. Und die wenigen noch strittigen Punkte konnten doch das gesamte Konzept nicht zu Fall bringen. „Nein, unmöglich“, sagte Peter zu sich selbst und setzte sich auf dem Stuhl gerade hin. Oder lag es vielleicht an seiner Person? Natürlich pflegte er einen anderen Stil, als die meisten alten Herren, die in diesem Konzern das Sagen hatten. Aber konnte man mit einem alten Stil einen Konzern reorganisieren? Das war doch ein Widerspruch in sich. Und wo dieser „alte Stil“ hinführte, konnte man ja heute an den Zahlenwerken deutlich ablesen. Und an den Aktienkursen.
Mit dem letzten Schluck aus der kleinen Tasse kehrte auch wieder die völlige Ruhe und Selbstsicherheit zurück. Schade nur, dass dieser letzte Schluck schon kalt war. Er schmeckte auch bitter.
Dann endlich der ersehnte Anruf: „Fräulein Bühler, bitte schicken Sie doch Herrn Dr. Bircher wieder in den Konferenzraum“, hörte Peter die Stimme des Alten aus der Gegensprechanlage. Gegensprechanlage? Dieses Gerät hatte er bis jetzt noch gar nie im Sekretariat wahrgenommen.
Fräulein Bühler nickte ihm nur kurz zu, Peter erhob sich und ging schnellen Schrittes aus dem Sekretariat. Kaum auf dem Korridor angekommen, drosselte er aber die Geschwindigkeit wieder. Er wollte „gemessenen Schrittes“ vor den Entscheidungsträgern erscheinen. Das war er sich schuldig. Und er achtete sehr genau auf solche Details.
Und dann ging alles sehr schnell. „Sie werden das Projekt realisieren“, sagte der Alte. Nach einer Kunstpause fügte er hinzu: „Wir alle sind zu diesem Schluss gekommen und wünschen Ihnen und uns viel Erfolg dabei. Sie haben zwar nicht alle mit Ihrem Konzept überzeugt, aber doch die meisten von uns. Die wirtschaftliche Situation und die heutige Zeit zwingt uns zu Veränderungen“. Dann reichte ihm der Alte fast theatralisch die Hand – so, als ob er ihm gerade einen Orden verliehen hätte. Und alle anderen Teilnehmer des hohen Gremiums folgten seinem Beispiel. „Wie Marionetten“, ging es Peter blitzartig durch den Kopf.
Danach wurde die Besprechung offiziell aufgehoben. Die meisten Teilnehmer waren froh, endlich nach Hause gehen zu können. Der ganze Tag war unerträglich heiß gewesen – und dazu war es noch Freitag. Ein sonniges Wochenende stand bevor.
Der Alte geleitete Peter bis zum Aufzug. Auf dem Weg dort hin wollte sich Peter noch kurz bei Fräulein Bühler verabschieden. Aber durch die halboffen stehende Türe konnte er schnell erkennen, dass die alte Schreibmaschine abgedeckt, der Schreibtisch aufgeräumt und die Vorstands-Sekretärin bereits nach Hause gegangen war.
Am Aufzug verabschiedete der Alte Peter mit einem kurzen Händedruck und ein paar höflichen Floskeln. Etwas Wesentliches gab es offensichtlich nicht mehr zu sagen. Alles Wichtige war für heute entschieden und mitgeteilt worden.
Als er auf den Aufzug wartete, blickte er dem Alten nach. Von hinten sah er heute wie eine geknickte Ähre aus. Seit fast 30 Jahren stand er schon an der Spitze dieses Konzerns. So etwas zeichnet einen Menschen, selbst von hinten war es zu sehen.
Die Türe zur Kabine des Aufzuges öffnete sich mit einem leisen Surren, Peter trat ein und war irgendwie froh darüber, dass sich die Türe hinter ihm ganz selbstverständlich schloss. Das Klicken der Türverriegelung erschien ihm wie eine Art Schlusspunkt. „Klick“ – dieses Kapitel in deinem Leben ist jetzt abgeschlossen“.
Er drückte den Knopf „T“ um auf dem schnellsten Weg in die Tiefgarage zu kommen, wo sein Wagen stand. Mit einem schnellen Griff lockerte er seine Krawatte und fuhr mit dem Finger unter den Kragen. Die Luft war schwül in der Kabine. Dieser Aufzug wurde wohl nachträglich in das alte Bürogebäude eingebaut. Er war im Zentrum des wuchtigen Treppenhauses angebracht. Die Treppen wanden sich wie eine Spirale von Stockwerk zu Stockwerk nach unten. Die Kabinenwände waren verglast. Peter konnte während der Fahrt das ganze Treppenhaus überblicken. Es war völlig menschleer. Natürlich – es war ja schon bald acht Uhr. Die Sitzung hatte sehr lange gedauert. Mit einem Seitenblick auf das kleine Schild des Wartungsdienstes stellte er fest, dass der Aufzug in knapp 2 Wochen wieder gewartet werden musste. Kleine Dinge waren in diesem Konzern sehr gut organisiert. Warum klappte es im Großen nicht?
Die Tiefgarage empfing den Berater mit dem typischen Geruch nach abgestellten Fahrzeugen. Einer Mischung aus Benzin und Abgasen. Sein Wagen stand nahe des Einganges. Mit der Fernbedienung öffnete er die Türen, legte die Aktentasche und die Anzugsjacke auf den Rücksitz und setzte sich in das Fahrzeug. Nachdem er die Zündung eingeschaltet hatte, betätigte er den Schalter für das Cabrioverdeck und genoss die dreißig Sekunden, die die Mechanik benötigte, um das Verdeck komplett zu öffnen und den Stoff in der dafür vorgesehenen Klappe verschwinden zu lassen. Er bewunderte immer wieder die Perfektion im Ablauf dieser einzelnen Schritte, die zum Öffnen des Cabrios benötigt wurden. Es lief alles wie selbstverständlich ab. Elektromotoren wurden durch eine intelligente Elektronik gesteuert. Einfach perfekt. Bevor er losfuhr löste er den Knoten seiner Krawatte ganz, zog sie aus dem Kragen und warf sie zur Anzugsjacke auf den Rücksitz.
Obwohl es schon nach acht Uhr war, schlug ihm beim Verlassen der Tiefgarage eine Welle warmer Sommerluft entgegen. Angenehm. Die Stadtluft war zwar sicher nicht sauber und rein, aber um Welten besser, als der Mief im Konzerngebäude. Er sog die Luft begierig in sich auf und fädelte sich mit seinem Wagen in den Verkehr ein. Es war Freitag. In der Stadt war viel los. Der Berufsverkehr war um diese Uhrzeit bereits dem Freizeitverkehr gewichen. Menschen freuten sich auf den lauen Freitagabend und auf das bevorstehende Wochenende.
Auf der Hauptgeschäftsstraße fand er eine Parklücke. Er setzte den Blinker und manövrierte seinen Wagen geschickt auf den freien Platz. Das Verdeck ließ er offen, ganz im Gegensatz zu seinen sonstigen Gewohnheiten. Aber heute hatte er den Auftrag. Heute war alles anders als sonst. Er setzte sich in ein Straßenkaffee, wenige Schritte vom Parkplatz entfernt. Die kleinen Tische und die schmalen Bistro-Stühle waren dicht gedrängt auf der kleinen Fläche auf dem Gehsteig. Peter hatte Glück; er fand einen freien Tisch direkt an der Hauswand, schön windgeschützt. Seinen Wagen konnte er sogar noch überwachen von seinem Platz aus. Beim Kellner bestellte er einen Espresso, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Der Tag war für ihn vorzüglich verlaufen. Er konnte mit sich und der Welt zufrieden sein. Er beobachtete gelassen das lebhafte Treiben vor ihm auf dem Gehsteig und auf der Straße.
Die Anspannung war verflogen – aber gleichzeitig damit auch die Spannung in seinem Körper. Er fühlte sich richtig müde und ausgelaugt. Abgespannt eben. Er ärgerte sich über sich selber. Warum jetzt müde, wo doch alles, was er wollte vollständig erreicht wurde? Dr. Peter Joe Bircher war ein zielstrebiger Mensch. Nicht nur in dem Sinne, dass er seine Ziele eindeutig und direkt anging – und meist auch schnell erreichte. Peter brauchte auch Ziele. Ohne Ziele fehlte im die Orientierung. Er wusste nicht mehr, was von ihm verlangt wurde. „Ziellos“ – das lernte er in diesem Augenblick – scheint für ihn gleichzeitig „glücklos“ zu bedeuten. Dieser Gedanke erschreckte ihn in seiner absoluten Klarheit und Unabwendbarkeit.
Trotz des eben errungenen Erfolges fühlte sich Peter glücklos, also unglücklich.
Sein Ärger nahm zu. Er ärgerte sich über sich selbst. Warum ließ er das zu? Warum suchte er sich nicht einfach ein neues Ziel? Überall gab es doch Ziele, sie lagen zum Greifen nah auf der Straße. Man musste nicht einmal danach suchen. Aber er hatte keine Lust, ein Ziel ins Auge zu fassen. Er war auch lustlos.
Warum hatte ihm der Kellner den Kaffee noch nicht gebracht? Ein schneller Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, dass er schon fast zehn Minuten wartete. „Wie lange soll ich noch auf den Kaffe warten?“, rief er dem Kellner zu, der am Nachbartisch ein kleines Tablett mit Getränken abstellte. Der Vorwurf, der in dieser Frage lag, war nicht unterschwellig, sondern für jedermann deutlich vernehmbar. Natürlich auch für den Kellner. Er war ganz offensichtlich ein Ausländer. Spanier, vielleicht, oder Italiener. Jedenfalls ein Südländer. Gereizt antwortete er: „Sie sind nicht der einzige Gast hier....“ – und wandte sich wieder dem Nebentisch zu.
Peter spürte, wie ein ungutes Gefühl von seiner Magengegend in ihm hochstieg. War es Wut? Er wusste es selber nicht genau. Jedenfalls fühlte er sich nicht wohl dabei. Er wusste nicht WAS es war – aber empfunden hatte er diesen Zustand schon öfters.
Es vergingen weitere 3 Minuten, bis der Espresso auf seinem Tisch stand. Peter hatte diese Zeitspanne genau registriert. War das die berühmte Dienstleistungs-Wüste in unserer Gesellschaft? Es war einfach unerhört, jemanden so lange warten zu lassen, fand er. Die Trinkgeldfrage jedenfalls war für Peter – und somit auch für den Kellner erledigt. Das war klar.
Seit er im Kaffee saß, schaute er immer wieder mit einem kurzen Kontrollblick auf seinen Wagen. Man wusste ja nie, was alles passierte, bei einem offenen Cabrio: Dinge könnten geklaut werden, oder so ein Idiot wirft eine brennende Zigarette auf den Ledersitz...... .
Das schwarze Cabrio, das er sich vor nun fast 4 Monaten gekauft hatte, gefällt ihm immer wieder aufs Neue: die elegante Linie, die gedrungene, leicht aggressive Form, die geballte Kraft im Schwung der hinteren Kotflügel, die wie die angespannten Hinterläufe einer Wildkatze, die gerade zum Sprung ansetzt, wirken. Ein edles Auto. Durch und durch.
Im Ausstellungsraum des Händlers stand neben diesem schwarzen Wagen noch das gleiche Modell, aber in rot. Das hätte ihm im Grunde genommen noch besser gefallen. Es war etwas sportlicher, jugendlicher. Aber das passte wiederum nicht zum Bild des seriösen Beraters, das er abgeben wollte und musste. Also entschloss er sich zum Kauf des schwarzen Autos. Es war zumindest die zweitbeste Lösung. Ob ihm indirekt sein Wagen zum heutigen Erfolg verholfen hat? „Nein“, entschied er für sich selber; „an einer solchen Kleinigkeit kann es sicher nicht liegen“.
Er nippte den letzten Schluck aus der Mini-Tasse und zog den Geldbeutel. Die Trinkgeldfrage hatte er ja bereits sehr zu Ungunsten des Kellners für sich entschieden. Umständlich zählte er den ungeraden Betrag aus dem Münzfach seiner Börse und legte die Geldstücke neben die Tasse auf den Tisch. Grußlos verließ er das Bistro.
Der lausig und spät servierte Espresso vermochte die miese Stimmung nicht zu vertreiben. Auch dass er den Kellner ziemlich rüde abgefertigt hatte, half nur unbedeutend.
Der belebten Hauptgeschäftsstraße folgte er noch auf die Distanz von vier Ampeln, dann bog er rechts ab in die Ausfallstraße, die nach Süden in die kleine Vorstadtgemeinde führte, in der Peter wohnte. Stadt und Vorstadtgemeinde waren bereits vollkommen zusammen gewachsen. Kein Stück Wald, oder offenes Feld trennte die beiden Gebiete mehr von einander. Lediglich am Ortsschild konnte man den Übergang von Stadt zur Vorstadtgemeinde erkennen. Und natürlich an dem zweiten Schild, das an der Stange des Ortsschildes nachträglich angebracht wurde. Es informierte über die verschiedenen Partnergemeinden in Italien, Frankreich und in den USA. An der Partnerschaft mit der Gemeinde im Staate Ohio, USA, war Dr. Peter Joe Bircher maßgeblich beteiligt. Er besuchte die Uni in den Vereinigten Staaten und ließ die dort erworbenen Beziehungen elegant spielen. Als Vorsitzender der „Jungen Partei“ brachte ihm dies schnell Ansehen in seiner Gemeinde ein. Ansehen, und sehr bald danach auch seinen Job beim jetzigen Arbeitgeber – einer internationalen Unternehmensberatung, mit Hauptsitz in den USA, im Staate Ohio.
Nach wenigen Minuten lenkte er seinen Wagen in die Tiefgarage der kleinen Wohnanlage und fuhr kurz danach mit dem Aufzug in seine großzügige Penthaus-Wohnung. Diese Wohnung hatte er vor gut einem Jahr von seinem Vorgänger bei der Beratungsfirma übernommen – komplett eingerichtet. Eine sonnige Vierzimmerwohnung mit allem Luxus.
Er öffnete die Wohnungstüre – zuerst das Sicherheitsschloss und dann das zweite Schloss, welches mit der Alarmanlage gekoppelt war. Eine stickige Luft schlug ihm entgegen. Den ganzen Tag schien die pralle Sonne durch die großen Fensterflächen in die Wohnung. Aus Angst vor Einbrüchen waren sämtliche Fenster fest verriegelt. Keine Chance für frische Luft in der Wohnung. Er riss einige Fenster ganz weit auf und verließ sich auf die natürliche Wirkung des Durchzuges. Damit die Fensterflügel dabei nicht wieder zuschlugen, sicherte er sie mit je einem Stapel schwerer Bücher, die er dem Bücherregal entnahm.
Seine schlechte Laune wurde auch dadurch nicht besser, dass er praktisch vor einem leeren Kühlschrank stand. Im Eifer hatte er wieder vergessen, die wichtigsten Dinge einzukaufen. Lediglich noch trockenes Knäckebrot und etwas Butter waren da. Nichts, das seinen Hunger richtig stillen konnte. Also ging er an die Tiefkühltruhe, holte ein Fertiggericht heraus (Hähnchenkeulen mit Reis) und stellte die eiskalte Schale in den Mikrowellenherd. In wenigen Minuten hatte er sich so ein Essen zubereitet. Absolut nicht schmackhaft, aber dafür sättigend. Mit Pfeffer und etwas Curry versuchte er diesen Mangel etwas wett zu machen. Zwar war das Gericht jetzt gelblich, schmeckte aber um keinen Deut besser.
Beim Essen wanderten seine Gedanken zurück zum Alten. Was mochte er getan haben, nachdem er ihm beim Aufzug im Konzerngebäude den Rücken zudrehte? Wahrscheinlich ging er nur noch schnell in sein Büro, informierte kurz seine Gattin, dass er in einer halben Stunde daheim sein werde, holte seine Aktentasche und seinen Regenmantel (der Alte war ein Pessimist – er hatte immer einen Mantel dabei), um dann nach Hause zu fahren. Der Alte hatte keine regelmäßigen Arbeitszeiten; deshalb hatte er sich diese kurzfristige Ankündigung seines Kommens angewöhnt. Für ihn hatte das den riesigen Vorteil, dass dann meist schon ein sehr schmackhaftes, liebevoll zubereitetes Essen auf dem Tisch stand, wenn er eintraf. Er genoss das gemeinsame Mahl mit seiner Frau. Oft genug musste er abends anderen Verpflichtungen nachgehen und musste in irgend einem feinen Restaurant speisen. Zu Hause war es für ihn in jeder Beziehung schöner.
Diese Gedanken führten dazu, dass das Stimmungsbarometer von Peter noch tiefer sank. Heue war ER doch der Gewinner – und nicht der Alte. Trotzdem hockte ER vor einer Kunststoffschale mit den Resten eines miserablen Essens; keine Spur von liebevoller Zubereitung, oder gepflegter Umgebung. Und der Alte wurde in seinem Heim nach Strich und Faden verwöhnt – sicherlich war es so. War das gerecht?
Die Wohnung von Peter war modern und schön eingerichtet. Das war zwar nicht Peters Verdienst – er hatte die Wohnung samt aller Möbel von seinem Vorgänger übernommen. Lediglich eine sehr luxuriöse Stereoanlage hatte er sich vor wenigen Wochen neu zugelegt. Sie passte im Stil perfekt zu den bereits vorhandenen Möbeln. Alles andere war schon da.
Er lehnte sich im Stuhl zurück und versuchte seine eigene Wohnung mal mit etwas Distanz anzusehen – etwas, was er in der ganzen Zeit, seit er hier wohnt noch nie getan hatte. Ja, modern war die Wohnung eingerichtet. Jedes der vier Zimmer hatte seinen eigenen Stil. Das Mobiliar war hochwertig und stammte bestimmt nicht aus der Großserien-Fertigung. Individuell war die Einrichtung und teuer. Aber war sie ein liebevolles Zuhause für ihn? Vielleicht eher ein funktionelles Zuhause.
Jeder Frau, die diese Wohnung betreten hätte, wäre sofort aufgefallen, dass hier eine weibliche Hand fehlte. Die kleinen Details, die eine Wohnung erst wohnlich und liebenswert machten, waren nicht da. Es gab keine Blumen, kein Andenken an etwas Gemeinsames, das aufgestellt war. Nichts. Nur schön, teuer und funktionell – aber überhaupt keine Wärme in den eigenen vier Wänden.
Keine weibliche Hand? Das stimmte doch nicht. Ebenfalls von seinem Vorgänger hatte Peter auch die tunesische Putzfrau übernommen, die wöchentlich zweimal kam und die wichtigsten Dinge für ihn im Haushalt erledigte: Sauber machen, einkaufen, Hemden bügeln. Und wenn sie mal etwas mehr Zeit hatte, bereitete sie für Peter einige Portionen Couscous zu, die tiefgekühlt wurden. Sie hieß Unna. Den Familiennamen und die Adresse von ihr kannte er nicht. Lediglich eine Telefonnummer von Unna stand im kleinen Adressbuch neben dem Telefon. Unna selbst bekam Peter bis jetzt nur zweimal zu Gesicht. Das erstemal, als er sie einstellte und mit ihr besprach, was jeweils alles zu erledigen war. Und dann einmal, als er in der Früh verschlafen hatte – und sie plötzlich in der Wohnung stand. Unna war eine Frau von unscheinbarem Äußeren und unschätzbarem Alter. Sie musste irgendwo zwischen vierzig und 60 Jahre alt sein. Ihre Arbeit verrichtete sie für Peter praktisch unsichtbar und dabei nach einem genau festgelegten Schema. Der Kühlschrank war immer nach dem gleichen System eingeräumt – und die frisch gebügelten Hemden lagen stets am Fußende seines Bettes. Für Peter einfach eine perfekte Lösung.
Na ja – sonst stimmte das mit der fehlenden weiblichen Hand allerdings schon. Peter hatte, seit er diese Wohnung bezogen hatte, keine feste Beziehung. Im Moment sogar nicht mal eine lockere Verbindung zu einem weiblichen Wesen. Der Job und die intensive Beschäftigung mit seinem Projekt ließen ihm auch gar keine Zeit dafür.
Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass seine eigene Wohnung alles andere als wohnlich war. Und diese Erkenntnis trübte die angeschlagene Stimmung noch weiter. Er wollte es sich nicht eingestehen: Die Arbeit am Projekt hatte ihn mehr angestrengt, als er es zulassen wollte. Seine Nerven waren überspannt. Ein Zuhause so richtig zum Wohlfühlen und Kuscheln hätte ihm jetzt schon gut getan. Als er im Badezimmer stand und über dem Waschbecken in den Spiegel sah, erblickte er ein müdes Gesicht mit dunklen Rändern unter den Augen. Sah so ein erfolgreicher Berater aus?
Er nahm ein Schlafmittel und ging früh zu Bett. Draußen brach gerade die Nacht herein.
Am Wochenende versuchte er etwas Abstand zu „seinem Projekt“ zu bekommen. Erst etwas Sport mit Freunden, ein gutes Buch lesen und abends ins Kino. Das Kochen überließ er dem Italiener im kleinen Restaurant in seiner Straße.
Langsam erholten sich seine Nerven und er blickte wieder optimistischer in die Zukunft. Im Grunde war doch alles in bester Ordnung. Er hatte – zumindest die mündliche – Zusage, dieses Projekt durchzuziehen. Diese Hürde war so gut wie genommen. Er konnte jetzt ruhig und planmäßig den nächsten Schritt angehen: die Umsetzung des Konzeptes.
Bevor er am Montag ins Büro ging, musste er noch einige Besorgungen erledigen. Später als sonst lenkte er seinen Wagen in die Tiefgarage des Bürogebäudes in der Innenstadt. Von dort fuhr er mit dem Aufzug direkt in die vierte Etage, in welcher er sein Büro hatte.
Wie jeden Morgen schaltete er seinen Computer ein und las die E-Mails, die eingegangen waren. Er überflog die Post und machte all die Handgriffe, die er jeden Morgen routinemäßig erledigte. Gerade wollte er sich wieder intensiv seinem Projekt zuwenden, als die Türe zu seinem Büro aufflog und sein Vorgesetzter hereinstürmte. Freudestrahlend hielt er Dr. Bircher einen Brief entgegen. „Ich gratuliere zum Auftrag“, sagte er und schüttelte Peter die Hand. „Das haben Sie hervorragend gemacht – Respekt!“
Peter war überrumpelt. Er wollte doch seinem Chef selber sagen, dass er den Auftrag mündlich bekommen hatte – und jetzt stand der schon mit dem Brief in der Hand im Büro.....
Was war mit dem Alten los? Hatte er sich am Freitag Abend noch hingesetzt und den Auftrag persönlich schriftlich fixiert und an das Beratungsunternehmen weggeschickt? Das war doch eher unwahrscheinlich. Peter nahm den Brief in die Hand. Sofort erkannte er das Schriftbild von Fräulein Bühlers alter Schreibmaschine. Sogar die typischen TIPP-EX-Korrekturen waren sofort erkennbar. Es ging ihm blitzartig durch den Kopf: Der Brief trug das Datum vom vergangenen Freitag. Das konnte doch nur bedeuten, dass der Alte diesen Brief bereits VOR der Entscheidung diktiert hatte und Fräulein Bühler ihn getippt hatte, bevor der Auftrag mündlich erteilt worden ist. Als er nach der großen Sitzung das Konzerngebäude verließ, war Fräulein Bühler ja bereits nach Hause gegangen. Also alles nur Theater am Freitag? Der Alte war doch ein Fuchs. Ob er ihn wohl unterschätzte? Dieser Gedanke war Peter früher schon mal gekommen – aber er hatte ihn damals ganz schnell vom Tisch gewischt. Heute nahm er ihn ernst. Dass der Alte im Grunde seines Herzens ein Gegner von raschen Veränderungen – und somit von seinem Konzept war, wusste Peter natürlich sehr schnell. Aber schätzte er seinen Gegner auch als raffinierten Gegenspieler ein, oder nur als „den Alten“? Erneut ärgerte er sich, dass er sich nicht mehr genau erinnern konnte, WIE der Alte den Satz betont hatte; „Sie werden das Projekt realisieren“. Vielleicht lag in dieser Betonung die Antwort auf die strategisch wichtige Frage?
Es war sein Chef, der ihn aus diesem Gedankengang riss, als er ihn zu Ehren des Tages zum Mittagessen einlud. Eine positive Geste, die dieser Chef nur sehr selten machte und die Peter deshalb als große Ehre empfand. Ja. Jetzt hatte er alles schriftlich. Jetzt war sein Erfolg erstmals zementiert. Er konnte stolz sein. Die alte Selbstzufriedenheit war wieder da. Die Welt war wieder in Ordnung. Für ihn und für seine Firma. Den ganzen Konzern zu sanieren war nicht nur finanziell ein großer Auftrag, das Ganze war ein richtiger Prestige-Auftrag, den man später sicher in Werbemaßnahmen ausschlachten konnte.
Als der Chef das Büro verlassen hatte, lehnte sich Peter zufrieden in seinem Sessel zurück. Er rief ein paar Freunde an und teilte mit ihnen die Freude über seinen Erfolg. Es ging ihm richtig gut. Bis zum Mittagessen arbeitete er nur noch wenig. Er blätterte da und dort in Unterlagen – aber was richtig Kreatives tat er nicht mehr. Der Erfolg machte ihn zwar rundum glücklich, gleichzeitig fühlte er aber, dass ihn die intensive Arbeit am Projekt ausgelaugt hatte. Das vergangene Wochenende hatte zwar etwas Erleichterung gebracht, aber so ganz war die Anspannung nicht von ihm abgefallen. Es wäre ja auch zu früh gewesen. Bis zu diesem Tag hatte er ja nur den ersten Schritt erfolgreich hinter sich gebracht. Die ganze Umsetzung seines Konzeptes stand ja noch bevor. Und die Realisierung sollte er ja federführend in die Hand nehmen.
Das Mittagessen mit seinem Chef war im Wesentlichen ein Fachgespräch über die Sanierung großer Firmen – vielleicht sollte man sogar besser sagen: Ein Fachvortrag des Chefs über dieses Thema. Wären nicht einige aufmunternde Belobigungen eingeflochten gewesen – Peter hätte sich wie in einem Fachseminar gefühlt. Er, der kleine Student und ihm gegenüber der Herr Professor. Er fühlte sich erniedrigt. Musste er sich das bieten lassen? Und das genau heute, wo er doch bewiesen hatte, dass er diese Materie beherrschte? Der Chef spürte, dass das Gespräch auf beiden Seiten keine echte Freude aufkommen ließ und war clever genug, es unter einem Vorwand sehr früh abzubrechen. Sie fuhren gemeinsam zur Firma zurück und gingen dann wieder jeder in sein Büro, um weiter zu arbeiten. Nach dieser knappen Stunde im Restaurant hatte der Chef, dem Peter bis jetzt hohe Wertschätzung entgegen gebracht hatte, einiges von diesem Ansehen verloren. „Schade. So schnell konnte man etwas, das mühsam aufgebaut wurde, kaputt machen“, ging es Peter durch den Kopf.
2. Die Umsetzung
Der Zeitplan in Peters Konzept war klug ausgetüftelt und sah einen sehr komprimierten Ablauf vor. Viele Einzelbereiche mussten parallel abgearbeitet werden und dann als fertige Bausteine in den Gesamtablauf eingebettet werden. Zur Unterstützung wurden Peter einige Studenten und ein paar Fachkräfte zur Verfügung gestellt. Der Konzern selber half natürlich mit den entsprechenden Führungskräften auf der operativen Ebene kräftig mit.
Die Basis zur erfolgreichen Realisierung hatte Peter bei den Konzeptgesprächen gelegt. Schon dort war er immer extrem darauf bedacht, zu überzeugen, und die Leute zu begeistern. Dass er es geschafft hatte, die Mehrheit der Entscheidungsträger in sein Boot zu ziehen, hatte ja die Endabstimmung vom letzten Freitag bewiesen. Jetzt ging es darum, diese Flamme der Begeisterung am Leben zu erhalten – ja, sie sogar immer noch mehr zu schüren.
Über seine Verbindungen zu einer PR-Agentur sorgte Peter dafür, dass der Umstand, dass die Sanierungsphase für den Konzern begonnen hatte, in der Wirtschaftspresse und auch in der bedeutenden Lokalpresse entsprechend gewürdigt wurde. Er bestand darauf, dass in allen Veröffentlichungen nicht nur sein Name genannt wurde (und natürlich der Name der Beratungsgesellschaft), sondern, dass auch immer ein bis zwei Verantwortliche des Konzerns aus der 2. Reihe namentlich erwähnt wurden. Mit diesem kleinen Trick konnte er sicher sein, diese Führungskräfte voll auf seiner Seite, bzw. hinter den Zielen des Gesamtprojektes zu haben.
Intensive Gespräche mit Mitarbeitern des Konzern, mit Kunden und Lieferanten ließen ihn immer tiefer in das Netz der inneren Verflechtungen dieses Konzerns eindringen. Die meisten Punkte, die er in der Konzeptphase als Außenstehender genau registriert, beschrieben und analysiert hatte, hatten sich bei diesen vertiefenden Gesprächen bestätigt. Einige Beobachtungen und daraus gezogene Rückschlüsse musste Peter im Laufe der Wochen und Monate allerdings revidieren. Der Blick durch die Brille der betroffenen Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten ließ einige Aspekte in einem anderen Licht erscheinen. So war er neben der reinen Abarbeitung des Projektes nicht nur mit der ständigen Koordination aller Teilaufgaben beschäftigt, sondern auch damit, das Konzept laufend anzupassen. Wichtig war ihm natürlich dabei, die Gesamtlinie des Sanierungsplanes nicht zu verlassen. Diese war von den Verantwortlichen des Konzerns genehmigt. Und dafür hatte er den Auftrag zur Umsetzung erhalten. Im Moment ließ er also folgerichtig nur marginale Änderungen zu. Ungereimtheiten des Konzeptes im größeren Maße, die sich im Laufe der ersten Wochen der Realisierungsphase auftaten, zog er vor, einfach zu ignorieren. Er konnte sich nicht vorstellen, dass so etwas das Gesamtkonzept ernsthaft gefährden konnte.
Noch in der Konzeptphase hatte sich Peter ein intelligentes Überwachungssystem für die Entwicklung der wichtigsten Kennzahlen des Konzern einfallen lassen. Die Theorie dazu hatte er auf der Hochschule in den USA mitbekommen. In langen Abenden und Nächten hatte er auf seinem Notebook die entsprechenden Arbeitsblätter eingerichtet, verknüpft und abgespeichert. Meist machte er diese Arbeiten in seiner Wohnung. Hier fand er die nötige Ruhe und Konzentration dazu.
Diese Arbeitsblätter füllten sich jetzt langsam mit Leben. Von den verschiedenen Geschäftszweigen und Bereichen des Konzerns forderte er in regelmäßigen Abständen die wichtigsten Kennzahlen ab und fügte sie in sein Kontrollsystem ein. Als Ergebnis von komplizierten Berechnungen bildeten sich langsam Durchschnittswerte und Trends heraus. Er verglich die erreichten Werte laufend mit seinen Zielvorgaben. Die meisten vom Computer ausgewiesenen Resultate lagen im Zielkorridor – und stellten somit nicht nur Peter persönlich zufrieden, sondern auch die Entscheider des Konzerns. Seinem eigenen Chef überspielte Peter alle 3 Tage eine übersichtliche Zusammenfassung dieser positiven Ergebnisse. Dieser quittierte diese E-Mails meist mit einem umgehenden Telefonanruf, in welchem er einige dieser positiven Befunde sehr kritisch hinterfragte. Wie misstrauisch doch so ein Chef sein konnte!
Peter konnte insgesamt recht zufrieden sein zu sehen, wie das von ihm eingesetzte Pflänzchen gedieh. Einige Schönheitsfehler wurden von der Pracht der Farben und Formen der wachsenden Pflanze glanzvoll überdeckt.
Einer der Eckpunkte von Peters Konzept bestand darin, die Kräfte und Ressourcen auf die Kernkompetenz der Firmengruppe zu konzentrieren. Der Alte hatte in den letzten etwa 10 bis 12 Jahren immer wieder Unternehmen zugekauft, die zwar damals erfolgsversprechend waren, die aber in einem Geschäftsfeld aktiv waren, von dem niemand im Konzern so richtig eine Ahnung hatte. Diese Firmen wurden dann von „zugekauften“ Managern geführt, oder noch schlimmer: man hatte ausgediente, oder unbequeme Führungskräfte aus den eigenen Reihen mit diesen Aufgaben betraut. Das Ergebnis war zu erwarten: die ausgedienten Manager nutzten die neue Aufgabe als Ruhekissen, um sich auf die Pension vorzubereiten. Sie hatten weder Lust noch Laune, große, aktive Veränderungen durchzuführen. Die Querschläger aber nutzten ihre Chance, um ihren Verantwortungsbereich möglichst vom Mutterhaus abzuschotten. So war für sie sichergestellt, dass sie frei schalten und walten konnten. Keiner vom Konzern konnte ihnen wirklich in die Suppe spucken. Statistiken wurden entsprechend geschönt – um nicht zu sagen: gefälscht. Jedes Mittel war recht.
Der Alte hatte natürlich diese Negativ-Entwicklung bei den Tochtergesellschaften alle mitbekommen. Nachdem er aber der Initiator des ganzen war, verschloss er lieber die Augen davor, als zuzugeben, dass er falsche Entscheidungen getroffen hatte. Das war einerseits menschlich verständlich – geschäftlich aber katastrophal. Die fortlaufenden Verluste in den Bilanzen und die negativen Schlagzeilen in den Medien brachten den ursprünglich potenten Konzern mehr als nur ins Wanken. Analysten stuften den Konzern in ihrer Beurteilung stetig tiefer ein. Als die Alarmzeichen nicht mehr zu übersehen waren, wurde die Notbremse gezogen: Die internationale Beratungsgesellschaft wurde eingeschaltet.
Schon nach wenigen Wochen hatte sich der Konzern von einigen Töchtern getrennt, beziehungsweise waren erfolgsversprechende Verkaufsverhandlungen im Gange. Es lief alles wie geschmiert. Diese Unternehmensverkäufe sanierten fürs Erste die Finanzen des Konzerns. Der Finanzchef konnte kurzfristig aufatmen. Diese Entwicklung wurde von der Börse und den Medien positiv aufgenommen. Eine Verbesserung des allgemeinen Geschäftsklimas war die Folge davon. Peter konnte sich diesen Pluspunkt auf seine Fahnen schreiben.
In seiner Funktion als „Umsetzer“ hatte Peter einen schweren Stand. Niemand beneidete ihn ernsthaft um diesen Job. Als Berater hatte er zwar alle Möglichkeiten, tiefe Einblicke in das Räderwerk des Konzerns zu bekommen. Aber er blieb immer der außenstehende Berater. Er hatte keine Entscheidungsfunktion im Konzern. Alle Maßnahmen, die durchgeführt werden sollten, mussten zuerst genehmigt werden. Obwohl er wusste, dass die Entscheider hinter seinem Gesamtkonzept standen, musste er jeden einzelnen Punkt nochmals mit dem jeweils verantwortlichen Mitarbeiter durchfechten und durchsetzen. Eine oftmals zermürbende Aufgabe. Aber Dr. Peter Joe Bircher war ein durchsetzungsstarker Macher. Er verstand es, in den allermeisten Fällen zu überzeugen und somit den Karren in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken.
Nach circa drei Monaten recht erfolgreicher Arbeit an der Umsetzung des Konzeptes wurde Peter zum erstenmal vom Alten zu einem Abendessen in privater Atmosphäre nach Hause eingeladen. Der Alte bewohnte eine Villa, etwa dreißig Kilometer außerhalb der Stadt. Sie lag auf einem Hügel und bot einen herrlichen Panoramablick auf den kleinen See, der darunter lag. Die Zufahrt führte durch ein kleines Waldstück und mündete dann in eine großzügige Einfahrt zum Grundstück. Peter hielt vor dem großen Tor an und klingelte. Nach kurzer Zeit öffnete sich das mächtige schmiedeiserne Gitter und gab den Weg zum Haus frei. Von der Rückseite her wirkte das Gebäude fast bescheiden. Da es sich an den obersten Teil des Hügels schmiegte, sah man vom Eingang her nur das oberste Stockwerk. Die ganze Pracht der Villa konnte sich erst auf der Westseite entwickeln. Das Gebäude öffnete sich nach unten hin. Das oberste Stockwerk, in welchem sich die Eingangshalle befand, war relativ klein, darunter lag die Etage, in der sich der lichtdurchflutete, elegante Wohnraum befand. Vor ihm, praktisch als Verlängerung der Wohnfläche, schob sich eine riesige Terrasse über das Becken, in dem der See lag. Eine ausladende Freitreppe, geschmückt mit kleinen Steinfiguren, führte vom obersten Stockwerk auf die Terrasse. Obwohl sie eigentlich viel Platz beanspruchte, erzeugte sie den Eindruck, die Terrasse noch größer zu machen.
Peter wurde zuerst in das feudal eingerichtete Wohnzimmer gebeten, wo ihn der Alte in Empfang nahm. Er begrüßte ihn mit dem Stolz der Besitzers und bot ihm einen Platz auf der schwarzen Leder-Sitzgruppe an. Kurz danach kam die Ehefrau des Alten durch die offen stehende Terrassentüre in den Wohnraum. Peter hatte sie noch nie vorher gesehen. Er überlegte sich auf der Fahrt lange, wie sie denn aussehen könnte und was sie für ein Typ Frau sei. Im Konzern wurde selten über sie gesprochen. Auch mehr oder weniger direkte, aber immer sehr diskrete Fragen nach der Frau des Alten blieben meist unbeantwortet, oder aber wurden so vage beantwortet, dass es Peter nicht gelang, sich ein klares Bild von dieser Frau zu machen. Das Einzige, was er mit Sicherheit wusste, waren zwei Dinge: Erstens, dass sie etwa zwanzig Jahre jünger war, als der Alte und zweitens, dass sie damals, als der Alte die Leitung des Konzerns übernahm, eine beträchtliche Anzahl von Aktien der Firmengruppe kaufte.
Und jetzt stand sie vor ihm. Eine attraktive, ca. 45-jährige Frau mit einem gewinnenden Lächeln im Gesicht. Peter erhob sich, erwiderte die freundliche Begrüßung und übergab ihr den großen Blumenstrauß, den er in einem guten Blumengeschäft extra für die Dame des Hauses hatte zusammenstellen lassen. Ihre Freude über die Blumen war nicht gespielt. Sie betrachtete sie von allen Seiten, ordnete einige Blüten und Blätter mit geschickter Hand neu und bedankte sich sehr herzlich bei Peter. „Ob sie nur selten Blumen bekommt?“ ging es Peter durch den Kopf.
Das Gespräch drehte sich am Anfang über Alltägliches: Peter lobte den gepflegten und vornehmen Stil der Villa. Das herrliche Sommerwetter, das nun schon seit fast zwei Wochen herrschte war ebenso ein Thema, wie der erfrischende Aperitif, der gereicht wurde. Er hatte nicht nur das Gefühl, dass er versuchte die Situation auszuloten und das Ergebnis in einen vernünftigen Rahmen seiner Gedanken zu bringen – auch die Gastgeberin versuchte sehr feinfühlig, Puzzlesteine zu sammeln, die ihr halfen, sich eine klarere Vorstellung von dem Mann zu machen, der er geschafft hatte, den ganzen Konzern in neue Bahnen zu lenken.
Natürlich wusste Peter nicht, ob der Alte im privaten Bereich mit seiner Ehefrau über den Konzern, dessen Probleme und Chancen sprach. Aber nach all den langen und tiefgehenden Diskussionen, die er selbst mit dem Alten in der Konzernzentrale führte, war er überzeugt davon, seinen Auftraggeber richtig einzuschätzen, wenn er davon ausging, dass in diesem herrlichen Wohnzimmer oft und intensiv über die Strategien debattiert wurde.
Nach und nach fokussierte sich das Gespräch auf die Vorgänge im Konzern. Die Gattin des Alten ließ sich von Peter die Ergebnisse der ersten drei Monate erklären. Ihre sachkundigen und gezielten Fragen ließen sofort darauf schließen, dass sie nicht nur das Konzept selber kannte und verstand – sie konnte auch problemlos die Mosaiksteine der Einzelschritte und Detailerfolge einordnen und bewerten.
Peter war positiv überrascht. Die Frau des Alten war nicht nur eine sehr attraktive und warmherzige Person, sie war auch gescheit und kritisch. Sie verstand es, sowohl die Arbeit ihres Mannes, als auch die des Beraters zu taxieren. Sie scheute nicht davor zurück, kritische, aber stets fundierte Anmerkungen zu machen. Die Frau blieb nie an Gemeinplätzen hängen, bzw. verlor sich in allgemeinen Äußerungen. Stets hatte sie ein konkretes, leicht nachvollziehbares Beispiel zur Hand. Sie drückte sich in klaren, wohl überlegten Formulierungen aus.
Der Alte lehnte sich während dieser Diskussion mehr und mehr in seinem tiefen Sessel zurück und überließ die Gesprächsführung seiner Frau.
Je mehr sich der Alte geistig und körperlich aus dem Gespräch zurückzog, desto mehr beugten sich seine Gattin und Peter auf ihren gegenüberliegenden Sitzen nach vorne und intensivierten ihre Argumente für, oder gegen einen bestimmten Diskussionspunkt. Schon an der Hochschule faszinierten Peter solche Gespräche, die fast schon Rededuelle waren. Aber damals hatte jeder der Teilnehmer ganz bestimmte, vorgegebene Argumente zu vertreten. Heute war es ganz anders. Heute musste Peter auf der einen Seite sein Konzept erneut verteidigen, auf der anderen Seite spürte er aber auch den guten Willen der Gastgeberin, gute Ideen aufzunehmen und noch zu verfeinern, bzw. kritische Punkte herauszuarbeiten und zu eliminieren. Diese Frau war für Peter wie ein Sparring-Partner. Sie spornte ihn zu immer noch besseren Ideen und Leistungen an. Und all das tat sie mit einem überzeugenden Charme, dem er sich nicht entziehen konnte und wollte. Als er sich dann nach dem Besuch zur Heimfahrt in seinen Wagen setzte, hatte er einige wichtige neue Ideen und Stichpunkte zu bedeutenden Änderungen am Konzept, die er in sein Diktiergerät sprach.
Die Diskussionen mit dem Alten während der Konzeptphase verliefen da ganz anders, als das Gespräch im Wohnzimmer der Villa mit dessen Gattin. Dort spürte Peter stets den Widerstand des Alten. Hauptsächlich zu Beginn dieser Phase. Bei jeder Gesprächsrunde musste Peter erneut die Wand von Widerstand und Abwehr überwinden, um dann erst seine positiven Punkte anbringen zu können. Später dann, als es ihm gelang in größerer Runde mehr und mehr Führungskräfte für sein Konzept zu begeistern, schwand der Widerstand des Alten allmählich. Oder vielleicht hielt er sich nur mehr zurück, ohne den inneren Widerstand gegen all die radikalen Veränderungen tatsächlich aufzugeben. Schließlich stand er ja wenige Monate vor der Pensionierung.
Die Pro- und Contra-Argumente flogen wie Tischtennisbälle über den Tisch – leicht und oft unberechenbar in ihrer Flugbahn. Die Stimmlage der beiden Personen erhöhte sich leicht und wurde allmählich lauter. Der Hunger, den Peter auf der Fahrt zur Villa verspürt hatte, war verflogen. Beide hatten sich mit Papier und Kugelschreiber „bewaffnet“ um die jeweiligen Argumente zu visualisieren, und somit noch deutlicher zu machen.
Der Zeiger der Uhr rückte schon auf abends neun Uhr, als der Alte aufstand und das Gespräch ziemlich abrupt unterbrach. „Das Essen wurde aufgetragen“, sagte er kurz, stand auf und ging durch die große Glastüre ins Esszimmer. Er wirkte dabei nicht glücklich. Es war ihm deutlich anzumerken, dass er mit dem bisherigen Verlauf des Abends nicht einverstanden war. Aber seine Frau und Peter waren so in ihre Debatte vertieft, dass sie dieses Detail gar nicht wahr nahmen. Nachdem er nochmals vom Esszimmer aus zu Tisch gerufen hatte, standen auch die zwei auf und gingen in das angrenzende Zimmer.
Das Abendessen schmeckte vorzüglich: Die sommerlich leichte Vorspeise, gefolgt von Ente in Orangensauce mit Reis. Ein ideenreich komponierter Nachtisch war für Peter die Krönung des Ganzen. Er mochte Süßes sehr; und wenn das Auge noch mitessen konnte, dann doppelt. Nach dem Essen wurde eine Pause eingelegt, bevor Kaffee mit kleinen Gebäckstücken und Cognac gereicht wurden. Eine diskrete, ältere Dame brachte die Speisen und Getränke. Sie machte ihre Arbeit so leise und vornehm, dass sie kaum beachtet wurde. Peter versuchte auf der Heimfahrt vergeblich, sich das Bild dieser Haushälterin ins Gedächtnis zurück zu rufen. Sie war mehr ein „guter Geist“, als eine Angestellte aus Fleisch und Blut.
Während des Essens wurde das Gespräch ganz ruhig, fast oberflächlich. Der Alte beteiligte sich wieder lebhaft daran. Erst in der Pause, vor dem Kaffee, wandte es sich wieder dem Konzept und dessen Umsetzung zu. Und es wandte sich auch immer mehr der Person von Peter zu. Er merkte es kaum, aber die Frau des Alten fragte ihn geschickt nach seiner Ausbildung, seiner Familie und seinen Lebenserfahrungen aus. Der ominöse Berater Dr. Peter Joe Bircher, von dem ihr Mann oft erzählt hatte, wurde für sie mehr und mehr zu einer greifbaren Figur. Die Eindrücke, die sie mit all ihren Sinnen während dieser wenigen Stunden von ihrem Gegenüber bekam, verdichteten sich in ihrem Kopf zu einem Ganzen - zu einem Menschen. Für sie ganz eindeutig und klar: zu einem ehrgeizigen Menschen. Dazu klug und mit der Sicherheit, die eine fundierte Ausbildung bieten kann. Ein Theoretiker, der seine recht geschickten ersten Schritte in der Praxis machte. Charmant war er obendrein, dieser Berater.
Peter war von der Intelligenz und vom weiblichen Charme seiner Gastgeberin hingerissen. Er fand in ihr eine „Schwester im Geiste“, so formulierte er es scherzhaft für sich selbst.
Das letzte Glas tranken sie alle gemeinsam in der lauen Sommernacht auf der Panorama-Terrasse. Danach verabschiedete sich Peter und fuhr auf dem schnellsten Weg nach Hause. Es war kurz nach Mitternacht – um diese Zeit gab es kaum noch Verkehr auf den Strassen.
Der spät genossene Kaffee führte dazu, dass Peter nicht gleich einschlafen konnte, obwohl er sehr müde war. Er versuchte nochmals, den Abend gedanklich durchzugehen und die Eindrücke, die er gewonnen hatte, zu ordnen. Für ihn war jetzt plötzlich eine neue Schachfigur aufs Brett gezaubert worden. Und das mitten in der Durchführungsphase. Was hatte das für sein Konzept zu bedeuten? Welche Strategie verfolgte der Alte mit dieser Einladung? Welche Auswirkungen könnten sich für ihn selber ergeben? Es gelang ihm nicht mehr, all diese Fragen vernünftig für sich selber zu beantworten. Mitten in diesen intensiven und für ihn wichtigen Überlegungen glitt er erst in eine Art Wachtraum, um anschließend übergangslos in einen tiefen Schlaf zu fallen.
In der folgenden Woche baute Peter die ganzen Änderungen, die er als Merkpunkte nach dem Besuch beim Alten im Wagen diktiert hatte, in sein Konzept ein. Da diese Veränderungen von der Sache her logisch und leicht nachvollziehbar waren, musste er im Konzern wenig Überzeugungsarbeit leisten, damit diese neuen Punkte akzeptiert wurden.
Im nächsten Monat wurden die Kennzahlen, die Peter von den einzelnen Bereichen bekam, noch besser. Die Konzeptänderungen machten sich schon in sehr kurzer Zeit positiv bemerkbar.
Darüber freute sich natürlich Peter sehr – aber was ihn störte dabei, war, dass er in seiner Analyse des Privatbesuches beim Alten immer noch nicht weiter kam. Hauptsächlich auf die Frage, was hinter der Strategie der privaten Einladung des Alten steckte, fand er keine schlüssige Antwort. Es gab verschiedene Möglichkeiten, die – jede für sich genommen – alle Sinn machten.
Bis zum besagten Abend kannte Peter nur den Alten. Er hatte immer angenommen, dass die Argumente, die er mit dem Alten diskutierte, vom Alten entwickelt worden waren. Könnte es sein, dass der Alte nicht eigenes Gedankengut präsentierte, sondern das, was seine Gattin für ihn „vordachte“? War er nicht der Vater dieser Gedankengänge, sondern nur der Bote für IHRE Ideen? Hatte er seinen Kontrahenten monatelang unterschätzt und dabei gleichzeitig den eigentlichen Gegner gar nie zu Gesicht bekommen?
Oder eine andere Möglichkeit: Der Alte stammte aus einer sehr traditionsverbundenen Familie. Daraus ergaben sich für ihn automatisch bestimmte gesellschaftliche Zwänge. Diese private Einladung war einfach zu diesem Zeitpunkt fällig gewesen. Dass sich dabei ein intensives Gespräch zwischen seiner Gattin und dem Gast ergeben hatte, war eher zufällig. Aber gefallen hatte es dem Alten ganz offensichtlich nicht.
Eine dritte Variante: Hatte der Alte seine eigene Ehefrau, wie auch Peter, richtig eingeschätzt und gewusst, dass sich die beiden bestens ergänzten? Und wollte er vielleicht diese Konstellation in irgend einer Weise für sich nutzbar machen?
Peter wurde aus der Situation nicht klug – und diese Unklarheit schaffte in seinem Inneren Unsicherheit. Er fühlte sich in seiner Haut nicht mehr ganz wohl, obwohl doch das Konzept, für jeden sichtbar, äußerst erfolgreich umgesetzt wurde. Die Anerkennung, die ihm seitens der Führungsmannschaft des Konzerns, aber auch seitens seiner eigenen Firma entgegengebracht wurde, steigerte sich mit jeder Erfolgsmeldung. Ein Journalist in der bedeutendsten Wirtschaftszeitung verstieg sich sogar schon zum Ausdruck „großer Sanierer“, den er im Zusammenhang mit Peters Namen in einem Leitartikel brachte.
Mit seinem Chef wollte er sich über die offenen Fragen unterhalten. Aber auch von dort kam keine positive Unterstützung, oder gar eine konstruktive Antwort. Nur eine unverblümt ausgesprochene Drohung: „Keine Affären, bitte, mit Ehefrauen unserer Klienten“. Der Chef fürchtete um den guten Ruf seiner Beratungsfirma. Das gute Konzept seiner Firma führte zum Großauftrag; die Umsetzung zeigte mehr als nur die ersten positiven Ergebnisse; Dr. Peter Joe Bircher war „sein Mann“, der das Projekt bestens durchzog. Warum sollte er also Gedanken an solche Details verschwenden, wenn alles wie am Schnürchen lief? Er hatte nicht nur keine Antworten auf Peters offene Fragen – er hatte auch keine Lust, sich damit ernsthaft auseinander zu setzen.
Peter fühlte sich alleine gelassen. Er spürte, dass sich seit dieser privaten Einladung einiges in seiner Arbeitsweise, ja, sogar einiges in seinem Leben verändert hatte. Aber er war nicht in der Lage, zu sagen WAS es war.
Auf dem Weg von seinem Chef zurück in sein eigenes Büro blieb er am großen Fenster im Korridor stehen. Von der obersten Etage des Bürogebäudes hatte er einen herrlichen Panoramablick. Er konnte über die Stadt bis in die Vororte sehen. Ganz im Hintergrund glänzte eine silbern glatte Fläche: der See, der zu Füssen der Villa des Alten lag. Gedankenvoll blickte er in diese Richtung und ertappte sich dabei, wie er sich versuchte vorzustellen, was im Moment die Gattin des Alten wohl dort machen würde. Dieses Gedankenspiel war ihm nicht unangenehm. Und dann durchzuckte ihn ein Einfall. „Mensch“, sagte er zu sich selbst, „warum bin ich da nicht schon lange drauf gekommen? Mein Chef hatte vielleicht recht – die Frau des Alten war in ihn verliebt“. Instinktiv trat er einen Schritt zurück, so als ob von diesem Gedanken eine Gefahr für ihn ausgehen würde. Nach der ersten Überraschungssekunde setzte sofort wieder sein analytisch arbeitender Denkapparat ein. Er schloss die Augen und versuchte diesen Gedanken möglichst distanziert und emotionslos von verschiedenen Seiten zu betrachten und zu beurteilen. Sein Gehirn arbeitete furios; er glaubte, eine ganz wichtige Entdeckung gemacht zu haben – praktisch den Schlüssel für all seine offenen Fragen gefunden zu haben. Mit schnellen Schritten ging er in sein Büro zurück, schloss die Türe hinter sich zu, um ganz ungestört nachdenken zu können. Außerdem nahm er den Telefonhörer und legte ihn neben den Apparat. Niemand und nichts durften ihn jetzt stören.
Noch einmal ging er die von ihm schon erkannten Theorien bezüglich der Hintergründe des privaten Besuches beim Alten durch. Drei hatte er gefunden – jede für sich genommen schlüssig.
Und jetzt kam ein völlig neuer Gedanke dazu: Die Frau des Alten war verliebt in ihn. Sah sie in ihm nicht nur den potenten Sanierer des Konzerns, sondern einen Mann, vielleicht sogar einen Geliebten? Peter spürte, wie sich, trotz der angenehm durch die Klimaanlage heruntergekühlten Temperatur, einige Schweißtropfen ihren Weg durch sein Brusthaar suchten. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, es mit einem Phänomen zu tun zu haben, das ihm völlig fremd war. Liebe war irrational. Dr. Peter Joe Bircher war ein Kopfmensch. Und so begann er diese vierte Theorie zu analysieren. Er ging systematisch vor. Was sprach für diese Theorie? Und welche Argumente konnte er dagegen aufführen?
Die Frau des Alten war wesentlich jünger als ihr Mann. Sie war eine aktive und attraktive Persönlichkeit, was man von ihrem Mann nicht unbedingt behaupten konnte. Die letzten Jahre im Konzern mit allen sich zuspitzenden Problemen machten ihm schwer zu schaffen und zeichneten ihn. Früher war er vielleicht anders, das konnte Peter nicht beurteilen. Sein intensives Pflichtgefühl der Firma gegenüber machte es für ihn selbstverständlich, jeden Tag zehn und mehr Stunden für den Konzern zu arbeiten. Seine Frau musste also fast zwangsläufig zu kurz kommen. Dieses Argument schien für Peter stichhaltig zu sein: Die Frau des Alten war eine vernachlässigte Ehefrau. „Wie im billigen Schundroman“, dachte er für sich selbst. Aber ein ebenso stichhaltiges Gegenargument viel ihm nicht ein. Er notierte sich gedanklich diesen Punkt auf die „Haben-Seite“ seiner Überlegungen.
Als nächstes erinnerte er sich daran, wie sich die Frau des Alten über seinen Blumenstrauß gefreut hatte. Diese echte und ungekünstelte Freude. Er erinnerte sich auch daran, was damals sein erster, spontaner Gedanke war: „wann hatte sie wohl zum letzten Mal Blumen geschenkt bekommen?“ Im Licht dieser neuen, vierten Theorie, bekam dieser Gedankenblitz wesentlich mehr Gewicht. Auch hier fand Peter kein Gegenargument und verbuchte den Gedanken ebenfalls auf der Haben-Seite.
Das Gespräch an jenem Abend hatte sich zwar im wesentlichen um das Konzept und somit um den Konzern und um die Arbeit von Peter gedreht. Dazwischen hatte sie aber immer wieder versucht, Details aus dem Leben von Peter zu erfahren. War das Interesse geboren aus Zuneigung? War das nur oberflächliches Interesse aus reiner Höflichkeit dem Gast gegenüber? Peter schwankte – er konnte diesen Punkt nicht eindeutig zuordnen.
Der nächste Punkt: Es war im Konzern allgemein bekannt, dass die Frau des Alten viel privates Kapital in den Konzern gesteckt hatte. Damals, vor rund dreißig Jahren, hielt sie einen beachtlichen Anteil der Aktien des Konzerns. Bedingt durch die vielen Kapitalaufstockungen lief ihr Aktienpaket natürlich jetzt nur noch in der Kategorie „ferner liefen“. Konnte sie früher mit ihrem Stimmrecht durchaus Einfluss auf den Lauf der Dinge im Konzern nehmen, schrumpfte diese Möglichkeit hauptsächlich in den letzten, den kritischen Jahren auf ein Minimum. Das bedeutete also für sie faktisch einen direkten, empfindlichen Machtverlust. Versuchte sie jetzt mit dem Mittel der Liebe, Peter so zu beeinflussen, dass er ihr wieder zu mehr Macht und Vermögen verlieh? Liebe wäre der Garant für sie, dass mehr Wasser auf ihre Mühle flösse. Dieses Argument hatte einen durchaus strategischen Aspekt. Damit konnte Peter sehr gut umgehen. Er bewunderte die Raffinesse dieser Frau. Arbeitete ihr Hirn nach den gleichen Mustern wie sein eigenes? Peter lehnte sich im Sessel zurück. Die Frau des Alten – seine Schwester im Geiste – und er: ein gutes Gespann um das Konzept zum Nutzen der Aktionäre erfolgreich umzusetzen? Warum nicht. Er nickte gedankenverloren vor sich hin. Aber: welche Rolle sollte denn in dieser Konstellation der Alte spielen? Eine neue, komplizierte Frage tat sich auf. Peter notierte sie und beschloss, später nach einer Antwort zu suchen. Er wollte sich zuerst auf die Strategie „Liebe“ konzentrieren
Liebe an sich war Peter fremd. Er war ein Kopf- und Machtmensch. Er war kein Beziehungsmensch. Obwohl er jetzt schon im so genannten besten Mannesalter war, hatte er – abgesehen von einigen sehr oberflächlichen Bekanntschaften – keine echte Beziehung zu einer Frau. Aber Liebe als strategisches Mittel, um ein gewisses Ziel zu erreichen: das konnte er sich sehr gut vorstellen.
Nach dem üblichen, kurzen Abendessen aus dem Kühlschrank legte sich Peter auf die große Dachterrasse, die zu seiner Wohnung gehörte. Über sich ein grenzenloser Sternenhimmel und der Widerschein der vielen Lichter der Großstadt. Er suchte die ihm bekannten Sternbilder und sog die kühle, erfrischende Abendluft tief ein. Ein gleichmäßiger Verkehrslärm bildete eine zwar gut wahrzunehmende, aber nicht direkt störende Geräuschkulisse. Peter entspannte sich. Seine Gedanken drehten sich um diese vierte Theorie. Nicht hektisch, sondern in konzentrierter Ruhe und Gelassenheit.
Also: insgesamt 4 Theorien lagen jetzt vor. Einige von ihnen ließen sich sogar gut und sinnvoll kombinieren – und in ihrer Kombination gewannen sie noch an Realitätsnähe.
„Liebe“, sagte sich Peter, „was bedeutet das eigentlich? Wie zeigt sie sich? Was fühlt man dabei? Welche Prioritäten setzt sie?". Alles kompliziert für Peter, da im Moment noch sehr wenig greifbar für ihn.
Er versuchte es zuerst mit Systematik. Das hatte er gelernt – mit diesem Instrument konnte er gut umgehen. Er suchte nach Synonymen für das Wort „Liebe“. Ausdrücke, mit denen er vielleicht mehr anfangen konnte. „Liebe“, „Zärtlichkeit“, „Warmherzigkeit“. Dies waren die ersten Begriffe, die ihm dazu einfielen.
Gut. Liebe äußert sich durch Zärtlichkeit. Gab es die bei seinem Treffen mit der Ehefrau des Alten? Zum wiederholten Male ließ er den Film vor seinem inneren Auge ablaufen. Es gab das helle Leuchten in ihren Augen, und das bezaubernde Lächeln. Beides war ihm damals schon aufgefallen und er hatte es sich gemerkt. Aber war das Zärtlichkeit? Vielleicht leuchteten ihre Augen immer, und dieses einnehmende Lächeln schenkte sie jedem Besucher. Emotioneller, und somit vielleicht zärtlicher waren die gelegentlichen Berührungen. Immer, wenn sie in ihrer Diskussion einen weiteren Verbesserungspunkt im Konzept ausmachten und dafür auch eine Lösung fanden, legte sie wie verschwörerisch ihre Hand auf seinen Arm. Dieser Geste maß er damals überhaupt keine Bedeutung bei. War das Zärtlichkeit?
Verdammt, warum tat sich Peter mit diesen menschlichen Seiten der Realität nur so schwer? Sachliche Argumente konnte er meisterhaft, wie ein Chefchirurg sezieren und wieder neu gruppieren. Damit konnte er elegant spielen. Warum nicht mit Äußerungen des Gefühlslebens? Alle anderen schafften das doch auch – warum er nicht? An diesem Morgen im Büro nahm er sich vor, sich sofort Fachbücher aus diesem Spezialbereich zu besorgen. Er wollte lernen und verstehen. Vor so einem einfachen Problem konnte er doch nicht kapitulieren. Nicht er – Dr. Peter Joe Bircher.
Der Alte selbst kam nie mehr auf diese private Einladung zu sprechen. Für ihn schien alles erledigt zu sein. Oder hatte er nur seine gesellschaftliche Pflicht erfüllt? Peter hatte nicht den Mut, ihn direkt darauf anzusprechen. Er fühlte sich nicht sicher genug, das zu tun. Lediglich etwa eine Woche danach erwähnte er, dass seine Frau Petra sich an jenem Tag von dem wunderschönen Blumenstrauß, den Peter damals mitgebracht hatte, trennen musste. Immerhin hatte sie es geschafft, ihn über eine Woche schön und frisch zu halten. Jetzt war er endgültig verwelkt.
Durch diese Aussage, die beiläufig in einem Gespräch erwähnt wurde, hatte Peter wenigstens zwei Dinge erfahren, die ihm heute wichtig waren: Erstens wusste er definitiv, dass das Blumengeschenk in der damaligen Situation goldrichtig war. Und zweitens erfuhr er, dass sie mit Vorname Petra hieß. Bis jetzt war sie für Peter immer nur die Frau des Alten. Er wäre gar nie auf den Gedanken gekommen, sich nach ihrem Vornamen zu erkundigen. Sie mit dem Vornamen anzusprechen war für ihn geradezu eine abstruse Idee.
„Petra und Peter – Geschwister im Geiste“ murmelte Peter vor sich hin. Er wiederholte diesen Satz, die Aussprache von mal zu mal modulierend. Es musste sich wie eine Beschwörungsformel angehört haben. Beim letzten Mal ergänzte er den Satz: „Petra und Peter – Geschwister im Geiste – verbunden durch Liebe?“. Er war verwirrt.
In der Mittagspause ging Peter in die nahegelegene Fachbuchhandlung für Psychologie und Esoterik. Er ließ sich von der Verkäuferin alle Fachbücher, die etwas mit dem Phänomen „Liebe“ zu tun hat einpacken. Die Frau hielt diesen Kunden für leicht verrückt; aber im Hinblick auf den bedeutenden Umsatz, den sie gleich kassieren würde, versagte sie sich ein spöttisches Lächeln. Was hatte der nur vor, mit all diesen Büchern?
Auf dem Weg zurück ins Büro deponierte Peter die kiloschwere Last in seinem Auto in der Tiefgarage.
Den ganzen Nachmittag kreisten seine Gedanken um die „Liebe“ und um Petra. Wertvolles für seine Firma tat er in diesen Stunden nicht. Überrascht schaute ihm die Empfangsdame im Erdgeschoss des Bürogebäudes nach, als er vor Dienstschluss schon nach Hause ging. Das war bisher noch nie vorgekommen.
Zuhause machte sich Peter sofort an die Arbeit. Die Bücher hatte er auf seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer aufgetürmt. Bewaffnet mit Bleistift, Papier und Marker machte er sich an das Studium der Unterlagen. Er hatte wenig Zeit. Er suchte in den Inhaltsverzeichnissen nach Kapiteln, die ihm gezielt das gewünschte Wissen vermittelten. Alles, was ihm nebensächlich, oder überflüssig erschien, ließ er links liegen.
Als er sich früh um drei Uhr ins Bett legte, glaubte er, einiges begriffen zu haben und erste Antworten auf seine Fragen gefunden zu haben.
Ja, die Synonyme, die er für den Begriff der Liebe fand, waren durchaus treffend – aber es gab noch eine Menge mehr davon. Die wissenschaftlich aufgebauten Bücher halfen ihm am meisten weiter. Zu diesen Werken hatte er den besten Zugang. Rein esoterische Werke legte er schnell wieder auf die Seite. Die waren nicht seine Welt; sie waren ihm fremd und fast suspekt.
Er fand viele Bestätigungen für seine vierte Theorie – aber es kamen auch erhebliche Zweifel auf. Reagierte eine verliebte Frau so, dass sie sich auch Wochen nach dieser ersten Begegnung nicht bei ihm meldete? Es gab keinen Anruf, kein Brief – nichts. Gut, sagte er sich, Petra ist kein verliebter Teenager, der den Angebeteten mit Telefonaten und Liebesbriefen bombardiert. Klar. Petra war eine reife Frau. Gerade ihre Besonnenheit war es ja, die er an ihr bewunderte. Oder wartete sie einfach auf ein Zeichen von seiner Seite? Musste sie gewisse gesellschaftliche Konventionen einhalten? Durfte, oder wollte sie ihren Mann nicht brüskieren?.
Verdammt – wieder neue und komplizierte Fragen für Dr. Bircher. Und auch in den Büchern fand er keine schlüssige Antworten. Er fühlte sich erneut unsicher.
Auf keinen Fall wollte er den ersten Schritt tun. Das könnten nicht nur Petra und ihr Mann falsch verstehen, sondern auch sein Chef. Er sann also auf eine günstige Gelegenheit, um den Dialog mit Petra wieder aufnehmen zu können. In einer Form, die völlig harmlos war für beide.
Petra, die ihn liebte. Er mochte diesen Gedanken, obwohl er für ihn noch nicht fassbar war. Er fühlte, dass es etwas Positives war.
3. Der Schnitt
Peter fuhr mit seinem Wagen ins Büro. Ein dünner Regen machte den Asphalt nass und ließ die Kegel der Scheinwerfer auf der glatten Fläche tanzen. Wenn er im Büro ankommen wird, werden bereits die neuen Wochenstatistiken auf dem Schreibtisch liegen. Das Verfahren der wöchentlichen Berichterstattung wurde für alle leitenden Mitarbeiter längst zur Routine. Ein Mitarbeiter aus Peters Abteilung fasste die einzelnen Daten zu einem Konzernbericht zusammen und unterlegte sie mit aussagekräftigen Diagrammen. Mit einem Blick konnte Peter die weitere Entwicklung des Projektes kontrollieren. Insgesamt waren jetzt schon 37% aller Aufgaben abgearbeitet. Eine Kontrolle auf dem großen Netzplan, der an einer Stellwand im Büro hing, zeigte ihm, dass sie insgesamt einen Vorsprung von vier Arbeitstagen herausgearbeitet hatten. Beachtlich. Wenn keine unvorhergesehenen Komplikationen auftraten, konnte er das ganze Projekt zum vereinbarten Termin umsetzen. Vielleicht sogar ein paar Tage früher. Peter war stolz auf seine Leistung.
Zwei Kennzahlen entsprachen diese Woche nicht seinen Wünschen. Er vereinbarte für den späten Nachmittag mit beiden verantwortlichen Bereichsleitern getrennte Termine. Es sollten dort die erforderlichen Änderungen diskutiert und dann beschlossen werden. „Wehret den Anfängen“ – das hatte Peter schon auf der Hochschule gelernt. Nur so können Missstände schnell und wirksam bekämpft werden. Peter ließ nichts anbrennen!
Von diesen Korrekturgesprächen hatte er schon einige hinter sich gebracht. Er schaffte es immer, gemeinsam mit den Verantwortlichen eine Lösung zu finden und die Kurven zeigten jeweils kurz danach wieder in die von allen gewünschte Richtung. Als Vorbereitung zu diesen Gesprächen erinnerte er sich immer wieder gerne an eine Situation, die er während des Studiums in USA erlebt hatte. Es war damals eine fast absurde Idee. Einer der Professoren hatte die Idee, ein Rededuell zu organisieren, das einen völlig realitätsfremden Hintergrund hatte. Zu diesem Zweck wurde schlicht die Historie verdreht. Er kreierte folgende Situation: Im zweiten Weltkrieg standen sich Amerika und Deutschland nicht als Gegner gegenüber, sondern diese beiden Nationen kämpften Seite an Seite gegen die Rote Macht. Peter, als Student aus Europa, wurde jetzt die Rolle zugedacht, als „Botschafter Deutschlands“ das Regierungskonzept der braunen Führung möglichst gut dem amerikanischen Volk zu verkaufen.
Dass Peter damals schon diese Rededuelle liebte, wissen wir bereits. Dass er sich peinlich genau darauf vorbereitete, können wir leicht erraten. Er las jede Menge Literatur zum Thema. Kriegstagebücher der Generalität, von einfachen Soldaten, aber auch von der Zivilbevölkerung. Strategiepapiere der Regierung ebenso wie Reden, die führende Persönlichkeiten im Tausendjährigen Reich hielten. Natürlich fehlten auch keine Analysen und Aufsätze aus der Nachkriegszeit über den Verlauf des Zweiten Weltkrieges. Es waren Berichte aus den Reihen der Befürworter und der Gegner aus vielen Ländern dabei. Peter war, wie immer, sehr gründlich in der Vorbereitung.
Der Anfang des Rededuells war zäh und schwierig. Sein Gegenspieler versuchte, ihn gleich zu Beginn auf das Thema „Antisemitismus“ festzunageln. Peters Argumente dazu waren zwar elegant vorgetragen, man spürte aber genau, dass er nicht hinter einer Politik des Antisemitismus stand. Mehr noch, diese ganze braune Theorie der damaligen Machthaber, wie auch der verschiedensten Nachfolge-Organisationen war im zuwider. Er sträubte sich mit jeder Faser seines Körpers dagegen. Entsprechend leicht waren seine Ausführungen auch zu widerlegen, bzw. zu parieren. Einfacher wurde es dann für ihn bei den Themen „Lebensraumerweiterung in Richtung Osten“. Es fiel Peter leicht, in der damaligen Politik eine gewisse Logik zu erkennen. Wenn ich im eigenen Lande ein hungerndes Volk habe, dann liegt es nahe, die Kornkammern Russlands zu erobern. Ebenso war die Idee der braunen Machthaber sicher richtig, sich der Ölfelder zu bemächtigen, um beim Treibstoff unabhängig zu sein. Eine große Armee mit weitgesteckten Zielen musste mobil bleiben. Panzer, Flugzeuge, Lastwagen – alles musste rollen. Außerdem, vor dem fiktiven historischen Hintergrund eines Zusammengehens der Mächte USA und Deutschland, gab es ja in diesen Punkten viele gemeinsame Interessen und Ziele. Hier fand Peter wieder zu seiner alten Hochform zurück und konnte brillant überzeugen. Die Zuhörer waren beeindruckt. Er setzte noch einen Pluspunkt oben drauf, als er die Theorie des Propagandaministers erläuterte. Peter verstand es, die Idee in wenige Worte zu fassen. Es ging darum, dem eigenen Volk eine Vision darzustellen, die ihm eine wünschens- und erstrebenswerte Situation in der Zukunft versprach. Und auf dem Weg dorthin musste man ständige Erfolgsmeldungen streuen. Bestätigungen dafür, dass die Vision schrittweise zur Realität würde. Sollten sich die Erfolge nicht planmäßig einstellen, dann mussten getürkte und gefälschte Frontberichte über den Äther geschickt werden.
Die folgende Kritik des Professors fiel recht positiv aus.
Die Korrekturgespräche mit den beiden Verantwortlichen am späten Nachmittag verliefen erstmals anders; für Peter nicht zufriedenstellend. Es kam deutlich zum Ausdruck, dass zwar die beiden Bereichsleiter fest hinter den gemeinsam verabschiedeten Zielen standen, dass sie es aber nicht schafften, diese Ziele bei ihren eigenen Mitarbeitern durchzusetzen. Der Widerstand aus der zweiten und dritten Reihe wurde für sie übermächtig. Sie waren kurz davor aufzugeben und verlangten von Peter eine Korrektur der Ziele nach unten. Natürlich konnte und wollte Peter auf diese Forderungen nicht eingehen. Er versuchte, seinen Gesprächspartnern neue Argumente zu liefern, die diese als Munition gegen die ihnen untergebenen Mitarbeiter einsetzen konnten. Es nützte wenig. Auch in den kommenden Wochen würden die Kurven in die falsche Richtung zeigen.
Obwohl Peter – für alle erkennbar – mit vollem Elan für die Umsetzung seines Konzeptes kämpfte, in seinem Inneren gab es daneben noch eine intensive Auseinandersetzung, die um die Kerne „Petra“ und „Liebe“ kreiste. Kreisen ist in diesem Zusammenhang ein ausgezeichneter Begriff, denn Peter drehte sich im wahrsten Sinne des Wortes im Kreise. Wie er auch die ganzen Argumente drehte und wendete – er kam einer Klärung keinen Schritt näher. Von Petra kam nichts. Im Umgang des Alten mit ihm konnte er keine Veränderung feststellen. Er hatte lediglich den Eindruck, dass der Alte immer etwas müder und grauer erschien.
Als Peter nach einem sonnigen, warmen frühherbstlichen Wochenende am Montag wieder ins Büro kam, überraschte ihn sein Chef mit einem knappen Telefonanruf. Er bat ihn, schnellstens zu ihm zu kommen. Auf dem Weg zum Chefbüro überlegte Peter fieberhaft, was wohl der Grund für diese plötzliche Vorladung sein könnte. Er konnte keinen finden.
Doch die Situation klärte sich schlagartig. Der Chef informierte ihn in dürren Worten über die Tatsache, dass der Alte in der Nacht zum Montag verstorben sei. Herzinfarkt. Völlig unerwartet für alle.
Peter schnürte es die Kehle zusammen. Der plötzliche Verlust eines Menschen, mit dem man Tag für Tag eng zusammengearbeitet hatte, tat weh. Klar. Doch ein ganz anderer Aspekt drängte sich kurz danach in die Gedankengänge von Peter: Der Alte war in Peters Konzept eine fest integrierte Figur mit einer klar umrissenen Aufgabe. Sie war jetzt plötzlich weg und hinterließ eine klaffende Lücke. Peter hatte in seiner Strategie für den Konzern noch nicht an eine Nachfolgereglung gedacht. Ein unverzeihlicher Fehler, war doch längst bekannt, dass der Alte in wenigen Monaten in Pension gehen würde. Jetzt war er einige Monate früher weg vom Fenster. Peter musste schnell eine Lösung finden, damit das gesamte Projekt nicht Schaden litt.
Diese Gedanken bemächtigten sich mit Macht Peters Gehirn. Sie drängten nach einer sofortigen Problemlösung. Erst Stunden später kam die Frage auf, was denn jetzt mit Petra passieren würde, mit der Witwe. Wie fühlte sie sich? Wie ging das Leben für sie weiter? Sicher trauerte sie um ihren Gatten, denn, dass sie ihn liebte, war ja immer offensichtlich. Aber konnte sich jetzt, wo sie allein war, das Verhältnis zu Peter ändern? Konnte er eine andere, eine neue Rolle in ihrem Leben spielen? Und wie wird sich das ganze im Zusammenhang mit dem Projekt darstellen?
Peters Aufgabe bestand in erster Linie darin, das Projekt erfolgreich durchzuziehen. Dafür wurde er bezahlt. Folgerichtig stellte er die Gedanken um Petra zurück und konzentrierte sich darauf, eine Lösung bezüglich der Nachfolge des Alten zu finden.
OK. Es war ein Fehler, nicht im Vorfeld an eine sinnvolle Nachfolgeregelung gedacht zu haben. Sein Chef brauchte ihm diesen Schwachpunkt gar nicht länger zu erläutern. Peter sah das sofort ein. Er versprach, schnellstens Lösungsvorschläge zu unterbreiten, die schon am nächsten Tag bei einer einberufenen Krisensitzung den Verantwortlichen im Konzern präsentiert werden konnten.
Dieser Montag Nachmittag und die darauf folgende Nacht waren hart für Peter. Er prüfte und verwarf unzählige Ideen für die Nachfolge des Alten. Aus dem Konzern hatte keiner wirklich das Zeug dazu, in die Schuhe des Alten zu schlüpfen. Es rächte sich jetzt die Strategie des Alten, keinen so richtig an seiner Seite hochkommen zu lassen. Es waren zu viele Ja-Sager im Konzern und zu wenige echte Freidenker, die er jetzt gebraucht hätte. Dies traf auch auf die noch übrig gebliebenen Tochtergesellschaften zu. Der Geschäftsführer von einer der Tochtergesellschaften zog Peter kurzfristig in die engere Wahl, ließ ihn aber nach eingehender Prüfung wieder fallen.
Warum musste eigentlich Peter, als Berater, die richtige Lösung finden? War das nicht eine primäre Aufgabe, die der Konzerns intern lösen musste? Nein. Peter wollte es sich nicht so leicht machen. Er kämpfte weiter für einen guten Vorschlag. Am Abend telephonierte er mit verschiedenen Persönlichkeiten aus der Industrie, von denen er sich eine Hilfe bei der Entscheidungsfindung erwartete. Vielleicht war ja gerade eine gute Kraft frei? In der jetzigen Krisensituation der heimischen Wirtschaft drehte sich das Personal-Karussell schnell.
Alle Gespräche verliefen ergebnislos. Es war zum Wahnsinnig werden. Die Uhr tickte und Peter war noch meilenweit von einem konstruktiven Vorschlag entfernt. Oder um es ganz klar zu sagen: Er hatte noch keinen Schimmer von einer Lösung parat.
Ein Gedanke zuckte ihm durch den Kopf: Was wäre, wenn er den Chefsessel für sich in Anspruch nähme? Er hatte sich im Zusammenhang mit der Erstellung des Konzeptes und mit dessen Umsetzung monatelang sehr intensiv mit dem ganzen Konzern beschäftigt und hatte somit mehr Ein- und Durchblick als viele Insider. Als Generalist war er für so eine übergeordnete Position prädestiniert. Er war im richtigen Alter dafür: jung genug, um durchsetzungsstärker zu sein als der Alte und trotzdem schon so alt, dass er keine jugendlichen Flausen mehr hatte, die dem Konzern hätten schaden können.
Dieser Gedanke beflügelte ihn und seine Phantasie. Er stellte sich vor, wie er nun bei den wichtigen Besprechungen des Konzerns den Platz des Alten am Konferenztisch einnahm; wie er nun letzte und endgültige Entscheidungen traf. Röschen als seine Sekretärin – und kein ernsthafter Widersacher mehr im ganzen Konzern. Er lehnte sich entspannt in seinem Arbeitsstuhl zurück. Aber nicht lange.
Peter riss sich zusammen und zwang sich wieder zurück in die Wirklichkeit. Natürlich konnte er unmöglich sich selber als Nachfolger des Alten vorschlagen. Er war zwar von sich und seinen Fähigkeiten überzeugt, hatte aber auch Stil. Er konzentrierte sich wieder auf andere Personen. Doch keine kam wirklich in Frage.
Als Peter am nächsten Morgen mit schweren Augen im Büro des Chefs erschien, musste er seine Niederlage eingestehen. Er konnte kein Nachfolgekonzept vorstellen. Nicht einmal einen konstruktiven Ansatz dazu. Einfach nichts. Es war niederschmetternd für ihn. Noch nie kam er sich selber so klein und hilflos vor.
In der Konzernzentrale ließ sich der Chef schon seit Wochen nicht mehr blicken. Peter war sein Mann, der alle Fäden sauber in der Hand hielt. Er vertraute seinem Mitarbeiter. Aber zur Krisensitzung nach dem Tod des Alten erschien er wieder. Hier musste er persönlich intervenieren. Und aus dem Vorgespräch am Vormittag wusste er ja schon, dass Peter keinen Lösungsvorschlag vorweisen konnte.
Der Chef nahm wie selbstverständlich den früher für den Alten reservierten Platz ein und somit automatisch den Vorsitz in der Krisensitzung. Mit einer Schweigeminute, die alle im Stehen verbrachten, gedachte man dem Verstorbenen. Danach legte der Chef eine längere Pause ein, um allen die Möglichkeit zu geben, sich im kleinen Kreis auszutauschen. Das Problem war allen klar. Sofort bildeten sich kleine Gruppen von Mitarbeitern, die intensiv diskutierten und gestikulierten. Peter und der Chef beobachteten die einzelnen Gruppen mit großer Aufmerksamkeit; sie versuchten aus den Gesten und aus der Art der Gruppierung auf den Inhalt des jeweiligen Gesprächs zu schließen. Ergab sich daraus ein Ansatz für die Nachfolgelösung? Nach dieser Pause gab der Chef die offizielle Diskussion über die Nachfolge an der Konzernspitze frei. Wie nicht anders zu erwarten war, bildeten sich schnell einige Gruppen heraus, die versuchten, ihre eigenen Interessen in den Vordergrund zu rücken und zu „verkaufen“. Die Arena für die Ellbogenkämpfe war frei. Der Chef als Vorsitzender und auch Peter konnten sich sehr zurücknehmen und sich auf die Rolle des Moderators konzentrieren. Auch das war vorauszusehen: die einzelnen Gruppen rieben sich gegenseitig auf – nach einer Stunde heißer Diskussion war man wieder am Ausgangspunkt angelangt – die Nachfolgeregelung war wieder völlig offen.
An dieser Stelle griff der Chef ein. Er bat um Ruhe im Konferenzsaal und stellte dann seine eigene Idee vor: Dr. Peter Joe Bircher als Nachfolger des Alten. Er würde Peter für mindestens 6 Monate in seinem Beratungsunternehmen für den Konzern frei stellen, erläuterte er seinen Plan. Die Verantwortlichen des Konzerns sollten dann dieses halbe Jahr nutzen, um einen langfristigen Nachfolger aufzubauen, bzw. zu bestimmen.
Nicht nur Peter wurde durch diesen Vorschlag überrascht – auch die meisten im Führungsgremium. Die dem Vorschlag folgende Diskussion kam erstaunlich schnell zu einem positiven Ende. Eine offene Abstimmung ergab mit 56% der abgegebenen Stimmen eine klare, wenn auch nicht eine überzeugende Mehrheit für Peter. Die beiden Bereichsleiter, bei denen die Korrekturgespräche nicht zielführend waren, gehörten zu den 44% die gegen Peter stimmten.
Und so kam es, dass Peter an diesem Nachmittag die Konzernzentrale nicht als Berater verließ, sondern als ihr Boss. Sein geheimer Traum wurde wahr – und das schneller als er je erwarten konnte.
War er jetzt glücklich? Ein ähnliches Gefühl nahm von ihm Besitz wie damals, als er vom Alten damit beauftragt wurde, das Konzept zu realisieren. Eine Mischung von Euphorie, von „jetzt krempeln wir die Ärmel hoch“-Stimmung, aber auch von einer Erwartungshaltung, die schon durch die Entwicklung der Logik vorgegeben war: „Dieser Posten stand mir doch schon lange zu!“ Peter musste sich in der neuen Umgebung und in der neuen Situation erst orientieren und zurechtfinden. Der Schritt vom Berater zum Boss war für alle Beteiligten nicht einfach.
4. Petra
Am späten Nachmittag dieses Montags saß die Witwe allein im Wohnzimmer der Villa und blickte gedankenverloren auf den kleinen See, der sich im Licht der untergehenden Sonne spiegelte. Kurz vor Mittag wurde ihr Mann abgeholt; schnell, geräuschlos und professionell trugen die Leute vom Bestattungsinstitut den Sarg hinaus. Für einen ruhigen Abschied, wie sie ihn sich gewünscht hätte, blieb keine Zeit. Davor und danach die hektischen Telefonate. Alle mussten gleichzeitig informiert werden: die Familie, der Konzern, die Behörden und Versicherungen. Und jetzt die erste ruhige Minute. Allein.
Vor einer halben Stunde hatte sie ihr Gewährsmann in der Führungsriege des Konzerns angerufen und sie über Dr. Birchers Nominierung informiert. Er versuchte in wenigen Sätzen zu schildern, wie es zu der Entscheidung kam und vergaß auch nicht darauf hinzuweisen, dass die Wahl nur mit knapp mehr als der Hälfte der Stimmen zu Stande kam.
Tausend Dinge schossen ihr gleichzeitig durch den Kopf: Ihr Mann tot – sie allein – Peter als neuer Chef des Konzerns. Das Leben wird sich für sie stark verändern. Aber wie? Auch sie musste ihre Karten neu ordnen.
Ihrem kleinen Sekretär entnahm sie eine Karte, setzte sich hin und schrieb Peter von Hand ein paar Glückwünsche zu seinem Erfolg. Es waren herzliche Worte, aber sorgfältig so dargestellt, dass sie nicht zu herzlich und zu direkt wirkten. Es war ihr wichtig, dass Peter schon am Folgetag diesen Brief erhalten sollte. Sie wollte seine Reaktion darauf sehen. Seit der Abendeinladung hatte sie keinen persönlichen Kontakt mehr zum Berater – und jetzt zum Nachfolger ihres Mannes. Vielleicht war morgen der richtige Zeitpunkt für ihn gekommen.
Warum hatte er sich eigentlich in der ganzen Zeit nie bei ihr gemeldet? Was hatte sie falsch gemacht? Hatte er wirklich etwas gespürt? Sie hatte es an jenem Abend so geschickt eingefädelt. Gut, ihr Mann war immer da und stand gewissermaßen zwischen ihr und Peter. Und Peter war ein kluger und vorsichtiger Mensch. War er auch ängstlich? Blieb er deshalb stumm? Ein leiser Ärger stieg ihr von der Magengrube her auf.
Und jetzt ist alles anders. Vielleicht wird er nach Erhalt der Karte reagieren – da war es ja schon eine Art Pflicht, sich zu bedanken. Wird es mehr werden, als nur Pflicht?
Petra hatte mit ihrem Mann oft und gern darüber gesprochen, wie sich das Projekt weiter entwickelte. Dabei waren die Berichte ihres Gatten oft zwiespältig. Einerseits lobte er die Zielstrebigkeit, Ausdauer und das Durchsetzungsvermögen seines Beraters, andererseits waren es aber oft ganz ähnliche Punkte, die ihm stark missfielen: Peter gab sich mit jedem erreichten Teilziel arroganter. Der Erfolg stieg ihm in den Kopf. Er wurde mehr und mehr zur Erfolgsmaschine. Ihr Mann hatte genügend Lebenserfahrung, um so etwas mit der nötigen Distanz zu beurteilen, ohne dabei verletzend zu werden. Ihr Mann sah die Zukunft des Konzerns langfristig nicht rosig, wenn das Konzept des Beraters mit konsequenter Härte bis zum Schluss verfolgt würde. Die durchaus positiven Ansätze verkehrten sich im Laufe der Zeit ins Negative. Der ursprünglichen Begeisterung für das Konzept des Beraters folgte mit der Zeit eine Demoralisierung der Mannschaft. Teams innerhalb des Konzerns, die noch vor einigen Jahren wie Pech und Schwefel zusammengehalten hatten, und im Bewusstsein ihrer gemeinsamen Stärke fast die Welt aus den Angeln heben konnten, fielen auseinander. Der Leistungsdruck einerseits und der Wunsch des persönlichen Erfolges andererseits, statt des Gruppenerfolges, ruinierten von innen die Struktur des Konzerns. Peter verstand es, die Außenfassade des Konzerns neu erstrahlen zu lassen. Dafür höhlte er die menschliche Substanz aus.
Hätte Petra die Diskussionen während der Pause in der Krisensitzung hautnah mitbekommen, wäre ihr klar geworden, dass ihr Mann die Situation richtig eingeschätzt hatte.
Und jetzt hatte Peter nicht mehr nur die Möglichkeit zu beraten. Jetzt hatte er das Ruder ganz allein in der Hand. Wohl und Wehe des ganzen Konzerns, und somit auch von Petras Aktienpaket lag in seiner Hand. Ein ehrgeiziger und rücksichtsloser Mensch rückte an die Spitze des Konzerns. Vielleicht nur kurzzeitig, ja. Aber im Moment war es ein Faktum.
Der erste Gang am Dienstag Morgen war für Peter in die Villa der Witwe. Er musste jetzt einfach Petra sehen. Nach so langer Zeit und nach einer so umwälzenden Veränderung in ihrem und in seinem Leben. Für beide war es ein Wendepunkt.
Seine Sicherheit, die er sonst in geschäftlichen Dingen souverän an den Tag legte, wich mit jedem Kilometer, den er sich der Ville näherte. Wie würde Petra auf alles reagieren? Auf sein langes Schweigen und auf die Nominierung zum Boss des Konzerns? Wird sie ihn als Gegner ihres Mannes, oder als dessen Nachfolger sehen? Immer wieder diese „menschlichen“ Fragen, auf die er so selten eine richtige Antwort fand.
Äußerlich fand er Petra kaum verändert. Ihre Erscheinung war nach wie vor elegant und drückte die gleiche Herzlichkeit aus, wie beim ersten Besuch. Nur ihre Stimme wirkte trauriger, dunkler. Die Augen leuchteten, wie er es sich erhofft hatte. Diese Augen sah Peter oft im Traum.
Sie nahm sein Beileid dankbar entgegen. Ihre Trauer war genau so echt, wie damals die Freude über Peters Blumenstrauß echt war. Starke innere Gefühle konnte Petra nicht verbergen. Sie konnte sie zügeln und steuern, aber niemals verbergen. Dazu war sie als Mensch zu spontan. Petra war eine Frau, die zwei Eigenschaften in sich vereinigte, die man in dieser Form selten findet: Spontaneität und die Fähigkeit des langfristigen, strategischen Denkens. Eine typisch weibliche Eigenschaft in Kombination mit einem eher männlichen Attribut. Peter war vom ersten Moment des Besuches an wieder fasziniert von dieser Frau.
Peter war ein gut erzogener Mensch. Ihm war klar, dass der erste Gesprächspunkt der Verstorbene sein musste. Seine Leistung als Mensch und als Boss des Konzerns. Erst danach konnte der Blick in die Zukunft gerichtet werden. Da Petra schnell spürte, was ihm ein Pflichtanliegen war und was ein inneres Anliegen, brachte sie das Thema ganz schnell auf den Erfolg von Peter und auf seine Zukunft. Damit wurde dem Gespräch auch die Zwangsjacke der Konvention genommen. Es wurde lockerer und lebhafter.
Hinter den bereits erzielten Erfolgen und den für die nächsten Monate geplanten Aktionen, die Peter jetzt als Boss des Konzerns in eigener Verantwortung natürlich noch pushen wollte, stellte sich für Petra im Laufe des Gespräches immer deutlicher die Gestalt ihres toten Gatten. Wie hätte ER an Stelle von Peter gehandelt? Was wären für IHN die Maximen seines Denkens und Handelns gewesen?
Je mehr sich Peter, der begnadete Selbstdarsteller, in Rage redete, desto mehr zog sich Petra von ihm und von seinen Vorstellungen und seinen Erfolgsphantasien zurück.
Peter wurde ihr mit jedem neuen Argument, das er vorbrachte, mehr suspekt.
Nach knapp zwei Stunden bat sie Peter, zu gehen. Sie gab vor, etwas Ruhe zu brauchen, nach all den Aufregungen am letzten Tag.
Peter verabschiedete sich von ihr mit dem Versprechen, sie bald wieder zu besuchen, wenn sie dies wünschte. In ihm bestärkte sich das Gefühl von „Petra – seiner Schwester im Geiste“, denn sie ließ ihn geduldig alle seine Ziele und Instrumente, mit denen er beabsichtigte diese Ziele zu erreichen, vor ihr ausbreiten. Sie war eine beharrliche Zuhörerin. Es fiel Peter in seinem Eifer nicht auf, dass von ihrer Seite diesmal kaum Anregungen und Kritik kamen. In Gedanken war er schon dabei, sein Büro auf der Chefetage des Konzerns einzurichten.
Petra öffnete die große Glastüre und ging auf die Terrasse hinaus. Die Herbstsonne war noch richtig intensiv. Sie genoss es, von dieser angenehmen Wärme umschlossen zu sein. Sie drehte das Gesicht der Sonne entgegen und sog die Strahlen förmlich in sich auf. Die Sonne hatte so was menschliches in diesem Augenblick. Sie gab ihr Kraft und Lebenswillen. Als sie in den Raum zurück ging, spürte sie fast körperlich die Kälte, die noch im Wohnzimmer hing, nachdem Peter es verlassen hatte.
Peter, der Mensch, der Ziele brauchte, um im Leben richtig bestehen zu können, war glücklich. Er hatte jetzt nicht nur ein Ziel, sondern ein ganzes Zielesystem, in dem er sich tummeln konnte. Und außerdem hatte er jetzt alle Mittel, die er brauchte, um diese Ziele erreichen zu können. Er war in seinem Element. Und dazu hatte er Petra, seine Schwester im Geiste, die ihn unterstützte, wenn er mal Rat brauchte.
Der Wechsel von seinem Beraterjob zum Chef des Konzerns ging zwar nicht reibungslos vonstatten, aber alle Widerstände konnte er mit dem Schwung seiner Dynamik aus dem Weg räumen. Er fragte nicht lange, welche Leichen er dabei im Keller begraben würde – für ihn war es der Erfolg, der zählte.
In wenigen Wochen baute er ganze Bereiche um, ersetzte gediente Manager durch jüngere Führungskräfte, die er entweder in der Industrie einkaufte, oder die er von früher her schon kannte, zum Beispiel ehemalige Studienkollegen. Peter spielte seine ganze Macht als Boss aus. Er ließ sich dabei von niemandem in die Suppe spucken.
Dass er von Petra Wochen lang nichts mehr hörte, nahm Peter gar nicht wahr. Er wurde von seiner Erfolgswelle weggetragen – und ließ dies auch gern mit sich geschehen. Erfolg ist angenehm und macht satt – und macht einsam. Aber auf eine so raffinierte Art und Weise, dass es der Betroffene gar nicht merkt.
5. Das Ende
Den Arbeitsbereich von Fräulein Rosa Bühler krempelte er nur wenige Tage nach seinem Amtsantritt völlig um. Das Büro wurde modernisiert. Er legte großen Wert darauf, dass der neue Geist, den er im Konzern verkörperte, auch schon in seinem Vorzimmer gesehen, erkannt und gespürt wurde. Für ganzheitliche Marketingauftritte war Peter immer zu haben. Und hier ging es darum, das Produkt „Dr. Peter Joe Bircher“ möglichst gut und teuer zu vermarkten.
Vom Alten hatte er einfach die Gewohnheit übernommen, Fräulein Bühler freundlich als „Röschen“ zu rufen. Sie war zwar darüber nicht erfreut, ließ es aber mit sich geschehen. Deutlicher Widerstand kam erst, als er ihr einen modernen Computer hinstellen ließ und gleichzeitig den Auftrag gab, die alte Schreibmaschine abzuholen und zu entsorgen. Das ging Fräulein Bühler eindeutig zu weit. Was bildete sich denn der junge Schnösel ein? Immerhin war sie schon seit vielen Jahren im Betrieb und hatte wesentlich ältere Rechte als er. Entschlossen betrat sie sein Büro und beschwerte sich so energisch, wie es ihr möglich war. Peter lehnte sich im Sessel zurück und nahm sich viel Zeit ihr zu erklären, dass solche alten Zöpfe einfach keinen Platz mehr hatten in einem neu strukturierten Konzern. Mit Engelszungen erklärte er ihr, um wie viel einfacher es sei, mit einem PC zu arbeiten, statt mit einer alten Schreibmaschine. Als er merkte, dass der Widerstand langsam abbröckelte, beziehungsweise in Resignation überging, gestattete er seinem Röschen sogar einen jungen Computer-Spezialisten, der sie sorgfältig und umfassend in den Umgang mit der neuen Bürotechnik einführen sollte. Ganz privat und ohne Druck.
Fräulein Bühler willigte ein. Nicht, weil sie überzeugt gewesen wäre, sondern weil sie Angst um ihren Arbeitsplatz hatte. 2 Jahre noch bis zu ihrer Pension. Da wollte sie keinen Job mehr wechseln. Sie akzeptierte also mit zusammengebissenen Zähnen das kleinere Übel von zweien.
Die Reorganisation des Konzerns nahm schnell Form an. Peter konnte auf dem Netzplan verfolgen, dass der Vorsprung gegenüber seiner eigenen Planung in den letzten Wochen sogar noch weiter ausgebaut wurde. Positive Kommentare über den Konzern und über seine Person als Boss aus der Wirtschaftspresse wurden ihm wöchentlich von seiner Presseabteilung zugeleitet. Er verschlang sie anfangs von A bis Z; später las er nur noch die Headlines und die Bildunterschriften. Auch Lob macht satt. Peter musste dem nächsten Teilziel nachjagen.
Dieses Teilziel lag in Frankreich: Der Partner in diesem Lande brachte nicht mehr die Umsätze, die er laut Planung erzielen sollte. Hier war es wichtig, dass der neue Boss Flagge zeigte.
Er bat Röschen, eine Rundreise für ihn zu organisieren. Da er auch noch verschiedene Kunden besuchen wollte, entschloss er sich, diese Reise mit seinem Wagen zu machen. Wie sie es früher für den Alten tat, buchte Röschen die Hotels und vereinbarte die geschäftlichen Besprechungen peinlich genau. Vorausschauend baute sie in den engen Zeitplan Reserven ein, falls es Probleme mit dem Verkehr gab. Peter plante für die Reise insgesamt drei Tage ein. Am Sonntag Abend wollte er wieder zu Hause sein.
Fräulein Bühler konnte nicht mehr. Ihr wurde alles zuviel. Dieser Mensch schaffte sie mit seinem Ehrgeiz. Am Abend kramte sie zuhause aus ihrer Dokumentenmappe ihren Arbeitsvertrag. Das Papier war schon fast vergilbt. Auf der zweiten Seite fand sie die Unterschrift vom Alten – damals noch richtig schwungvoll und forsch - daneben die Unterschrift des damaligen Personalchefs und dann ihre eigene, klein und exakt. Was sie aber suchte war etwas anderes: die Kündigungsfrist.
Als Röschen am Freitag Abend ihr Büro verließ, legte sie die Kündigung, die sie zuhause auf ihrer eigenen Schreibmaschine schrieb, ganz oben in die Postmappe auf Peters Schreibtisch. Peter würde bestimmt am Sonntag Abend, nach der Rückkehr aus Frankreich, noch ins Büro gehen und dann als erstes über ihre Kündigung stolpern. Fräulein Bühler freute sich diebisch über diese Vorstellung. Es war wenig, was sie diesem arroganten Menschen antun konnte – aber das Wenige tat sie genüsslich. Außerdem freute es sie jetzt, dass der alte Arbeitsvertrag niemals überarbeitet wurde. Die damals übliche, sehr kurze Kündigungsfrist hatte somit auch heute noch Gültigkeit. Wenn sie alle Überstunden abfeierte, konnte Röschen dem neuen, sterilen, dafür modernen Büro schon in zwei Wochen endgültig den Rücken zuwenden. Wann hatte Fräulein Bühler zum letzten Mal eine lustige Melodie gesummt, als sie ihr Büro zum Wochenende verließ? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern! Heute trällerte sie wie eine Lerche.
Peters Geschäftsreise verlief ohne Zwischenfälle. Er schaffte es sogar schneller als geplant, die Partner wieder „auf Vordermann“ zu bringen. Seinen letzten Termin hatte er am Samstag in der Nähe von Nizza. Bevor er mit den französischen Geschäftspartnern zum Abendessen ging, rief er Petra an. Er war stolz darauf, ihr zu berichten, dass er in der Tochtergesellschaft einiges umgekrempelt hatte. Auch den dortigen Vertriebsleiter, dem die schwachen Leistungen anzulasten waren, hatte er gefeuert.
Petra versuchte anfangs noch, ihn zu bremsen, ihn auf die Unmenschlichkeit seines Verhaltens hinzuweisen, ihn sogar davon abzubringen. Aber sie redete gegen eine Wand. Peter war auf diesem Ohr absolut taub. Er konnte und wollte nicht hören. Aber er spürte, dass die Atmosphäre des Gespräches mit Petra kühler war, als früher.
Was hatte diese Frau nur? Er rackerte sich ab, um den ausgehöhlten Wert der Aktien wieder mit Substanz zu füllen, um die Erfolgskurven des Konzerns nach oben zu bringen. Er führte das Lebenswerk ihres Mannes auf den richtigen Weg und in Bahnen, von denen der Alte nur träumen konnte. Und sie fing an ihn zu bremsen. Peter verstand die Welt nicht mehr.
Das gemeinsame Essen etwas oberhalb von Nizza in einem sehr feinen Restaurant war üppig und ganz nach dem Geschmack von Peter. Der Abend war noch so warm, dass die kleine Gruppe von Geschäftsleuten auf der Terrasse über dem Meer sitzen konnte. Nach dem letzen Kaffee und Cognac und einer schönen Zigarre trennten sich die Herren und machten sich auf den Heimweg. Peters Hotel lag etwa zwanzig Kilometer in Richtung Osten, nahe der kurvenreichen Küstenstrasse. Die Nachttemperatur war noch so angenehm, dass er die Mechanik surren ließ, um das Verdeck an seinem schwarzen Wagen zu öffnen, dann fuhr er los.
Röschen hatte am Samstag ganz für sich allein einen faulen Tag eingelegt. In der Vorfreude auf den baldigen Abschied von ihrem jetzt ungeliebten Job war sie erst in der Stadt, machte einige Einkäufe und setzte sich dann in ein Kaffee. Nach dem Abendessen ging sie mit einer Freundin ins Kino und kam erst kurz vor Mitternacht nach Hause. Am Sonntag, wollte sie in aller Ruhe ausschlafen.
Beim Frühstück drehte sie den Fernseher auf und sah sich die Frühnachrichten an. Sie erwartete nichts Sensationelles – die üblichen Meldungen aus dem Nahen Osten und über die schlechte Wirtschaftslage. Eine kurze Meldung über einen Unfall im Süden Frankreichs schreckte sie auf. Hinter dem Nachrichtensprecher war ein Bild von einem Auto zu sehen, das über eine Klippe ins Meer gestürzt war. Sie konnte auf die Schnelle zwar nicht die Autonummer erkennen, dafür aber deutlich das Nationalitäten-Kennzeichen und die Marke des Fahrzeuges. Sie war sich fast sicher, dass es sich um das Auto ihres neuen Chefs handelte. Was war zu tun?
Sie zog sich ganz schnell an und fuhr sofort zu ihrem Büro. Als Vertraute des Alten hatte sie schon vor vielen Jahren einen Schlüssel bekommen, der ihr den Zutritt zu jeder Zeit gestattete. Am Telefon versuchte sie Klarheit zu bekommen, ob wirklich ihr Chef verunfallt war. Mehr und mehr wurde es zur Gewissheit: Dr. Peter Joe Bircher war tot.
Röschen ging in das Büro ihres Chefs und nahm ihre Kündigung wieder aus der Postmappe. Das Problem hatte sich jetzt für sie erledigt. Dann ging sie nach Hause.
Im Bericht der französischen Polizei wurde der Hergang des Unfalles sehr genau rekonstruiert und – so weit es möglich war – auch dokumentiert. Es gab zwei Punkte, die darin nicht schlüssig waren: Der Sicherheitsfanatiker Dr. Bircher war zur Zeit des Unfalles nicht angeschnallt. Er wurde aus dem stürzenden Fahrzeug katapultiert und gegen einen Fels geschleudert. Wahrscheinlich war er auf der Stelle tot. Der andere Punkt bezog sich auf die Ursache des Unfalles. Warum kam das Fahrzeug von der Fahrbahn ab? Und warum an einer Stelle, die völlig ungefährlich war und wo es auch keine spezielle Fahrbahnabgrenzung zum Abhang gab? Diese beiden Fragen konnte niemand abschließend beantworten.
Im Nachruf, der am Montag in der nationalen und internationalen Wirtschaftpresse erschien, wurden die sagenhaften Erfolge des Jungen Top-Managers gerühmt. Sein Tod riss eine Lücke in die Reihe der Besten.
Petra wurde von Frl. Bühler über den Unfall informiert. Obwohl Röschen den Hörer längst aufgelegt hatte, hielt ihn Petra nach dem Gespräch noch minutenlang in der Hand. In Gedanken ging sie nochmals die letzten Monate durch. Es war viel, sogar sehr viel passiert. Danach ging sie auf die Terrasse, sog die feuchte Herbstluft tief ein und dankte ihrem Mann dafür, daß seine Weitsicht über seinen Tod hinaus reichte. Er hatte sie sicher vor großen Fehlern bewahrt.
Danach rief Petra ihre Bank an und gab den Auftrag, ihr gesamtes Aktienpaket noch am gleichen Tag günstigst zu verkaufen. Sie wollte einen endgültigen Schlußstrich ziehen. Den leichten Kursgewinn, der sich nach dem Absacken der Kurskurve in den letzten Jahren ergab, nahm sie mit.
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