Das Projekt – Ein aussichtsloser Kampf
Er war neu in der Firma. Natürlich würden wir nett zu ihm sein. Über frische Gesichter freute man sich hier. Aber wir hatten keine Zuversicht, dass er lange bleiben würde. Seit fast einem Jahr suchte die Firma vergeblich nach Ersatzpersonal für das Projekt. Und jeden, der dafür gekommen war, hatten sie innerhalb von kurzer Zeit gekündigt. Die meisten hielten es keine drei Wochen aus.
Als er gemeinsam mit dem Projektleiter durch die Büroräume schritt, um uns alle kennenzulernen, stellte ich mir die Frage, ob sie jemals begreifen würden, dass das Projekt eine tote Sau war. “Stimmt etwas nicht, Brina?” Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie inzwischen neben mir standen. “Sorry, bin nur etwas k/o, weil ich schlecht geschlafen habe.” Ich hatte gelogen, und jeder wusste es, auch der Projektleiter. Er wusste ganz genau, was mir durch den Kopf ging. Und ich wusste: Sogar er hatte Mitleid mit dem armen Neuling. Nur dieser hatte als Einziger meine Lüge geglaubt. Sie gingen weiter.
Er hielt seinen Vertrag noch am selben Tag in der Hand. Probezeit: sechs Monate. Obwohl die Chefetage noch immer versuchte, das Projekt am Leben zu halten, musste sie der Tatsache ins Auge blicken, dass es unwahrscheinlich war, dass unser neuer Kollege länger blieb. Er bekam sein eigenes Büro, sodass ihn niemand störte und er sich voll und ganz auf das Projekt konzentrieren konnte. Er durfte jederzeit Pause machen und sogar sein Telefon abschalten. Der Projektleiter würde ihn vor jeglichem Kundenkontakt schützen.
Montag. Mein Weg zur Küche führte mich an seinem Büro vorbei. Er hatte schon am ersten Tag gemerkt, worauf er sich eingelassen hatte. Die Fragezeichen über seinem Kopf brachen fast durch die Decke. Und es war keine halbe Stunde vergangen, bis er seine erste Rauchpause machte. Er stand allein vor dem Eingang mit seiner Zigarette in der Hand. Ich konnte nur ahnen, was ihm durch den Kopf schoss: “Ach, du Scheiße! Bin ich der Aufgabe gewachsen? Ist irgendjemand der Aufgabe gewachsen?”
Den Mittag verbrachte er im Büro. Er hatte schon so oft Kaffee- und Zigarettenpause gemacht, dass er wahrscheinlich ein schlechtes Gewissen bekommen hatte. Ich hatte Mitleid mit ihm. Am liebsten hätte ich ihn besucht und ihn zu uns eingeladen, nur um ihn ein wenig abzulenken und zu trösten.
Am Abend hatte sich seine Ratlosigkeit bereits in Verzweiflung verwandelt. Bei meinem letzten Gang zur Küche saß er mit verborgenem Gesicht über seiner Tastatur. Er musste sich fühlen wie ein elendiger Versager. Doch er hatte nicht versagt. Das Projekt hatte ihm von Anfang an keine Chance gegeben. Ich empfand das dringende Bedürfnis, ihm das mitzuteilen, doch ich tat es nicht.
Wir fuhren alle unsere Rechner herunter – auch er. Der Projektleiter hatte ihn angewiesen, stets pünktlich Feierabend zu machen, ohne Ausnahme. Das war kein Test. Auch ihm war bewusst, wie er sich fühlte, und er hatte bereits in der Vergangenheit mitangesehen, wie seine Vorgänger freiwillig zahllose Überstunden machten, um ihre Aufgabe in den Griff zu bekommen; natürlich vergeblich. Ich erinnerte mich an sein strahlendes Lächeln, als der Projektleiter ihn mir vorstellte. Als er nach seinem ersten Arbeitstag mit Jacke, Tasche und gesenktem Kopf an mir vorbeiging, war nichts mehr davon übrig. Kaum ein Tag war vergangen, und er war völlig am Ende. Ich wollte ihn schnappen und umarmen, ihn streicheln und ihm sagen, dass alles wieder gut wird. Aber ich ließ ihn gehen.
Freitag. Zwei Wochen waren seit diesem Tag vergangen. Inzwischen hatte ich mich an ihn gewöhnt. Gesprochen hatten wir nicht, und dennoch fühlte ich mich irgendwie zu ihm verbunden. Wahrscheinlich war es Mitleid. Und er war nicht der erste, für den ich so empfand. Ich hoffte, dass er auf irgendeine Art spüren konnte, dass ich Mitleid mit ihm hatte – dass wir alle Mitleid mit ihm hatten. Ich hoffte, er wusste, dass es nicht seine Schuld war.
Am Montag blieb sein Büro leer. Er hatte sich krankgemeldet. Einige Kollegen kicherten. Sie hatten Wetten darüber abgeschlossen, wann die erste Krankmeldung kommen würde. Offenbar gab es einen Gewinner. Jedenfalls war das das Ende seiner Laufbahn bei uns. Er würde nicht mehr wiederkommen. Die Firma würde ihn bald kündigen. Ich war traurig und erleichtert zugleich.