Das Problem
Es ist warm. Zu warm, sie schwitzt. Alles ist schrecklich feucht und warm. Druckwellen, dumpfe, immer stärker werdende Druckwellen. Von Innen, dieser furchtbare Druck, nach Aussen. Pochend und schwer. Bestrebt, zu entweichen, ohne es zu können. Gefangen. Schmerzhaft, unerträglich! Luft. Sie braucht Luft!
Tageslicht. Gnadenloses, unerwünschtes Tageslicht presst sich durch ein kleines vergittertes Fenster. Verschwommene Wahrnehmung einer weissen Decke und vier weissen Wänden. Ein Zimmer. Ein kokain-weisses, leeres Zimmer, sehr sparsam eingerichtet, bloss mit einem Waschbecken ohne Spiegel und einer Glühbirne an der Decke ausgestatet. Und noch ein Bett, indem sie liegt. Ein kleines, unbequemes, verschwitztes Bett. Ein Sumpf aus Schweiss.
Sie setzt sich auf die Bettkante, bleibt eine Weile sitzen. In den schwachen, aufgedunsenen Gliedern pulsiert das Blut. Die Beine sind schwer und träge. Das aufstehen gelingt ihr, ist jedoch sehr kräfteraubend und fühlt sich an, als würden sich ihre Beine in ihren Bauch rammen.
Nach und nach erwacht ihr Empfinden, sie spürt sich wider. Leider. Alles tut weh. Ihr Körper, so scheint es, ein Wrack. Am Boden ein Stück rechteckiges Plastik. Ein transparenter Plastikbeutel mit ihren Personalien beschriftet, scheint also ihr zu gehören. Sieht aus wie eines dieser luftdichten Plastiktütchen in denen man das Gras aufbewahrt, nur viel grösser. Darin Münzen. Genug Münzen um Zigaretten zu kaufen. Sie muss nach draussen, frische Luft schnappen, Energie tanken, eine rauchen. Weg hier!
Die Tür ist glücklicherweise nicht abgeschlossen und die Klinke lässt sich problemlos bedienen.
Es folgt ein langer, weisser Flur, auch leer und unbekannt. Links und rechts davon Türen, in gleichmässigem Abstand. Genau so kahl, wie alles Andere was sie bisher gesehen hat.
Während sie sich so den Gang entlang schleppt, mühsam und geplagt von den - verdammt noch mal! - bestialisch betäubenden Kopfschmerzen, fragt sie sich zum ersten mal, wo sie eigentlich ist. Wie bin ich hier hin gekommen und vor allem: wieso? Was ist geschehen? Wo sind meine Sachen? Vielleicht, denkt sie sich, vielleicht liegt es an den Kopfschmerzen oder ganz einfach daran, dass ich erst gerade aufgewacht bin, keine Ahnung. Totaler Filmriss. Black-Out. Warscheinlich wieder zu viel getrunken am Vorabend. Zu viele oder zu starke Drogen genommen. Das passiert.
Eine Frau! Da vorne sitzt eine Frau! Eine eine mittleren Alters. Reglos und allein sitzt sie in diesem Nebenraum. Ein Wartezimmer, wies ausschaut. Unscheinbar, ja fast so, als existiere sie nicht, sitzt da eine Frau in der Ecke. Vielleicht raucht sie.
„Guten Morgen, hallo! Ich möchte sie nicht stören, bin ein wenig verwirrt und finde mich hier nicht zurecht. Hätten Sie eine Zigarette für mich oder wissen Sie, wo ich welche kaufen kann?“
Nichts, nichts als Schweigen. Keine Antwort, keine Reaktion. Man will nicht unhöflich sein, es sich nicht verscherzen mit dieser Frau die da so sitzt und nichts tut, ausser den Kopf hängen lassen. Diese Frau sieht nicht glücklich aus aber auch nicht gerade traurig. Irgendwie komisch sieht sie aus, sehr komisch sogar. So, als hätte man ihr das Leben ausgehaucht und sie als zerrüttete, unscheinbare und blasse Hülle zurückgelassen. Sie trägt ihr Haar praktisch-kurz, eine Art Altweiberfrisur. Zeitlos, stillos und unvorteilhaft, aber eben praktisch.
Noch dazu sehr fettiges, strähniges Haar. Vereinzelt graue Haarpartien, hervorstechend im dunklen Schopf. Das aufgequollene Gesicht ist von einer Talgschicht überzogen. Kraterartige Vernarbungen auf den Wangen, Pickel auf der Stirn. Die Hände rissig und spröde, die Nägel kurz und ungepflegt. Sie trägt eine blaue Stoffhose im Hochwasser-Look und passend dazu ein ausgeleiertes, ausgewaschenes, oranges Kurzarmshirt und warschinlich keinen BH darunter. Alles fad und farblos, vernachlässigt und verbraucht. Eine Hülle an die niemand denkt, nicht einmal die Hülle selbst. Eine vergessene Hülle.
Plötzlich, ganz unerwartet und langsam, hebt sich ihr Kopf. Ihr Blick, so leer und sonderbar wie man es von so einer Gestalt eigentlich auch zu erwarten hat.
„Ich heisse Iris, und du?“ , antwortet sie unsicher und leise während sich ihre Stimmlage nicht verändert, und sich ihre spröden Lippen kaum bewegen. Keine Antwort, eine Gegenfrage. Und noch dazu eine sehr forsch formulierte (da ist man endlich volljährig, wird aber trozdem stinkfrech mit DU angesprochen!!!), viel zu persönliche Frage.
„Mein Name ist Dreher, Frau Anna Dreher.“, antwortet Frau Dreher und wiederholt ungeduldig die Zigaretten-Frage.
Iris raucht nicht. Iris hat nie geraucht, weil sie es einfach nie ausprobiert hat, wie Frau Dreher interessanterweise erfährt. Iris hat aber nichts gegen Raucher auszusetzen. Sie erzählt von einem Automaten am anderen Ende des Flurs, bietet sich als Wegbegleiterin an. Ok, das geht noch. Frau Dreher hat ihr verfügbares Guthaben an Geduld restlos ausgeschöpft und keine Lust, durch Herumirren in diesem Gebäude noch mehr davon zu verschwenden, und macht sich mit Iris auf den Weg.
„Du bist neu hier, stimmts?“ , fragt Iris, diesmal nicht mehr ganz so unsicher.
„Ja. Genauer gesagt: ich war noch nie hier und habe nicht die leiseste Ahnung wieso ich überhaupt da bin. Ich weiss nur, dass ich so schnell wie möglich wieder gehen werde! Aber zuerst brauche ich eine Zigarette. Gehen wir!“ , antwortet Frau Dreher etwas genervt.
Endlich, das Ende des Flurs ist in Sicht! Das Flurende, eine Glastür, ebenfalls mit klinischem Charme.
„Jetzt musst du alleine weiter, ich kann dich nicht begleiten, weil ich die Station nicht verlassen darf.“ , so Iris, vor der Glastür stehend. Die Iris hat offenbar ein Problem.
Aber noch bevor Frau Dreher etwas erwidern kann, was sie nämlich gerne tun würde, da sie das Wort “Station” einwenig beunruhigt, fragt Iris:
„Weißt du denn schon, wann du wieder gehen kannst?“
Gehen können? Können?! Man kann doch immer gehen, einen Ort verlassen, an dem man sich nicht wohl fühlt und sowieso gar nicht hinwollte. Das ist doch kein Problem! Außer: man sitzt gerade beim Infomorgen vom Arbeitslosenammt, steht im Weihnachtsausverkauf in Zürich hinter der Kasse einer Zara Filliale oder hört sich eine, vom kleinen Bruder selbstausgedachte Blockflötenkomposition an.
„Ich kann gehen wann und wohin ich will. Und das werde ich auch tun, sobald ich Zigaretten gelkauft habe. Aufwiedersehen und danke fürs Begleiten! “
Eine Glastür knallt zu.
Nachdem passieren der Glastür gelangt kommt in einen runden, geräumigen Saal. Eine Art Empfangsbereich, sehr hell und freundlich. Davon zweigen einige weitere Flure ab. Im vorderen Bereich, dem Himmel sei Dank, ein in Sonnenlicht getauchter Eingang mit elektronischer Schiebetür. Für Frau Dreher ein Ausgang, eine Möglichkeit frische Luft zu atmen, zu rauchen, sich zu erholen. Einfach weg zu können und dieses trostlose Gebäude hinter sich zu lassen. Frau Dreher entdeckt den Zigarettenautomaten im Eingangsbereich und schreitet hastig quer durch den Raum. Es stellt sich heraus, dass dieser Automat nur nach Einwurf eines Jetons funktioniert. Sie schaut sich um und entdeckt eine Person die Ihr entgegeneilt.
„ Anna! Ich habe dich gesucht! Komm mit, ich bringe dich auf deine Station. Patienten die mit einem FFE eingewiesen werden dürfen ihre Station in den ersten Wochen nicht verlassen. Doktor Zimmermann erwartet dich bereits zur Arztvisite. Er wird dir alles erklären. Danach schauen wir weiter. “
„ FFE?! “
„ Das ist ein fürsorglicher Freiheitsentzug und wird durch die Polizei bei Verdacht auf Selbst-oder Fremdgefährdung ausgehändigt. Darauf folgt eine sofortige Einweisung in eine psychiatrische Klinik durch. Du wurdest gestern abend eingewiesen. “
Anna schweigt.