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Das Portal
Bloß nicht auflegen. Meine Fingerkuppe streifte die tückische Taste rechts oben an meinem Mobiltelefon, als ich mich auf den Fahrersitz zwängte, den Mantel noch halb in der Tür, mit der freien Hand nach dem Gurt tastend. Mein Atem jagte die Kälte gegen die Windschutzscheibe. Sie beschlug sofort.
Ruhig, dachte ich, während mich die blinden Scheiben wie ein Kokon umschlossen. Bloß keine Hektik. Bloß nicht auflegen. Lieber die Fingerspitzen an der Außenseite des Telefons aufreihen, sorgsam platziert, als wollten sie einen komplizierten Griff auf der Gitarre üben. Bist du im Auto, fragte Helle, als ich den Motor anließ. Schon die ganze Zeit, log ich. Mein Ärmel hinterließ bogenförmige Schlieren und Fusseln auf der Frontscheibe.
Beim Abbiegen mit einer Hand am Steuer nahm ich den Bordstein mit. Kastanienschalen schmatzten unter den Reifen. Die Motorhaube war scheckig von fünffingrigem Laub. Ein einzelnes Blatt löste sich, flog auf mich zu und verfing sich im Scheibenwischer. Einen einzelnen Tag nur wollte ich herausgreifen aus Helles Erinnerungskompost, einen Tag, der es verdient hatte, nicht zu enden, nicht so.
Ein Tag wie der im Sommer 1999: Ein blauweißer Tag in der Ägäis. Helle, Spetz, Frann, Keule und ich treiben inmitten geschenkter Stunden. Stunden wie Inseln in unserem Leben, Stunden, die nicht dazugehören und von denen wir später träumen, sie wären das eigentliche Leben. Keule malt mit einer Muschel Cartoons in den Sand. Helle betrachtet zwischen seinen Zehen hindurch wie sich Frann mit der Abendsonne im Rücken die Haare flechtet. Sein Blick, sein Lächeln, das an niemand gerichtet ist, seine gespreizten Zehen alles ist Ausdruck seiner Überzeugung: Der Journalist beobachtet. Er ist nicht verantwortlich für das, was geschieht.
Später mischt sich der Duft von Sonne, der aus unserer Haut aufsteigt, mit der Würze von Oktopus auf glühender Holzkohle. Das letzte Funkeln der Sonne über der Bucht. Diese Stelle weit draußen, wo sich das Wasser kräuselt und Schatten zum Himmel wirft. Delfine! ruft Frann. Wir alle schauen mit zusammengekniffenen Augen aufs Meer, und Keule sagt, vielleicht sind es keine, aber Frann flüstert andächtig, ich habe noch nie Delfine gesehen, und Spetz greift seine Kamera und watet bis zu den Hüften ins Meer, um ein Foto mit dem Teleobjektiv zu machen.
Auf den Abzügen sehen wir später das dunkle Meer und hinten rechts drei Wellen wie umgekippte Fragezeichen, und wir erzählen allen in der Redaktion, wir haben Delfine gesehen.
Weißt du noch? Ich weiß, sagte Helle. Das Blatt löste sich von meinem Scheibenwischer und sauste am Beifahrerfenster vorbei. Was ich wohl der Polizei sagen sollte, falls sie mich anhielte: mit 140 Sachen auf der Landstraße, das Handy am Ohr, keine Freisprecheinrichtung. Wie denen erklären, dass ich nicht auflegen durfte? Reporter im Einsatz? Rostige Wälder links und rechts unter einem graphitfarbenen Himmel. Einen Bleistift anspitzen, die Holzspäne wegpusten und die grauen Krümel auf dem weißen Papier verreiben, solche Wolken, weißt du, Helle? Ich weiß, sagte Helle, bei mir auch, und ich atmete auf.
Vielleicht ist er gar nicht so weit weg. Vielleicht gibt es etwas, was uns verbindet. Etwas anderes als diesen Riegel voll Elektronik, der auf Knopfdruck eine Verbindung herstellt zu jemandem, der sagt, erzähl was. Der unsere Worte nimmt, und sie durch Straßen führt, scheckig vom Laub, vorbei an Laternen und Verkehrsschildern, Gartenpforten und Haustüren öffnet, Zimmer aufschließt, in denen sich Trauer versteckt oder Trotz und sie zum Ziel bringt, während wir uns in Einbahnstraßen und Sackgassen verlieren, verzweifelt auf der Suche nach dem Ende eines Fadens, dem wir folgen wollen.
Es fing an zu regnen. Ketten perfekter Tropfen glitzerten im Scheinwerferlicht, bevor sie auf dem Asphalt zersprangen. Manchmal war es kein Trost, Beobachter zu sein. Ich schaltete die Scheibenwischer auf Intervall. Am Stadtrand ließ mich eine rote Ampel bremsen. Ich wollte fluchen, aber das hätte Helle womöglich als Aufforderung verstanden, aufzulegen. Also redete ich weiter, erzählte Helle, was er längst wusste, als könnten meine Worte Ketten bilden und Helle an sein Handy fesseln bis ich ihn fand.
Das Jahr 2000, ein Ausnahmejahr. Überall entstehen Internetunternehmen, in der Branche auch Dotcoms genannt. Wir Journalisten staunen und schreiben und schreiben und staunen. Jeder will unsere Artikel: Tageszeitungen, Anlegermagazine, Fachzeitschriften. Wenn wir zu viel Arbeit haben, nennen wir uns Autoren und verlangen den doppelten Satz – und haben am Ende noch mehr Arbeit. Keule kriegt erstmals mehr Geld für einen Cartoon als eine CD kostet. Er kauft zwei.
Helle erscheint inzwischen mit Krawatte im Büro. Er macht Witze: Bloß weil wir wissen, was es mit der rechten Maustaste auf sich hat, nennen sie uns Experten. Wir vermieten das Haus auf Ios einer Gruppe von Künstlern und schreiben den ganzen Sommer. Über Online-Auktionen, die Macher der New Economy, die Zukunft der Bewegtbilder und die Chancen von Mobiltelefonen. Und Spetz tourt durch die Republik und fotografiert die Aufsteiger an der Börse, die Gewinner der Start-up-Wettbewerbe, die Lieblinge der Webgemeinde.
Weißt du noch, wie sie uns auf der Pressekonferenz in Spanien Palm Tops schenken wollten, sagte ich, als könnten sie uns damit bestechen. Ich weiß, sagte Helle, aber sein Ton verriet mir, dass er nicht an Spanien dachte, nicht an die Pressekonferenz, sondern an jenen Abend, an den auch ich dachte, weil meine Gedanken meinen Worten vorauseilten, so wie die Worte meinem Körper vorauseilten. Jener Abend, an dem der Beobachter zur Verantwortung gezogen wurde. Jener Abend, als Helle Pommes wollte statt Pizza.
Es ist der vierte oder fünfte Abend in Folge in der Redaktion. Auf den Schreibtischen schwimmen die Computertastaturen in einem Meer von Papier, Fotos, Zeitschriften, leeren Weingummitüten. Unsere fünf Monitore heizen stumm das schlecht gelüftete Büro, Helle tigert von einem zum nächsten, einen Kugelschreiber in der Hand, einen zwischen den Lippen. Alle paar Minuten lässt Frann ihr Kaugummi knallen, alle paar Minuten rutscht Keule mit dem Schuh vom Rand seines Papierkorbs ab. Die anderen Abende haben wir Pizza bestellt. Aber jetzt will Helle Pommes, dazu muss einer losfahren, der sie holt: Spetz. Schließlich braucht kein Mensch den Fotografen kurz vor Redaktionsschluss, sagt Helle, und Frann notiert schon mal unsere Bestellungen auf dem Probeausdruck eines Interviews.
Spetz bricht also auf. Und während wir an der Überschrift zu einem Artikel zum Start eines türkischen Webradios feilen und Apfelkorn aus Kaffeetassen trinken, rast er am unbeschrankten Bahnübergang in den Regionalexpress. Er hat wohl gerade mit einer Hand einen Hamburger ausgepackt und das rote Licht nicht gesehen. Wir anderen begreifen es erst, nachdem Helle das Auto gesehen und uns erzählt hat, dass da überall Pommes gelegen haben, die rot waren - vielleicht vom Ketchup.
Es hätte jemand mitfahren sollen, sagt Frann. Jemand hätte die Tüten festhalten und ihm den Hamburger auswickeln sollen. Helle wendet sich schroff ab: Das Bild der Welt hängt immer schief, betrachtet durch den Konjunktiv.
Das Beste, sagte ich, das Beste ist doch, dass er überlebt hat. Eigentlich ein Wunder. Ich weiß, sagte Helle. Diese beiden Worte begannen mich zu ärgern. Unwillkürlich gab ich mehr Gas. Wenn ich schon nicht wusste wohin, wollte ich mich wenigstens beeilen. Mein linkes Ohr wurde heiß, ebenso meine Hand. Wenn nur der Akku nicht schlapp machte. Wann hatte ich ihn zuletzt aufgeladen? Und wie lange seitdem telefoniert? Diese Fragen waren leichter zu beantworten als die andere: Warum ich mit Helle verbunden war und ihn dennoch nicht fand. Ich hörte ihn in meinem Ohr atmen, ohne den Hauch an meiner Wange zu spüren und versuchte mich auf die unbestimmten Geräusche um seinen Atem herum zu konzentrieren. Dabei redete ich davon, wie gut es Spetz inzwischen ging.
Das stimmte nicht ganz, aber so wie Helle nur noch antwortete, um mir zu sagen, dass ihn nichts mehr überraschte, so redete ich inzwischen nicht mehr wegen der Worte, sondern nur noch wegen der Satzzeichen. Komma, Gedankenstrich, Semikolon, Doppelpunkt. Bloß kein Punkt. Erst im letzten Moment merkte ich, dass ich geradewegs auf den Tunnel Richtung Innenstadt zuhielt. Ich legte eine Vollbremsung hin und riss das Lenkrad herum. Fast wäre das Gespräch unterbrochen.
Was ist los? fragte Helle. Manche Leute fahren wie Idioten, sagte ich.
Vielleicht war Helles Idee eine Reaktion auf Spetz‘ Unfall gewesen. Vielleicht hatte er sich aber auch nur anstecken lassen von dem ganzen Hypertext-Halleluja der Branche. Jedenfalls hatte er eines Nachmittags – wir besuchten gerade Spetz im Krankenhaus – verkündet, dass er aufhören würde zu schreiben. Nie, nie mehr würde er schreiben. Er würde Unternehmer werden. Ein Unternehmer, wie es ihn noch nie gegeben hatte. Du bist verrückt, sagt Spetz. Vollkommen bekloppt.
Ein Portal wollte er bauen, eine Website, die alle anderen überflüssig macht. Ein Tor, das sich zu jedem Weg öffnet. Unter dessen Bogen sich auf jede Frage eine Antwort findet – selbst auf die ungestellten. Ich stell dich ein als Webdesigner, sagt Helle zu Spetz. Wenn du schon keine Fotosafaris mehr machen kannst. Und Spetz sieht mich an, als hätte Helle einen Schuss. Das war vor einem Jahr.
Inzwischen wussten wir alle, dass Helle einen Schuss hatte. Deshalb kurvte ich mit achtzig durch die Stadt, mied panisch Tunnel und Bergstrecken und faselte Unwahrheiten in mein Handy. Zum Beispiel, wie sehr ich Menschen bewunderte, die andere mit ihrer Begeisterung ansteckten. Dabei war außer Helle niemand begeistert. Nicht einmal Spetz, der für ihn Websites baute. Wir bekamen Lust, uns ohne Helle zu treffen und gründeten den Stammtisch der Zeugen. Zeugen derer, die mit ansahen, wie aus einem hervorragenden Journalisten ein lausiger Unternehmer wurde. Der eine halbe Million für Internet-Adressen ausgab, weil er seiner Bank zeigen wollte, dass er ein großes Ding drehte.
Spetz hatte die besten Geschichten auf Lager. An Helles Geburtstag hatten alle Portal-Mitarbeiter im Chor frei nach Beethoven für ihn gesungen: Seid verschlungen, Millionen! Das fand Helle nicht witzig. Aber als Spetz sich “Helft mir, ich bin ein Dotcom” auf die Rücklehne seines Rollstuhls schrieb, wurde Helle richtig wütend. Schließlich habe ich es für dich getan, soll er Spetz angebrüllt haben, die Lippen blau von der Kugelschreibermiene, auf der er gekaut hatte, und Spetz hatte nur gelacht.
Die Dotcoms starben, und Helle legte Wert darauf, kein Internetunternehmer zu sein. Das Portal sollte eigentlich eine Zeitschrift werden oder eine Fernsehsendung – aber da waren die Millionen schon weg.
Die Fenster von Helles Wohnung waren alle dunkel, die Einfahrt leer. Auf dem Fensterbrett im Wohnzimmer stand etwas, das aussah wie ein Vogelkäfig. Mir fiel auf, dass ich ihn lange nicht mehr besucht hatte. Ich hatte nicht mal mitbekommen, dass er sich ein Haustier angeschafft hatte. Telefoniert hatten wir zuletzt am 11. September 2001.
Gerade ist das zweite Passagierflugzeug ins World Trade Center geflogen, und wir, die wir sonst jede Tragödie mit flapsigen Sprüchen kommentieren, versteinern vor dem Redaktions-Fernseher, auf dem sich die selben Bilder wiederholen. Mein Handy klingelt. Es ist Helle. Ich bin so froh zu hören, dass es ihm gut geht, als würde er zig tausend Kilometer entfernt in diesen Bürotürmen arbeiten und nicht hier, in der gleichen Stadt.
Du musst beobachten, wie sie berichten, sagt er, und ich höre das Klacken der unsichtbaren Kugelschreiberspitze an seinen Zähnen. Ich bin jetzt Unternehmer, aber du, du musst darüber schreiben. Ich finde keine Worte, hauche ich, während auf dem Bildschirm der erste Turm lautlos in sich zusammensackt und sich die Stimme des Moderators überschlägt, während die von Helle ganz ruhig bleibt.
Diese Stimme begleitet mich, während wir uns durchs Web klicken, die Nachrichtenseiten absurfen, nach Fotos suchen, nach Videos, nach Augenzeugenberichten. Helles Stimme aus dem Telefonhörer rieselt über das Entsetzen und verändert die Szenerie wie Schnee, der einen abgebrannten Wald in eine friedliche Lichtung verwandelt. Wir beobachten nicht mehr das Chaos in New York, sondern das Chaos der deutschen Medien. Und statt uns dem Schmerz unbeantworteter Fragen hinzugeben, beantworten wir Fragen, die sich noch niemand gestellt hat.
Warum kann ich das nicht, dachte ich, als ich mich bei Helle für diesen Artikel bedankte, mit dem ich so oft zitiert worden war. Warum konnte meine Stimme keine Lichtung schaffen, keiner abgebrannten Szenerie neuen Frieden verleihen?
Das Kunststoffgerippe in meinem Armaturenbrett blies mir heiße Luft ins Gesicht. Ein Schweißtropfen kitzelte mit falscher Zärtlichkeit mein Ohr, an das ich das Handy presste, ein anderer rann über meinen Bauch. Aus der Uferböschung schwappte Nebel auf die Straße. Dem Fluss schien sein Wasser zu schwer, er floss träge, seufzend. Ein Schwan flocht seinen Kurs in die grünschwarzen Wellen. Mein Akku piepte. Ich erschrak, suchte nach neuen Worten, die ich zwischen die Satzzeichen stellen konnte, stammelte.
Es war generell kein gutes Jahr, Talfahrt an der Börse, Krise der New Economy, Einbruch des Werbemarkts. Alles Floskeln, die ich in meinen Artikeln wiederkäute. Immer mehr Start-ups gehen pleite. Helle war nicht der einzige. Und er war nicht mal richtig pleite. Seine Investoren unterstützten ihn noch, er musste nur seine freien Mitarbeiter entlassen. Alle Freien. Auch Spetz.
Du könntest wieder als Journalist arbeiten. Ich muss Schluss machen, sagte Helle. Warte, rief ich und trat das Gaspedal bis zum Bodenblech, als ich dem östlichen Ortsausgang entgegenraste. Plötzlich hatte ich eine Ahnung von einem Ziel. Dein Portal, sagte ich, wir werden es bauen. Es wird vielleicht anders aussehen, aber wir werden es schaffen, Spetz wird uns helfen, weißt du? Nein, sagte Helle.
Ich konzentrierte mich auf etwas hinter seiner Stimme und bog rechts ab. Das Tor des Vorstadtbahnhofs wölbte sich wie eine Membran in die Nacht. Dunkelheit leckte seine Konturen. Vor dem menschenleeren Platz hielt ich an, sprang aus dem Wagen und hechtete zum Gleis. Eisiges Konfetti flirrte in meiner Kehle, während ich irgendwas von unzureichenden Gründen in mein Handy krächzte.
Vom Bahnsteig aus sah ich Helle. Er balancierte auf der Schiene, den Rücken zu mir, das Handy am Ohr, den Blick auf die Öffnung des Tunnels gerichtet. Ich hörte seinen Atem an meinem Ohr. Ein warmer, unaufgeregter Atem, und ich sah zu, wie er einen Fuß vor den anderen auf den silbernen Schienenstrang setzte. Dann fuhr der Regionalzug ein.
Fünf oder sechs Tauben stiegen auf und suchten jenseits des Platzes unter dem Bogen des Portals Zuflucht. Aus einem der ersten Waggons sah ein Schaffner den Bahnsteig hinunter. Weiter hinten stieg ein Mann mit Anzug und Aktentasche aus, und öffnete einen Bart-Simpson-Regenschirm. Ich rannte auf ihn zu, bückte mich, um unter den Waggon zu sehen, rannte weiter, rannte zurück, blieb stehen und starrte auf mein Handy. Verbindung getrennt, stand im Display. Der Schaffner pfiff, die Türen schlossen, der Zug fuhr ab.
Ich war allein auf dem Bahnsteig. Feiner Regen sprühte mir ins Gesicht. Die Schienen glänzten silbern. Das Handy klingelte. Es war Spetz. Alles gut? fragte er.
Ich weiß nicht, antwortete ich.