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Das Pochen
Da war es wieder, dieses kurze, stechende Pochen an der Schläfe. Stella war nie gut darin gewesen, dem Arzt zu beschreiben, ob es eher ein stechender oder ein ziehender Schmerz war. Bei ihr war es immer alles, es zog, drückte und stach wie verrückt – jedenfalls, wenn sie mit Schmerzen zum Arzt ging. Meistens wartete sie einfach ab, bis es wieder besser war.
Diesen Kopfschmerz hatte sie noch nicht lange. Er kam, blieb ein paar Sekunden und ging dann wieder, wie ein Fremder, der einen versehentlich im Vorbeigehen streift. Nichts Ungewöhnliches, Überanstrengung, nichts weiter. Sie strich sich kurz mit den Fingern über die Stirn, massierte ihre Schläfen und arbeitete dann konzentriert weiter.
Ein paar Tage waren vergangen, vielleicht eine Woche, vielleicht zwei, sie wusste nicht genau, wann das Pochen zum letzten Mal da gewesen war. Eine Weile hatte es sich still verhalten, heute Morgen war es zurück gekehrt. Sie hatte am Frühstückstisch gesessen, die Zeitung aufgeschlagen auf dem Tisch, ein gekochtes Ei und einen Joghurt vor sich. Plötzlich zog wieder dieser Schmerz durch ihren Kopf. Sie verzog das Gesicht, fasste sich an die betroffene Stelle und rieb sie. Es ging vorbei, wie es bisher immer vorbei gegangen war.
Stella ging regelmäßig zum Zahnarzt, zweimal im Jahr zur Brustkrebsvorsorge, einmal im Jahr zur Generalüberholung. Es gab keinen Grund zur Besorgnis. Und doch begann ein kleines Stimmchen in ihrem Hinterkopf, sich in ihre Gedanken, ihren Alltag einzumischen.
Was konnte es sein? Überarbeitung, Migräne. Verspannungen, die bis in den Kopf zogen. Jeder hatte sowas, jeder kannte es.
Aber wenn es vielleicht doch etwas anderes ist? Stella wollte nicht darüber nachdenken, stand abrupt auf und ging ins Bad.
Die Schmerzen kamen häufiger, stechender, langanhaltender. Stella ignorierte sie, so gut sie konnte. Sie hatte zu viel zu tun, um zum Arzt zu gehen, und wenn sie mal ausspannen konnte, dann waren die Schmerzen auch gleich leichter, manchmal sogar ganz verschwunden. Nein, es war nichts, sie brauchte Urlaub, nur eine Woche, ein paar Tage, vielleicht sollte sie ans Meer fahren, nach Spiekeroog, da hatte es ihr immer gut gefallen, dort konnte sie abschalten.
Sie griff zum Telefon und rief die kleine Pension an, in der sie früher oft gewesen war.
Die drei Tage auf der Nordsee-Insel hatten ihr gut getan, doch kaum war sie wieder eine Woche im Job, pochte es erneut, als klopfe jemand hartnäckig an die Tür. Oder stach es eher wie ein kleines Messer? Beides zugleich, und dann doch wieder ganz anders. Es zog. Es drückte.
Und dabei bleib es. Das Pochen wurde schlimmer, drückender, unerträglich. Eines Tages spürte Stella, wie der Schmerz ihr die Tränen in die Augen trieb. Aus dem Fremden war ein ungeliebter Nachbar geworden, der sich in alles einmischte. Stella machte einen Termin bei ihrem Arzt aus.
Die Untersuchung war recht kurz. Dr. Müller machte ein besorgtes Gesicht und überwies sie zum Neurologen. Mit zittrigen Knien und seinem letzten Satz im Ohr ging sie nach Hause.
"...so was muss ja nicht gleich bösartig sein."
Am dritten Tag nach dem Arztbesuch rief sie den Neurologen an. Die Sprechstundenhilfe fragte, worum es ginge.
"Eine Überweisung vom Hausarzt, wegen Kopfschmerzen." Der Termin war acht Tage später.
Der Neurologe hörte sich an, was Stella erzählte, sah in die Überweisung vom Hausarzt und machte ein ernstes Gesicht. Stella fand diese neue Mode unter ihren Ärzten besorgniserregend, wagte jedoch nicht, nachzufragen.
Er machte ein EEG, lauter kleine Saugnäpfe saßen wie Tintenfischfüßchen auf ihrem Kopf, und sie musste ein paar Aufgaben bewältigen, sich entspannen, lesen, Fragen beantworten. Nach einer halben Stunde ließ der Tintenfisch los, und sie wurde wieder ins Wartezimmer entlassen.
Wieder zurück im Sprechzimmer bekam Stella vom Arzt eine Kernspintomographie verordnet, sie solle am Folgetag wieder erscheinen. Das ginge nicht, da sie arbeiten müsse. er versprach einen gelben Schein, ließ sich auf keine Diskussion ein. Es muss ernst sein, dachte Stella, und traute sich wieder nicht, nachzufragen.
Als sie in die enge Röhre geschoben wurde, überfielen sie die alten Beklemmungen. Unsinn, man erstickt nicht in diesem Gerät. Aber es half nicht, sie hatte Angst, die Wände könnten zu eng sein, könnten auf sie einstürzen. Dass sie sich nicht bewegen durfte, erschien ihr fast schon wie Hohn – sie hätte es nicht gekonnt, selbst wenn sie gewollt hätte. Sie war wie gelähmt.
Das Ergebnis lag schließlich vor, und Stella hörte nur noch ein Wort: Tumor.
Tod. Sie würde sterben, sie war sich sicher. Sie hörte nur dieses eine Wort, der Mund des Arztes bewegte sich unentwegt weiter, schien andere Worte zu formen, doch sie hörte nur immer und immer wieder das eine, schreckliche Wort: Tumor.
Sie wollte raus hier, wankte zur Tür, musste sich am Griff festhalten, der Boden rutschte irgendwie nach oben, die Tür kippte zur Seite weg, alles war in Bewegung. Starke Arme fingen sie auf, trugen sie weg.
Stella wachte auf, und alles um sie herum war grellweiß.
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13.01.2004