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Das Physik-Wiki / Neue Version
Ich hatte damals schon einige Semester Physik studiert, auch einiges an theoretischer Physik. Es war eine spannende Zeit. Die bedeutendsten Physiker der Welt standen in Konkurrenz, um das zu finden, was man als die Welteinheitsformel bezeichnete, ein einfaches Modell, aus dem sich alles harmonisch ableiten lassen sollte.
Für mich fing alles damit an, dass mein Freund Tom mich anrief. Tom hatte mit mir zusammen angefangen Physik zu studieren. Er war der Beste aus unserem Jahrgang und interessierte sich von Anfang an vor allem für theoretische Physik interessiert. Er hatte etwas von einem Genie. Wir bewunderten ihn. Er bekam von uns den Spitznamen „zerstreuter Professor“, denn er hatte nicht nur geniale Ideen, sondern er war gleichzeitig hervorragend darin, Dinge durcheinander zu bringen. Nicht dass er schlampig gewesen wäre, aber er war sehr vergesslich und neigte dazu, wesentliche Dinge zu übersehen. Da er schneller war als irgendwer sonst von uns, blieb ihm bei Tests immer genug Zeit, um seine eigenen Fehler zu entdecken und wieder auszumerzen.
Ich hatte mich mit Tom angefreundet, weil wir zufälligerweise als Zweiergruppe in unserem ersten Praktikum zusammen arbeiteten. Diese Zusammenarbeit funktionierte hervorragend. Er hatte geniale Ideen, aber wenig Spaß an Routinearbeiten. Meine Stärke war es dagegen, solche Routinearbeiten fehlerfrei durchzuführen. Ich war schon immer sehr sorgfältig. Wir arbeiteten im Reisverschlussverfahren: Er machte eine Vorlage. Ich arbeitete sie durch und entdeckte Fehler. Er lieferte eine überarbeitete Version. Ich prüfte sie erneut. Unsere Lösungen waren darum originell und ziemlich fehlerfrei. Wir ergänzten uns als Team hervorragend und arbeiteten in der Folge erfolgreich in allen weiteren Praktika zusammen. Er hatte so mehr Spaß und ich bessere Noten.
Tom rief mich also an und war ganz aufgeregt.
„Du, ich habe da eine ganz heiße Sache. Du musst dir unbedingt diese Homepage ansehen.“
Er gab mir die Internetadresse. Ich war neugierig, was es damit auf sich hatte. Eigentlich war Tom ein sehr ruhiger Mensch. Ich hatte ihn nur einmal so aufgeregt erlebt. Damals, war ihm sein Motorrad gestohlen worden. Es musste wirklich eine heiße Sache sein, von der er sprach. Ich schaute mir sofort die Homepage an. Ich fand darauf einen Aufsatz. Normalerweise las ich solche Texte nur oberflächlich, ohne sie genau nachzuvollziehen. Doch in diesem Fall hat es sich gelohnt, dass ich ihn sorgfältig durchging. Schritt für Schritt folgte ich jeder Anweisung. Danach war ich sprachlos. Es war ganz offensichtlich: Wir benutzten eine falsche Logik, um die Welt zu beschreiben. So, wie wir es machten, stand alles auf dem Kopf.
In dem Aufsatz wurden einige Prinzipien angegeben, wie die Neue Logik auf die Physik anzuwenden war. An einigen Beispielen wurde aufgezeigt, wie es funktionierte. Diese Beispiele waren überraschend einfach.
Auf der Homepage war ein Wiki eingerichtet worden, sozusagen als Spielplatz für uns. Wikis waren damals in Mode gekommen, Wikipedia war das berühmteste. Die Software für Wikis stand kostenlos zur Verfügung. Zur Formulierung der Neuen Physik war ein Wiki ideal. Es erlaubte, dass Menschen weltweit daran ohne Probleme zusammenarbeiten konnten.
Das Computerspiel, mit dem ich vorher so viele Stunden verbracht hatte, war plötzlich langweilig. Ich schickte noch schnell E-Mails mit der Internetadresse an ein paar Freunde, und dann begann ich mit dem Basteln.
Genau wie ich taten es nach und nach auch alle meine Freunde. Die Information über das Wiki ging wie ein Lauffeuer um die ganze Welt. Es war natürlich in Englisch, und jeder kannte irgendwo irgendwen. Internetdynamik. Am Anfang war es ein heilloses Durcheinander. Es gab keinerlei Kontrollen, auch keine Administratoren. Jeder konnte mitmachen. Natürlich gab es auch viele Spinner, aber der Mehrheit ging es um die Neue Physik. Es war einfach großartig. Wir haben Tag und Nacht daran gesessen. Die meisten waren Studenten der Physik aus der ganzen Welt. Natürlich haben sich auch ausgebildete Physiker daran beteiligt, doch diese waren eindeutig in der Minderheit. Das Internet schweißte uns alle zu einer Einheit zusammen.
Meine Versuche, eigene Beiträge zu formulieren, waren nicht gerade befriedigend. Alles schien so einfach. Ich machte vor allem immer wieder den Fehler, dass ich die bekannten Ergebnisse von physikalischen Versuchen einerseits und ihre Erklärungsmodelle andererseits verwechselte. Außerdem versuchte ich an Phänomenen meines eigenen Lieblingsgebietes herumzubasteln, bevor dessen Grundlagen ganz geklärt waren. Das war natürlich Unsinn, aber in meinem Enthusiasmus stürmte ich einfach los. Doch es dauerte nie lange bis ich in einer Sackgasse landete, die mich wieder auf den Boden der Tatsachen brachte.
Anders war es bei Tom, er hatte wirklich geniale Ideen. All seine Beiträge schickte er zunächst mir zum Prüfen. Ich habe darin so manchen Fehler entdeckt. Wir arbeiteten genau wie in den Praktika zusammen. Ich weiß auch nicht warum, doch es ist für mich immer viel einfacher, die Fehler anderer zu erkennen als meine eigenen. Die Schwächen in Toms Beiträgen zu entdecken, war wirklich spannend.
Schließlich beschränkte ich mich ganz darauf zu entdecken, wenn andere Mist gemacht hatten. Das entsprach einfach mehr meinen Fähigkeiten. Und es war wichtig. Leute wie ich waren die Qualitätskontrolle. Wir sind natürlich niemandem aufgefallen, Bemerkt wurden nur diejenigen, die wie Tom selbst brillante Beiträge leisteten.
Tatsächlich lagen nach wenigen Wochen die Grundlagen und nach nur wenigen Monaten die gesamte Neue Physik im Wiki formuliert vor. Dann wurde das Wiki abgeschlossen.
Unsere Professoren hatten eine schlimme Zeit. Wir Studenten wussten mehr als sie, und das haben wir ihnen auch gezeigt. Insbesondere denjenigen, die vorher in Prüfungen fies zu uns gewesen waren. Nicht alle Professoren waren souverän genug, um mit uns auf einer Ebene zusammenzuarbeiten und einfach diesen großartigen Umschwung zu feiern. Natürlich wollten wir in den Veranstaltungen die Neue Physik diskutieren. Es machte doch gar keinen Sinn, für eine Prüfungsordnung zu büffeln, die es in absehbarer Zeit gar nicht mehr geben würde. Damit war der normale Lehrbetrieb an den physikalischen Fakultäten nicht mehr aufrecht zu erhalten. Keiner wusste so recht, wie es weiter gehen würde.
Ich gehörte also bei der Arbeit am Wiki zum Fußvolk. An mich hat natürlich niemand gedacht, als es um den Nobelpreis ging. Aber auch sonst niemand bekam den Nobelpreis. Wer hätte ihn auch bekommen sollen? Es war ja ein Gemeinschaftswerk. Viele wissenschaftliche Größen hatten sich große Hoffnungen gemacht, dass sie das Rätsel lösen und den Ruhm dafür ernten würden. Sie gingen alle leer aus. Tom war der Erste, der einen eigenen Beitrag geschrieben hatte. Auch danach kamen noch viele geniale Beiträge von ihm. Es war darum Tom, dem die Leitung der Delegation, die den Preis in Empfang nehmen durfte, übertragen wurde, stellvertretend für die Tausende, die an dem Wiki mitgearbeitet hatten. Ich war mächtig stolz auf ihn. Mein Freund nahm den Nobelpreis in Empfang. Ich saß wie gebannt vor dem Fernseher. Ich verkündete überall, was auch ich dazu beigetragen hatte. Einen Nutzen konnte ich aus meiner Mitarbeit aber nie ziehen. Nicht einmal meinen eigenen Vater konnte ich davon überzeugen, dass ich etwas geleistet hatte. Er blieb unzufrieden mit mir, weil ich ihm seinen Traum, dass ich einmal seine Anwaltskanzlei übernehmen würde, nicht erfüllt hatte.
Anders war es für Tom. Noch während wir an dem Wiki arbeiteten, wurde Tom ein Arbeitsplatz in einem privaten Physik-Forschungsinstitut angeboten. Sobald die Arbeit an dem Wiki beendet war, hat er ihn angetreten. Das war noch bevor er für uns alle den Nobelpreis entgegennahm.
Ein viertel Jahr danach gab es in Toms Institut eine Explosion, deren Ursache nie ganz aufgeklärt wurde. Tom kam in die Intensivstation und lag dort vier Wochen im Koma. Ich habe ihn jedes Wochenende besucht. Ich glaube, er muss eine Ahnung gehabt haben, dass so etwas passieren würde. Er hatte eine Verfügung gemacht, dass er maximal vier Wochen an lebenserhaltenden Maschinen angeschlossen werden durfte. Danach sollten ihm nur noch Wasser und das Bewusstsein nicht beeinträchtigende, schmerzlindernde Mittel verabreicht werden.
Nach den vier Wochen verlegte man ihn in der Erwartung, dass er nun recht schnell sterben würde, von der Intensivstation auf ein normales Einzelzimmer. Am zweiten Tag danach wachte er überraschend aus dem Koma auf. Die Ärzte versuchten ihn zu überzeugen, dass er wieder in die Intensivstation zurück müsse. Sie wollten dieses brillante Gehirn am Leben erhalten, egal in welchem Zustand der Rest des Körper war. Tom weigerte sich.
Am darauffolgenden Tag, einem Sonntag, besuchte ich ihn wieder. Auch da kam er wieder kurz zu Bewusstsein. Als er mich erkannte, lächelte er. Ich hielt seine Hand, während wir uns einige Minuten schweigend in die Augen sahen. Was hätte ich auch sagen sollen? Dann schlossen sich seine Augen wieder. Schließlich flüsterte er matt: „Danke, es war so ein großartiges Leben.“ Allmählich wurde sein Atem immer schwächer, schließlich setzte er aus, fing wieder an, setzte schließlich ganz aus, Stille. Ich saß dann noch eine halbe Stunde so bei ihm. Der ganze Raum war erfüllt von einer Süße und von Frieden. So hatte ich mir Sterben nicht vorgestellt. Dann kam eine Schwester. Noch bevor sie den Arzt geholt hatte, verließ ich das Krankenhaus.
Vielleicht haben sich manche gewundert, dass ich jeden Sonntag 300 km fuhr, um Tom im Krankenhaus zu besuchen. Ich habe niemandem erzählt, dass ich am Abend vor dem Unfall in dem Institut von ihm einen Anruf bekommen hatte.
„Mann, wie geht es dir?“ hatte ich überrascht und voll Freude gefragt.
„Du fehlst mir.“
„Waaas?“
„Ja, du fehlst mir wirklich. Weißt du, ich habe ja eine Assistentin, der ich Arbeiten übertragen kann. Sie tut auch, was ich ihr sage. Also, ich kann mich da nicht wirklich beschweren. Das Problem ist, sie tut immer genau das, was ich ihr sage. Aber sie findet meine Fehler nicht. Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel schief läuft oder überhaupt nicht, Ich sitze dann jedes Mal stunden- und tagelang da und suche meine eigenen Fehler.“
Es war, als hätte man die Tore einer Schleuse geöffnet, so waren die Worte aus ihm herausgeflossen.
„Weißt du, ich bin total frustriert. Hast du nicht Lust, hier als mein Assistent anzufangen?“
Welch eine verlockende Perspektive. Ich hatte sofort zugesagt. Wir hatten verabredet, dass Tom mit seinem Chef über die Sache reden würde.
Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, hatte ich in meinem Zimmer vor Begeisterung getanzt. Doch wie gesagt, ich habe nie einen Nutzen aus meiner Mitarbeit am Wiki gezogen.