Das Pflegekind - Vor Ausbruch des Irak-Kriegs
In den 60er Jahren war vieles ähnlich und doch kann niemand sagen, alles wiederholt sich. Weder der Krieg in Vietnam noch die Hippiebewegung sind in ihrer Einmaligkeit von anderen Ereignissen nachgeahmt worden. Auch wenn die Kriege danach scheinbar genauso wahnsinnig waren wie die Zeit der Platoons und der Napalm-Opfer. Weder haben wir gelernt noch verstanden, wie solche Dinge entstehen oder verhindert werden können. Und doch geschah damals etwas sehr Ausschlaggebendes für die heutige Zeit.
Ein unscheinbarer Amerikaner, betroffen von den Bildern, die CNN in seine Wohnstube zauberte, übernahm die Pflegschaft für ein elternloses vietnamesische Mädchen. Sie war gerade 2 geworden, als eine Bombe das Haus ihrer Eltern samt Inhalt in Stücke riss. Über eine Welthilfsorganisation suchte man jemanden, der die Zukunft des Mädchens finanziert und fand - den jungen Amerikaner. Die Jahre vergingen und das Mädchen wuchs zu einer stattlichen jungen Frau heran, die in den Vereinigten Staaten Medizin studierte.
Hier lernte sie ihren Wohltäter und dessen Familie kennen, die sie liebevoll und stolz aufnahm. Eines der Familienmitglieder trug den Vornamen George. Ihm wuchs die junge Frau besonders ans Herz. Sie diskutierten viel über die Zeiten des Krieges in Vietnam und die Folgen. Die Vietnamesin zeigte Verständnis für die Amerikaner, die aus diesem Krieg als Verwundete zurück gekommen waren. Ihre einfache Zuneigung und die Art, wie sie die Welt sah, beeindruckten George sehr. Sie hinterließ eine Spur auf seiner Seele. So blieb die Erinnerung an die gemeinsame Zeit in beider Leben, als die Ärztin nach abgeschlossener Ausbildung in die Kriegsgebiete der Welt aufbrach. Ein mühsamer Kampf gegen die Vernichtung begann und hin und wieder schrieb sie George ein paar Zeilen. Sie schrieb von Kindern, die in Tretminen gelaufen waren, Mütter, die um ihre Söhne weinten, Menschen, denen sie beim Sterben zugesehen hatte. George war inzwischen in die Politik gegangen und begann die Welt mit anderen Augen zu sehen. Trotzdem las er jeden Brief aufmerksam und verglich ihn mit der "Realität" seines Lebens.
Es war der 11. September, als die Vietnamesin einem irakischen Arzt das Ja-Wort gab. Vieles passierte an diesem Tag in der Welt. Aber für sie war diese Hochzeit ihr Leben. George schickte aufrichtige Glückwünsche und wandte sich dann der amerikanischen Öffentlichkeit zu: "Wir wurden angegriffen heute - die freie Welt wurde angegriffen. Und wir werden diese feige Attacke nicht ungestraft lassen." Die Vietnamesin las die Grußkarte, während CNN auf einem irakischen Fernseher die Rede ins Wohnzimmer der kleinen Wohnung zauberte. "Fredom" war mit einem "e" geschrieben, wahrscheinlich in der Eile und Betroffenheit der Ereignisse dieses Tages. Der irakische Arzt schaute seine Frau mit einem Blick an, der sagen wollte: "Willst du nicht rüberfliegen?" Still saßen die beiden in der nächsten Zeit abends vor dem Fernseher und verfolgten die Entwicklung zwischen Amerika und ihrer Heimat. Es sollte noch etwas dauern, bis alles eskalierte. Die Zeilen, die sie ihrem Freund George schickte, wurden spärlicher, denn der Haushalt war jetzt ihr Aufgabengebiet. Sterbende Soldaten gab es nur noch bei CNN und die Bomben des ersten Irak-Krieges waren weitab vom Wohnsitz der Vietnamesin in die Häuser eingeschlagen. Aber es war nicht wirklich der Haushalt - denn sie hatte nichts vergessen von den Ereignissen der Lazarette - es war die Hilflosigkeit, die sie verstummen ließ.
Am Abend vor Kriegsbeginn, George hatte lange nichts mehr von ihr gehört, läutete das Telefon im Weißen Haus. "Mr. President, your friend is calling." Der Sekretär reichte George den Hörer. "Its me", lies sich die Ärztin vernehmen und George suchte einen Winkel in seinem angespannten Umfeld, um in Ruhe mit ihr reden zu können. "I know", antwortete er, immer noch suchend. Was in zwei Menschen nach all den Jahren vorgeht, kann man wahrscheinlich nicht beschreiben. Und das Gespräch selbst war auch zu persönlich, als das es hier wiedergegeben werden kann. Als beide den Hörer gemeinsam auflegten, war es 23:30 Uhr amerikanischer Zeit. Gegen 24:00 Uhr erreichte den kommandierenden General der amerikanischen Streitkräfte im Irak der Befehl zum Abrücken. Die Zeitungen überschlugen sich tags darauf mit Erklärungsversuchen, CNN selbst brachte Dokumentationen aus dem Vietnamkrieg auf den Bildschirm und in Stockholm überlegte man, wohin der nächste Friedensnobelpreis gehen könnte. Im Irak feierte an diesem Tag ein kleines Mädchen Geburtstag. Es wurde 2 Jahre alt und George erfuhr durch eine email von der Geburt. Er sendete aufrichtige Grüße.