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Das Pferd in ihrer Hand
In der Postkutsche war es stickig und Lisa rang nach Luft. Die sechs anderen Reisenden schien der penetrante Geruch nach Schweiß nicht zu stören, sie machten einen schläfrigen Eindruck.
„Erwachsene sind eigentlich immer müde“, dachte Lisa, strich sich eine blonde Locke aus dem Gesicht und sah prüfend von einem zum anderen. Ihr gegenüber saβ eine ältere Dame, die verträumt nach drauβen schaute. Eine sandige, leicht hügelige Prärielandschaft die mit braunem, kniehohen Gras und einzelnen Sträuchern bestückt war, zog vorbei.
Neben der alten Frau saβ ein junges Paar. Sie hatte den Kopf an seiner Schulter angelehnt, die Augen fest geschlossen. Er hatte mit seinen Händen die ihre liebevoll umschlossen und lächelte selig.
Neben Lisa sass ein Mann, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Nur sein wuscheliger, dunkler Bart quoll darunter hervor. Lisa musste schmunzeln, als sie ihren Sitznachbarn schnarchen hörte.
Neben ihm hatten sich zwei Frauen platziert, die sich die ganze Fahrt angeregt unterhalten hatten. Über langweilige Dinge wie Mode, Kinder und Schnäppchen auf dem Markt, doch nun war ihr Mitteilungsdrang offensichtlich erloschen, und sie starrten stumm und teilnahmslos vor sich hin.
Trotz allem konnte Lisa sich nicht entspannen. Sie war stolz, mit ihren zehn Jahren alleine eine so lange Fahrt machen zu dürfen, aber sie hatte auch eine grosse Verantwortung. Ihre kleinen Finger schlossen sich fest um das rosa Täschchen. Sie würde dem Drang hinein zu spähen widerstehen. Sich nicht vom Glanz und der Schönheit des Inhaltes verzaubern lassen. Es war sicherer so. Für sie und für ihren Schatz.
Lisa presste ihre Beine zusammen und biss sich auf die Lippen. Das Bedürfnis auszutreten hatte sie schon lange gespürt, doch die Peinlichkeit, Schuld an einer noch größeren Verspätung zu sein, wollte sie sich ersparen. Sicher würden sie die Stadt in einer Stunde erreichen.
„Sag mal, kannst du nicht für eine Minute still sitzen?!“
Der bärtige Herr neben ihr hatte den Hut vom Gesicht genommen und sah böse zu Lisa hinunter.
„Ich..., entschuldigen Sie bitte!“, stammelte Lisa, während sie die Beine noch fester zusammen drückte. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie senkte schnell den Kopf.
Eine alte Hand legte sich auf ihr Knie. Lisa sah auf und blickte in zwei liebevolle Augen.
„Hast du ein Problem, Kleines?“
Lisa nickte. Die alte Dame sah sie wissend an.
„Ich könnte auch eine kleine Pause für meine alten Knochen brauchen“, meinte sie, griff nach ihrem Gehstock und klopfte an die Decke.
Erleichtert spürte Lisa wie ihr Bauch sich entspannte. Sie richtete sich auf, ordnete ihre Röcke und atmete die warme, würzige Luft tief ein. Wo sie schon mal hinter diesem Strauch vor den Blicken der anderen geschützt war, konnte sie die Gelegenheit nutzen und ihr Täschchen öffnen. Vorsichtig glitt ihre Hand hinein und holte das kleine, goldene Pferdchen heraus. Lisas Blick wurde magisch angezogen von der wehenden Mähne, den galoppierenden Hufen und den feinen Nüstern. So viel Kraft, Eleganz und Zierlichkeit lagen in ihrer Hand. Mähne und Schweif waren mit winzigen Diamanten bestückt, die in allen Farben glänzten und glitzerten.
Erst eine Woche war es her, als Lisas Großmutter ihr diesen Schatz vorsichtig in die Hand gelegt hatte.
„Schätzchen“, hatte sie mit schwacher Stimme gesagt, „das Pferdchen soll dir gehören. Aber häng dein Herz nicht zu sehr daran. Wenn du einmal in groβe Not kommst, verkaufe es. Ich werde auch ohne dieses Pferdchen immer mit dir verbunden sein.“
Dann hatte Großmutter sie sanft zu sich hinunter gezogen und ihr einen dicken Kuss auf die Stirn gegeben.
Wenige Tage später starb Großmutter. Lisa spürte einen dicken Kloβ im Hals. Sie drückte das Pferdchen an ihr Herz. Nie hätte sie geahnt, wie schnell diese groβe Not über sie kommen würde. Schon zwei Tage später war ein Telegramm gekommen. Dieses furchtbare Telegramm...
Ein Knall zerriss die Stille und ließ Lisa zusammen zucken. Ihr Täschchen fiel zu Boden, die rechte Hand umklammerte das Pferdchen. Ein Schuss, das war ein Schuss gewesen, und weitere folgten. Lisa kauerte sich hinter den Strauch, zog den Kopf ein und spürte das pulsieren in ihren Schläfen. Schreie, raue Befehle, wiehernde Pferde und Staub erfüllten die Luft.
Zögernd beugte Lisa den Kopf nach vorne und sah, dass ihre Reisegefährten am Boden lagen. Zwei Männer standen breitbeinig vor ihnen, die Gewehrläufe auf sie gerichtet. Den Rücken hatten die beiden Lisa zugewandt.
Sie kniff die Augen zusammen und erkannte einen Mann auf dem Dach der Kutsche. Er zog und riss an der Befestigungsschnur des Gepäcks herum.
Ein weiterer Mann sass auf einem schwarzen Pferd, in der einen Hand ein Gewehr, mit der anderen in der Luft herum fuchtelnd. Auch er hatte das Gesicht weg von ihr, zur Kutsche hin gedreht. Grob rief er dem Mann auf dem Dach seine Befehle zu.
Lisa konnte erkennen, dass ein Kutschpferd sich von seinem Zaumzeug losgerissen hatte. Vielleicht hatten die Banditen das Gespann getroffen. Jedenfalls stand dieses graue Pferd etwas abseits und zupfte genüsslich die wenigen, grünen Grashalme aus dem Boden.
In Lisas Kopf hämmerte es, als ihr bewusst wurde, dass sie nun handeln musste. Um jeden Preis wollte sie ihren Schatz nach Hause, zu den Eltern bringen. Ihre Zukunft hing davon ab und die wollte sie sich von niemandem zerstören lassen. Auch nicht von vier verdreckten Banditen.
Behutsam steckte Lisa das goldene Pferdchen unter ihren Gürtel, legte sich auf die Erde und begann mühsam durch das hohe Gras nach vorne zu robben. Wie dankbar war sie dem grauen Tier, dass es sich ihr langsam näherte, denn ihre Fortbewegungsart war nicht die schnellste.
Ein prüfender Blick zu den Banditen verriet Lisa, dass diese mit dem ausleeren der Koffer beschäftigt waren. Blitzschnell stand Lisa auf, eilte die letzten Meter zum Kutschpferd und krallte sich an der langen Mähne fest. Verzweifelt merkte sie, dass sie das Tier durch ihre Hektik erschreckt hatte, denn es begann zu traben. Nun war es mit dem Unbemerkt-bleiben vorbei. Lisa wollte die Mähne um keinen Preis loslassen, rannte neben dem Tier her, sprang nach oben und hing nun seitlich am Pferd. Sie fühlte sich so hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken. Mit verzerrtem Gesicht zog, schob und stemmte sie sich nach oben. Geschafft!
Ein Blick zurück ließ sie erschauern. Der fuchtelnde Bandit auf seinem schwarzen Pferd hatte die Verfolgung bereits aufgenommen. Lisa schlug ihrem Gaul die Fersen in die Seite, der prompt darauf reagierte und in einen holprigen Galopp fiel.
Hin und her wurde sie geschüttelt, knallte mit jedem Schritt auf den harten Pferderücken und hätte sich am liebsten wieder zu Boden fallen lassen, doch Lisa musste durchhalten, schneller sein.
Sie musste an das Telegramm ihres Vaters denken, in dem er sie innbrünstig gebeten hatte, schnell nach Hause zu kommen, weil das ganze Gehöft abgebrannt sei. Aus jedem Wort sprach grosse Verzweiflung. Ihre ganze Existenzgrundlage als Farmerfamilie lag in Schutt und Asche. Mit ihrem Schatz konnte Lisa ihre Familie retten. Ihr Schatz! Schnell fasste Lisa unter ihren Gürtel. Sie spürte das beruhigende Metall und schloss die Hand darum.
Hinter sich hörte Lisa den Hufschlag ihres Verfolgers. Wann würde sie die Stadt erreichen? Wieder stieß und feuerte sie ihren Grauen an, schneller zu laufen. Ihr Blick klebte am Horizont. Das Schnauben des schwarzen Pferdes wurde lauter. Ihr Kutschpferd hatte keine Chance gegen das elegante Reittier.
Da! Wo Himmel und Erde miteinander verschmolzen, hoben sich kantige Umrisse ab. Die Stadt.
Lisa konnte aus den Augenwinkeln den Kopf des schwarzen Pferdes ausmachen. Es wollte sie von links einholen. Verzweifelt sah Lisa zur Seite und blickte in ein wildes Gesicht. Hämisch grinsend streckte der Bandit seine Hand aus um sie am Bein zu packen. Im selben Moment verlor er das Gleichgewicht und stürzte fluchend zu Boden.
Lisa sah nach vorne. Die ersten Häuser der Stadt näherten sich.
Was war aus ihrem Verfolger geworden? Lisa traute ihren Augen kaum. Der Bandit saß schon wieder auf seinem Pferd. Blut lief ihm über die Wange, der Kopf war rot vor Wut.
"Jetzt krieg ich dich erst recht!", brüllte er Lisa an und gab seinem Pferd die Sporen.
Er würde sie schnell wieder eingeholt haben. Konnte sie es schaffen? Die Häuser rückten näher, und Lisa hörte das Klingeln einer Schulglocke.
„Hey!“ Ihre Banknachbarin knuffte sie in die Seite. „War heute wieder mal schrecklich langweilig!“ Lisa lächelte. „Ich fand's spannend“, und blickte verstohlen auf ihre Hand, in der ein kleines, vergoldetes Pferdchen lag.