Das perfekte System
"Entschuldigen Sie, General Collin, aber die Besucher erwarten sie im Foyer", ertönte es aus der Sprechanlage.
"Sagen Sie ihnen, dass ich in ein paar Minuten unten bin."
"Ja, Sir."
Mit einer energischen Handbewegung schaltete er die Telefonanlage aus und erhob sich aus seinem Bürostuhl. Er warf noch einen kurzen Blick aus dem Fenster seines Büros im zehnten Stock und betrachtete stolz die viertausend Quadratmeter weite Anlage. Er war der Begründer dieser weltweit einzigartigen Ausbildungsstätte, er war verantwortlich, er trug die Konsequenzen, falls es zu nicht vorhersehbaren Komplikationen kommen sollte. Sein markantes Kinn reckte sich, ein kaltes Schnauben entrann seiner Kehle. Die Forming Company, sein Baby, konnte niemals versagen. Niemals. Alles war perfekt.
Minuten später sah er sich einer Traube von eifrigen Journalisten gegenüberstehen, die ihm respektvoll entgegen sahen. In seiner maßgeschneiderten Uniform, den glänzenden Abzeichen auf den Schultern und seiner athletischen Figur strahlte er Macht und Autorität aus. Alles an ihm schien perfekt. So wie es sich gehörte.
"Meine Herren. Ich freue mich, sie in der Forming Company begrüßen zu dürfen. Ich werde sie nun persönlich über das Firmengelände führen und ihnen unser einzigartiges System vorstellen."
Er nickte den Anwesenden kurz zu und machte auf dem Absatz kehrt.
Sie traten ins Freie; mehrere moderne Flachbauten erstreckten sich bis in die Ferne, wo ein kuppelförmiges Glasgebäude in den azurblauen Himmel ragte. Zielstrebig gingen sie darauf zu und betraten es.
"Dies ist das Herzstück der Company. Die Säuglingsstation."
Im Inneren war es angenehm kühl, alle Wände waren weiß gestrichen, nirgendwo hingen Bilder. In einem gläsernem Raum in der Mitte des Gebäudes standen fünfzig Säuglingsbetten, deren Bewohner meistenteils schliefen. Ansonsten war alles leer und steril. Kein Laut war zu hören.
"Hier, meine Herren, kommen unsere Neuzugänge rein. Hier - beginnt die Erziehung und Ausbildung zu den wohl effizientesten, loyalsten und emotionslosesten Soldaten der Welt." Er ließ seine Worte kurz im Raum stehen und betrachtete jedes einzelne Gesicht.
"Wie Sie bereits wissen, ist es uns möglich, den Charakter und die Psyche der Kinder zu beeinflussen; ja, nach unseren Wünschen zu gestalten. Wir geben ihnen Nahrung und Schlaf. Ansonsten nichts. Keine körperliche Zuwendung, keine Spielsachen. nichts. Und dann ist da natürlich unsere Ausbildung, die bereits im Kindergartenalter beginnt. Man muß nur früh genug mit der Ausbildung beginnen, dann..."
"Woher kommen denn die Babies?" warf ein Reporter ein.
Ungehalten sah Collin ihn an. Er hasste es, unterbrochen zu werden. Respekt, Gehorsam, Disziplin, das war alles, was zählte. Doch er machte gute Miene zum bösen Spiel und antwortete.
"Es handelt sich um Waisenkinder, zur Adoption freigegebene Säuglinge und Findelkinder."
Eine junge Frau in weißer Uniform schritt schnell auf ihn zu.
"General Collin, ihr Sohn möchte sie sprechen. Er meint. es sei dringend."
"Nicht jetzt." Wurde er denn heute nur unterbrochen? Er spürte Wut in sich aufsteigen. Doch er zwang sich, ruhig zu bleiben. Ein Soldat zeigt keine Emotionen. Niemals.
Er fuhr fort. „Wir bilden sie aus und setzen sie in Kriegsgebieten ein. Wir haben selbstverständlich unsere eigenen Schulen auf dem Gelände, aber wir achten darauf, dass ihre Interessen sich nicht auf andere Bereiche ausweiten können. Krieg, Waffen, töten. Das ist, was sie vermittelt bekommen, was sie lieben. Im Krieg kämpfen, notfalls sterben, das ist es, was sie wollen. Das ist ihr Lebensinhalt."
"General, was ist, wenn ein junger Mann den Dienst verweigert?"
"Sie hören mir nicht richtig zu. Unser System ist perfekt. Alle lieben den Krieg. ALLE."
Seine Rede wurde erneut unterbrochen, als ein junger Mann auf die Gruppe zustürmte und schwer atmend neben ihm zum Stehen kam. Seine Freude stand ihm groß ins Gesicht geschrieben.
Starr vor Zorn stand Collin da. Das konnten nicht sein, das durfte nicht passieren. Das System war perfekt.
"Sir, ich muss sie unbedingt sprechen. Es ist etwas Tolles..."
Die Worte sprudelten aus seinem noch kindlichen Mund.
"Private, sie vergessen sich. Kehren sie unverzüglich in ihr Quartier zurück. Ihre Essensration ist heute und morgen gestrichen, sie werden doppelte Nachtwache halten und alle ihre Sonderrechte sind ungültig, verstanden?"
„Aber, Sir, ich…“ Die Stimme des Jungen zitterte. Enttäuschung überzog sein Gesicht.
Er senkte den Kopf. „Ja, Sir.“
„Haltung, Soldat.“
Der Junge reckte die Schultern und hob sein Kinn.
„Sir, ja, Sir.“
Er spürte eine Welle der Hilflosigkeit und des Hasses in sich aufsteigen, eine zerstörerische Brandung unkontrollierbaren Ausmaßes. Wie ein Roboter verließ er die Gruppe, schritt, ohne sich dessen bewusst zu sein, über die Rasenflächen und steuerte zielsicher ein kleines Betongebäude im nördlichsten Teil des Geländes an.
In seinem Inneren tobte es, Schmerz durchzuckte ihn. Er zwang sich, nichts zu denken, seinen Kopf frei zu bekommen, seine Gefühle zu ignorieren, so, wie er es gelernt hatte, wie er es immer tat. Tag für Tag.
Aber diesmal fiel es ihm schwerer als je zuvor.
Wieso handelst Du so? Wieso hast Du mich weggeschickt? Es wäre so wichtig gewesen…so wichtig…
Haltung, Soldat. Sie sind zu emotional.
Er zuckte zusammen. Ja, Sir.
Aber Du hast Dich nie für mich interessiert. Du…
Wenn sie noch ein Wort denken, wird das schlimme Konsequenzen nach sich ziehen, Soldat.
Aber…
Schweigen Sie, Soldat. Sie sind lediglich ein Instrument unseres Systems, vergessen Sie das nicht. Handeln sie entsprechend, oder Sie werden bestraft.
Ja, Sir, natürlich, Sir.
Die Stimme in seinem Kopf schwoll an, dröhnte so laut, dass er das Gefühl hatte, sein Schädel würde gleich explodieren, wie eine mit Feuerwerkskörpern gespickte Orange. David fasste sich mit beiden Händen an die pochenden Schläfen.
„Ja, Sir“, schrie. „Ja, Sir.“
Keine Emotionen, denke nicht, tu, was man dir sagt.
Er wusste, was er jetzt brauchte, was ihn restlos ablenken konnte.
Kurz darauf betrat er das zweistöckige Freizeitgebäude. Laute Musik scholl ihm entgegen, ein Adrenalinstoß durchfuhr ihn.
In dem riesigen, von roten Lasern angestrahltem Spielzimmer, wandte er sich sofort der überdimensionalen Leinwand zu, die er, solange er denken konnte, dreimal die Woche aufsuchte. Nicht immer freiwillig, da dies ein Teil ihrer Ausbildung war, doch fast immer mit Vergnügen.
Routiniert nahm er das Lasergewehr aus der Verankerung, entsicherte die Waffe, stellte sich in Position und startete das Computerspiel.
Eine Dschungellandschaft erschien, harte Rhythmen ließen den Boden erzittern. Ein Grinsen überzog sein Gesicht. Und dann kamen sie auf ihn zu.
Feinde von Osten. Deckung, Soldat.
Er schoss.
Treffer, Soldat. Bleiben sie dran.
Eine blecherne Stimme verkündete: „Zehn Punkte.“
Er schoss weiter, duckte sich, täuschte und schlug abermals zu.
„Fünfundachtzig Punkte.“
Er fing an zu schwitzen, sein Atem kam stoßweise. Er musste sie töten. Alle.
Greifen sie an, Soldat. Folgens Sie dem Fein ins Dickicht.
„Ja, Sir. Jaaa…,“ schrie David.
Töte Sie. Zerstückle sie alle. Er spürte nichts mehr; er war lediglich eine Maschine, die tat, wozu sie programmiert wurde. Seine Finger umkrampften den harten Griff der MG, sein Zeigefingers schmerzte vom Abziehen, doch er legte wieder an, schoss. Kopfschuss, Bauchschuss…Ja, Sir,… ich töte sie alle…
Entschlossen, den Vorfall mit Private David zu ignorieren, führte General Collin die Journalisten scheinbar unberührt weiter durch die Forming Company. Doch in seinem Inneren kochte es. Er, General Collin, war soeben zum Gespött der Nation geworden. Mit offen gezeigter Respektlosigkeit und Disziplinlosigkeit war er soeben konfrontiert worden. Das hätte nicht passieren dürfen. Niemals. Das System war perfekt. Perfekt.
„General, erlauben Sie mir eine Frage“, ertönte es hinter ihm. „Sie sagten, alle Männer lieben das Militär. Welche Methoden ermöglichen es Ihnen, dieses Phänomen zu erschaffen, Sir?“
Eine heikle Frage. Jetzt durfte er nicht zu viel verraten. Bedächtig suchte er die richtigen Worte, denn zum Einen musste der Anschein einer lückenlosen Offenlegung des gesamten Ausbildungsprinzips gewahrt bleiben, zum Anderen durften nicht zu viele Informationen an die Öffentlichkeit gelangen, da dies mit Sicherheit eine genauere Untersuchung der Forming Company nach sich ziehen würde und damit die Schließung derselben.
„Mr. Scott, die Frage ist so komplex, dass ich sie bitte, sie mit meinem Assistenten Mr. Ramson zu besprechen. Ich möchte nur so viel sagen; strenge Erziehung von Klein an, kontrollierte Förderung gewalttätiger Computerspiele und die Ausbildung an der Waffe sind der Grundbaustein unseres Systems.“ Nicht zu vergessen die zwölfstündige Beschallung der Säuglinge mit gewaltverherrlichenden Parolen, Kriegsgeräuschen und Schüssen. Aber das sagte er natürlich nicht laut.
Plötzlich hörten sie Maschinengewehrschüsse. Irritiert hielt Collin inne und blickte sich suchend um.
Geschrei ertönte, Menschen strömten aus den Gebäuden und sahen sich verwirrt um. Wieder donnerten Schüsse über das Gelände.
„Was zum Teufel…“
Dann sah er ihn. Ein junger Mann lief über den Platz auf das Gebäude zu, vor dem die Gruppe mit General Collin zum Stehen gekommen waren. Aus einer entsicherten MG feuerte er wahllos in die Menge. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, sein irrer Blick huschte unstetig hin und her.
„Ich töte Euch alle, Ihr Bastarde“, schrie er. Männer und Frauen fielen nacheinander wie Spielzeugfiguren zu Boden, wo sie schreiend liegen blieben. Ein Mann wurde am Kopf getroffen, Blut lief ihm über das Gesicht, er schrie. Die Luft roch nach Blut, war angefüllt vom Stöhnen der Sterbenden.
Wie in Stein gemeißelt blieb General Collin inmitten des Chaos stehen.
Wieder und wieder drückte David den Abzug, entsicherte, schoss.
Der Feind muss ausgelöscht werden, Soldat.
„Ja, Sir.“
Schiessen Sie, Zeigen Sie, was sie drauf haben.
Vierhundert Punkte.
Blut spritzte ihm ins Gesicht, als er einem jungen Kadetten aus nächster Nähe ins Gesicht schoss.
Sehr gut, Soldat. Weiter.
Schwer atmend kam David vor Collin zum Stehen. Seine Augen waren glasig.
Der letzte Feind, Soldat. Löschen Sie ihn aus.
„Ja, Sir.“ Er hob das Gewehr an und richtete den Lauf auf den Mann vor ihm.
Achthundertneunzig Punkte…Haltung Soldat…Sie vergessen sich, treten sie ab…schiessen sie Soldat…Disziplin, Gehorsam, Loyalität…Abtreten, Sir…schiessen…
Wie aus einem dichten Nebel hörte David Collin die Stimme seines Vaters: „David, das System…das System ist perfekt…Du kannst nicht…Perfekt…
Neunhundert Punkte.