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Das perfekte Gedächtnis
Er hatte es geschafft!
Dr. Malcolm Harris sprang von seinem Stuhl auf und schlug die Hände ineinander. Er hatte es tatsächlich geschafft.
Er hielt in seiner Bewegung inne und blickte erneut in das Mikroskop. Winzige Bewegungen tanzten vor seinen leuchtenden Augen; winzige, spermaähnliche Bewegungen bahnten sich in unendlichfacher Vergrößerung einen Weg durch eine klare Flüssigkeit; scheinbar unfähig jeglicher Orientierung.
Doch sie schwammen! Sie lebten!
Dr. Malcolm Harris hatte es tatsächlich geschafft; es war kein Traum. Er hatte das ultimative Mittel zur Gedächtnissteigerung entdeckt; oder sollte er besser sagen: erschaffen?!
Wie lange hatte es gedauert? Fünf Jahre? Sieben Jahre? Er hatte irgendwann aufgehört zu zählen; aber es war eine verdammt lange Zeit gewesen.
Irgendwann hatten sie ihm dann die Gelder gekürzt; irgendwann hatten sie dann alles eingestellt. Sie hatten ihm mit der Kündigung gedroht, wenn er seine Zeit – seine von ihnen bezahlte Zeit – weiterhin für diesen Schwachsinn vergeuden würde; und sie hatten dann irgendwann diese Drohung wahr gemacht.
Aber Dr. Malcolm Harris hatte nicht aufgegeben! Er hatte sich zu Hause im Keller ein kleines Labor eingerichtet – sein gesamtes Erspartes war dabei draufgegangen – doch er hatte nicht aufgegeben. Wer aufgibt, fällt; das war sein Motto. Und wer einmal gefallen ist, für den war es schwer, wieder aufzustehen. Also hatte er weitergemacht – er wollte einfach nicht fallen! Nein, nicht er!
Noch einmal sah er beinahe ehrfurchtsvoll durch das Mikroskop. Es waren mehr geworden. Und zwar wesentlich mehr.
Sein Auge begann zu tränen; nicht der Anstrengung wegen, vielmehr waren es die sich anbahnenden Tränen der Rührung – ja, es waren Tränen der Freude.
Behutsam griffen seine zarten Finger zu dem kleinen Glas mit der Testprobe T6008. Es war tatsächlich der sechstausendundachte Versuch! Und dieser sechstausendundachte Versuch war der Erfolg!
Dr. Malcolm Harris trug das Glas mit seinem kostbaren Inhalt zu einem großen Tisch. Mit einer Pipette entnahm er etwas von der Flüssigkeit und füllte sie in ein weiteres Gefäß, welches er, nachdem er es fest verschlossen hatte, in einen dunklen Schrank stellte. Geschafft!
In wenigen Stunden hätten sie sich so stark vermehrt, das er es testen konnte. Bei diesem Gedanken stieg eine freudige Erregung in seinen Eingeweiden empor, daß es ihn schier zu erdrücken drohte. Ja, er würde es testen. Das ultimative Gedächtnissteigerungsmittel!
Am nächsten Tag war es eingetreten; T6008 hatte sich so stark vermehrt, daß Dr. Malcolm Harris es in totes Hirngewebe injizieren konnte. Es dauerte etwa zwei Stunden, bis die ersten Anzeichen von Leben zu erkennen waren. Es ließen sich Hirnströme feststellen; zwar nur minimal, aber sie waren da. Dr. Harris war außer sich. Es war vollbracht. T6008 würde die Welt revolutionieren! In Kinderhirnen injiziert, bräuchte man keine Schulen mehr; allein durch die Fähigkeit, der multiplen Hirnvergrößerung, mußte es möglich sein, daß sich das Wissen allein durch äußere Eindrücke vervielfältigte.
Und wie wird es dann erst sein, wenn es in das Hirn eines Toten gespritzt wurde ...
Einige Tage und mehrere Versuche später war der Test vorbereitet.
Dr. Malcolm Harris würde es im Selbstversuch testen!
Zunächst spürte er gar nichts; die Injektion war etwas schmerzhaft, aber es war durchaus auszuhalten – nicht der Rede wert.
Nach Stunden verspürte Dr. Harris eine gewisse Art von Erleichterung – es war wie eine befreiende Extase seiner Gedanken – eine Klarheit, deren Weite er nicht fassen konnte. Eine beinahe geistige Vollkommenheit, die alle Grenzen der Wahrnehmung zu sprengen drohte. Für einen winzigen Augenblick verspürte Dr. Harris den Anflug einer aufsteigenden Panik, einer unbegründeten Panik vor dem Unbekannten, doch seine gedankliche Weite verdrängte dieses Gefühl, wie eine unbändige Armee einen armseligen Wicht.
Es war geschafft!
Am nächsten Tag war es soweit. Dr. Harris´ Gehirn war perfekt; zumindest fand Dr. Harris das. Seine geistige Reinheit war so vollkommen, daß er ohne die geringsten Mühen jede noch so winzige Kleinigkeit im Millisekundenbereich verarbeiten konnte. Auch größere Probleme, wie das Lösen unendlich scheinender physikalisch oder mathematischer Funktionen passierte in dieser Zeitspanne. Dr. Harris brauchte keinen Schlaf mehr; das Lesen mehrer tausend Seiten starker Literatur beanspruchte die Zeit eines durchlaufenden Kaffees. Und alles wurde besser!
Alles wurde noch schneller; seine Aufnahmefähigkeit stieg mit jeder Stunde an. Dr. Malcolm Harris war der perfekte Mensch!
Er würde sein Wissen weitergeben; er würde weiter forschen; ja, er würde die Wissenschaft – die Welt – revolutionieren!
Immer klarer! Immer weiter!
Drei Stunden später erkannte Dr. Malcolm Harris die Unvollkommenheit der Menschheit. Seine Gedanken waren schnell – schnell und nicht mehr nachvollziehbar für diese armselige Rasse, die sich der Unverfrorenheit bezichtigte, sich Mensch zu nennen. Diese Rasse war nicht würdig! Dürftige Geschöpfe, die selbst den Gedanken einer Bedauerung nicht wert waren. Er würde eine Lösung finden ...
Zwei Stunden später nannte Dr. Harris sich Gott; sein Schädel war an mehreren Stellen aufgeplatzt und wurmartige Hirnfortsätze wanden sich zwischen seinen Haaren hindurch gen Licht. Ja, sein Hirn wuchs! Er verspürte keine Schmerzen; dieses unterbemittelte Gefühl hatte er schon vor langem ausgeschaltet. Dieses Gefühl war unbrauchbar.
Immer größer! Immer weiter!
Eine Stunde danach waren die windenden Würmer länger geworden. Seine Gedanken weiter!
Gott war ja so armselig ...