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Das Olivenöl

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08.03.2002
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Das Olivenöl

Er benötigte einige Zeit um halbwegs wach zu werden. Die morgendliche Sonne zeigte dafür wenig Verständnis. Mit einem nicht zu verachtendem Quantum an Sadismus, -den sie zweifelsohne ihr Eigen nennt-, strahlte sie unbekümmert, und gerade durch diese naive Ignoranz in höchstem Maße mit Vorsicht zu genießen, in seine noch geweiteten Pupillen. „Vorhänge, als erstes kaufen wir endlich Vorhänge“ dachte Samuel, während seine zusammen gekniffenen Augen, nach Orientierung suchend, Meter für Meter den lichtdurchfluteten Raum inspizierten, um schließlich mit dem Blick auf dem nackten Körper zu seiner linken zu verweilen. Ein Stück des weißen Lakens wand sich um ihr linkes Bein, das andere in seiner nackten Schönheit angewinkelt darüber gelegt. Ihr Hintern, glatt und ohne gravierende Alterserscheinungen, ihm ohne Scham zugewandt. Das er sie so ansah war schon eine Weile her, dies war ihm durchaus bewusst. Deshalb wollte er sich jetzt extra viel Zeit nehmen, geradezu als wäre es eine an ihn gestellte Aufgabe, sich an jedes kleine Detail zu erinnern und später würde jemand kommen um ihn abzufragen. Da war das rot blonde Haar, leicht gewellt und seit einem Jahr reichte es nur noch knapp übers Ohr. Er war nicht sehr erfreut als er sie damals vom Friseur abholte. Es wäre nun an der Zeit, hat sie gesagt und sie käme sich lächerlich vor in dem Alter noch wie ein Teenager, mit langem Haar, herum zu laufen. Nein, das stimmte. Teenager waren sie weiß Gott beide nicht mehr, aber was das mit den Haaren zu tun hat würde er nie verstehen. Er liebte ihre langen Locken, es war das erste, was ihn vor nunmehr 16 Jahren auf sie aufmerksam machte, 3 Jahre später haben sie geheiratet. Zumindest hätte sie ihn vorher fragen können. Aber sie ließ sie einfach abschneiden, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Er vergewisserte sich, dass sie noch schläft, nahm eine der kurzen Haarsträhnen zwischen Daumen und Zeigefinger, strich zärtlich darüber und ließ sie schnell wieder fallen als sich ihr rechter Fuß leicht bewegte. Für einen kurzen Moment erstarrt, hielt er die Luft an und wartete auf die wiedereinsetzende Gleichmäßigkeit ihres Atems, mit der er ihr Weiterschlafen als gesichert ansah. Erst dann setzte er die Abtastung mit seinen Augen fort. Tat er etwas Verbotenes? Er war unschlüssig und verspürte ein wachsendes Unbehagen, während er Wirbel für Wirbel weiter nach unten vordrang. Dann hielt er nochmals inne, betrachtete das kleine Muttermal, diesen Quadratzentimeter großen Punkt direkt am Ende der Wirbelsäule. So präzise mittig platziert als wäre er die sichtbare Grenze zu einer verbotenen Zone, von der aus sich gleichmäßig zu beiden Seiten zwei verheißungsvolle Rundungen ihm provokant, gar obszön, darboten. Er starrte so lang darauf, dass dieser Punkt sich vor seinen Augen aufzulösen schien, er schließlich kaum mehr dem Drang widerstehen konnte seine Hände um ihre Taille zu legen, sie an sich zu reißen, sein Becken an das weiche Fleisch ihres Pos zu pressen und...
Nur ein Lidschlag reichte, um ihm wieder die genauen Konturen des Males vor Augen zu führen. Abrupt drehte er sich um, richtete seinen Oberkörper auf und spürte festen Boden unter seinen Füßen. So saß er eine Weile auf der Bettkante.

Die lange Autofahrt steckte ihm noch in den Knochen, dass merkte er jetzt. Der ganze Körper war verspannt und ein ausgiebiges Dehnen und Strecken konnte nur minimale Abhilfe verschaffen. Sie erreichten das Haus erst gestern Nacht und gingen, nachdem Claire frische Laken aufgezogen und einen Großteil der Koffer ausgepackt hatte, auch gleich zu Bett.
Möglichst leise drückte er die beiden langen Metallgriffe der durchgängigen Fensterfront nach unten, schob dann die erste Seite nach rechts, worauf die einzelnen Glaselemente sich Ziehharmonikagleich an der Zimmerwand übereinander legten und tat dann selbiges mit der linken Seite. Ein kurzer Blick über die Schulter gab ihm Gewissheit es geräuschlos bewältigt zu haben, denn bei jedem noch so bedeutungslosem Laut wäre sie wie üblich wach geworden. Der typische Duft eines dahin siechenden, mediterranen Sommers stieg ihm in die Nase. Über das salzige Nass des Meeres legte sich ein Strauß von getrockneten Gewürzen. Rosmarin verband sich mit Thymian, und lieblicher Lavendel ereiferte sich, auch einen Platz zwischen den Herben sein Eigen zu nennen. Für die Jasmin Sträucher unterhalb des großen Balkons war es jedoch ein leichtes, in der Schlacht um die sinnliche Herrschaft, deren Sieg die Vereinigung aller mit ihnen verhieß, die Krone nach Haus zu tragen.
Noch immer völlig unbekleidet trat er bis an die kleinen, eng beieinander stehenden Säulen heran, welche den äußeren Rand der südlichen Hoch-Terrasse säumten. Wessen Auge sollte seine Nacktheit auch schon erblicken? Vielleicht ein Bauer, der zufällig den etwa 200 Meter weit entfernten Weg beschreitet oder ein paar Touristen, die von Neugier und Entdeckerdrang getrieben, den schottrigen, schmalen Weg bis hier her durchgehalten haben. Sie wären wohl enttäuscht, die Lorbeeren für ihren Marsch in Form eines nackten Mannes, mittleren Alters, vorzufinden. Unwillkürlich musste er grinsen, holte tief Luft um seinem Brustkorb mehr Volumen zu verleihen und warf kaum merklich einen kontrollierenden Blick nach unten, als hoffte er, die Luft dränge bis dort hin vor. „Trotz dessen, von Enttäuschung kann hier gar keine Rede sein“, resümierte er noch immer amüsiert.
Auf dem Feld vor ihm reihten sich die Ölbäume aneinander. Die knochigen Äste streckten sich schlangenartig dem Licht entgegen und einzelne von ihnen hatten sich auf dem Weg dorthin ineinander verhakt. Es käme einer innigen Umarmung gleich, würden sie sich nicht nach ihrer Berührung so weit als möglich voneinander entfernen und dafür scheinbar selbst ihr ursprüngliches Begehren ignorieren.
Die Ernte der Oliven wäre Anfang November fällig. Innerhalb von zwei Monaten sollte es eigentlich möglich sein ein paar Arbeiter dafür zu verpflichten. Aber Claire hatte sich schon im letzten Jahr vehement dagegen ausgesprochen. „Wieso sollte ich ein Vermögen für ein paar Arbeiter bezahlen und anschließend noch den Bauern der es presst, wenn ich bestes Olivenöl für ein paar Mark in wirklich jedem Supermarkt erhalte?“ Er war sich durchaus bewusst, dass dies keine Frage, sondern ein lang ausformuliertes Nein war. Sein Drang ihr den Unterschied zwischen diesen beiden Alternativen zu vermitteln, hielt sich in Grenzen. Ein Jahr zuvor, sie besaßen das Haus gerade einige Monate, waren sie noch extra zur Ernte hergefahren. Einem kleinem Jungen ähnelnd, bestaunte er da seine ersten Flaschen. Der Bauer hatte sie ihnen in einem Strohkorb überreicht und er drapierte sie sogleich auf dem langen Küchenregal. Schlank und stolz, verkorkt und versiegelt, standen sie dort, als wüssten sie um das Kleinod, welches sie in sich trugen. Ganze Stunden verbrachte er vor dieser persönlichen Galerie der verheißungsvollen Gaumenfreuden. Aber es war nicht allein der reine Geschmack, der ihn zu fesseln wusste, nicht nur die Arbeit und der Schweiß in diesem Öl - er hatte schließlich einen großen Teil selbst gepflückt - es waren vielmehr die Bäume selbst, seine Bäume, auf seinem Grundstück, vor seinem Haus im Süden, die ihn endlos lang das flüssige Produkt seines wahr gewordenen Traumes verehren ließen.
Wenn sie es damals nicht begriff, wie sollte er es ihr jetzt, zwei Jahre später, erklären.
Ihre Liebe gehörte den Blumen. Dafür war es ihr auch nicht zu teuer quer durch den Gartenbereich, der sich abgesehen von der Einfahrt ums ganze Haus erstreckte, eine Bewässerungsanlage legen zu lassen. Viele der Pflanzen und Sträucher kannte er nicht mal beim Namen und um ganz ehrlich zu sein, sie interessierten ihn auch nicht. Die Kenntnis um die Schizophrenie, hier nicht heimische Pflanzen anzusiedeln und jene nur mit Hilfe von unterirdischen Schläuchen und Pumpen am Leben erhalten zu können, war ihm Wissen genug. Immer wieder dachte er dabei an die lebenserhaltene Maschinerie in einem Krankenzimmer und stellte sich vor, ein Arzt -welcher merkwürdigerweise eine Gartenschere hielt- käme mit einer Mimik der aufgesetzten Trauer auf ihn zu, würde in der Absicht ihn zu stärken wahrscheinlich eine Hand auf seinen Oberarm legen um schließlich betont langsam und mit tiefer Stimme zu fragen: „Sollen wir die Geräte abstellen?“ „Ja“, würde er sagen, ... „ja“.

Der Blick auf die Uhr beendete seinen Ausflug in die Gedankenwelt jäh. Bevor er sich dem ‚Jetzt’ zuwand, streifte sein Blick ein letztes mal den Oliven Hain, gleich darauf kehrte er ihm den Rücken und betrat wieder das Schlafzimmer. Die Vorsicht, die er vorhin noch der Terrassentür zukommen ließ, schlug jetzt ins genaue Gegenteil um. Sich des Quietschens der Kleiderschrank Türen durchaus bewusst, öffnete er sie ohne jedwedes erkennbare Feingefühl. Um den Erfolg seines Handelns festzustellen, war es nicht von Nöten das er sich umdrehte.
„Wie spät ist es denn, Schatz?“
Slip, T-Shirt, weißes Hemd und Socken hielt er schon in Händen. Was fehlte jetzt noch? Tatsächlich musste er kurz überlegen und griff dann nach dem Bügel mit der grauen Stoffhose. Etwas ungeschickt legte er das meiste davon über den linken Arm und war schon im Begriff das Badezimmer zu betreten, bis ihm wieder einfiel, dass man ihm eine Frage gestellt hatte, dass sie ihm eine Frage gestellt hatte. Seine Erziehung gebot es ihm, sich ihr zuzuwenden, ansonsten hätte er es wohl nicht getan. So aber drehte er sich um, lächelte sie an und hob dabei fragend die Brauen: „Pardon, was hast Du gesagt, Darling?“ Wie er es befürchtet hatte, fiel dabei das weiße Hemd zu Boden. Die übrigen Teile klemmte er so gut als möglich unter den Arm, bückte sich dann vornüber und hob das Kleidungsstück wieder auf. „Wofür wasche und bügele ich die Sachen eigentlich?“ schlug ihm ihre Stimme barsch entgegen. Ein Strom von Antworten schoss durch seinen Kopf, und er wusste, jede von ihnen hätte einen Mord zur Folge. „Mon Chère“, sprach er ruhig und noch immer lächelnd, „es ist schon fast zehn Uhr und wir müssen noch etliche Dinge einkaufen. Es sei denn Du legst Wert auf eine Zwangsdiät übers Wochenende. Ich bin im Bad und warte nachher unten.“
Auf die zwei Badezimmer hat er beim Bau des Hauses bestanden. Ein Entschluss, den er bis dato nicht ein einziges mal bereute.

Beschwingt nahm er die ersten Marmorstufen nach unten, verlangsamte allerdings auf halber Höhe sein Tempo. Mit jedem weiteren Schritt schob sich ein größerer Ausschnitt der Radierungen in sein Sichtfeld. Sie hingen direkt an der gegenüberliegenden Wand. Man hatte gar keine andere Wahl, wurde auf plumpe Art genötigt sich mit ihnen auseinander zu setzen.
Er sah sie noch vor sich, Nägel im Mund, Hammer in der Hand und wild referierend, dass es sich dabei nicht um die ‚Bild gewordenen Irrungen und Wirrungen eines kranken Hirnes’ handelt, wie er damals glaubte, sondern dies kleine Meisterwerke von Horst Janssen seien.
Wahrscheinlich erwartete sie an dieser Stelle ein erstauntes ‚ah’, aber es blieb aus.
„Die Radierungen sind aus den frühen Siebzigern. Er begann verstärkt mit Linien zu arbeiten und entdeckte in dieser Phase die Landschaft“, sagte sie belehrend.
Samuel grinste. „Bedauerlich nur, dass er nicht entdeckte wie man sie malt.“
„Sie sind nicht gemalt!“ kreischte sie, nicht ohne dabei auch zu lachen. Es war ihm ein Vergnügen ohne gleichen, wenn sie sich derart aufregte. Claire waren die Spielregeln ebenso vertraut und bereitwillig ließ sie sich immer wieder von ihm bis zu diesem Punkt führen, der ihm dann so viel Freude bereitete.

Das nahe gelegene kleine Städtchen erreichten sie gegen Mittag. Die Auswahl an Geschäften war zwar nicht groß, aber er hatte eh nur ein Ziel vor Augen. Nachdem er an dem kleinen Marktplatz rechts einbog, sah er auch schon die alte Fassade, davor den verwitterten Aufsteller mit den täglichen Weinempfehlungen und darüber die ehemals rot-weiß gestreifte Markise –mittlerweile konnte man die Farben nur noch erahnen-. Ein Seufzer der Erleichterung entwich ihm, wobei die Anspannung, die im Laufe der Fahrt und je näher sie dem Örtchen kamen, immer weiter angestiegen war, sich mit einem Mal von seinem Körper löste. Ein Alptraum würde wahr werden, sollte er dieses Ladenlokal irgendwann einmal nicht mehr dort vorfinden. Aber daran wollte er jetzt gar nicht mehr denken. Dies hier war die Pforte ins Paradies, und sie stand nach wie vor offen.
„Du willst nicht schon wieder als erstes da rein?“ Eine rhetorische Frage, die Claire eigentlich jedes mal stellte wenn er den Wagen schon längst vor dem Geschäft geparkt hat. „Na gut, dann wirst Du ja nichts dagegen haben, wenn ich so lange in die Boutique da vorne gehe.“
Nein, er hatte ganz und gar nichts dagegen, es kam ihm genau genommen sogar sehr entgegen. So konnte er sich in aller Ruhe und ohne jegliche Hektik umsehen.

Der alte Mann hinter dem Tresen begrüßte ihn lächelnd und Samuel kam nicht umhin sich zu fragen, ob der Gruß bei jedem Kunden so freundlich ausfiel oder er wieder erkannt wurde und das Lächeln eher aus einer Vorfreude heraus geboren war; einer Vorfreude ob der vielen Banknoten, die bald den Besitzer wechseln würden.
Zuerst blieb er am Eingang stehen, begutachtete kritisch das schmale Ladenlokal, dessen
Regale linear hinauf bis zur Decke reichten, jedes von ihnen voll beladen. Davor jeweils eine Theke mit Frischwaren. Die Rückwand, durch die Markise geschützt im Schatten liegend, unterschied sich durch ihre wabenförmige Struktur von den Regalwänden rechts und links von ihm. Dort wusste er das Blut der Erde, -dem mütterlichem Schoß entquollen-, beste französische Rotweine, vorzufinden. Ja, es war alles noch beim alten, jedes Stück stand an seinem angestammten Platz und die von ihm so gefürchtete Veränderung blieb ein weiteres mal aus.
Beim Anblick der Käsesorten begann er automatisch jeden, so er ihn erkannte, stillschweigend zu benennen. Natürlich war ihm das nicht bei allen möglich, aber wenn ihm erst einmal der Name in den Sinn kam, erreichten ihn aus seinem kulinarischem Gedächtnisrepertoire zur gleichen Zeit die geschmacklichen Raffinessen und es dauerte nicht lang, bis seine Wangentaschen überflutet waren von Speichel, der ein Konglomerat der verschiedensten Käsenuancen in sich trug.
Direkt vorn lagen Coulommiers, Chaource und Brillat – Savarin, dahinter ein Tentation St. Félicien, dessen Teig erst sahnig, mild ist und mit zunehmender Reife an Charakter gewinnt, sein Inneres ist dann fast flüssig, ähnliches gilt für den etwas würzigeren Camembert de Normandie. Daneben ein Fourme d'Ambert und ein Pont l'Evèque, mit kräftigem Aroma. Den ausgeprägten Geruch des feucht glänzenden Langres aus der Champagne und seinem Verwandten, dem Epoisse de Bourgogne, konnte er gar durch die Glasscheibe erahnen. Die sichtbare Mulde in der Oberfläche dient zum Eingießen von Marc de Champagne oder Champagner, hatte ihm der Ladenbesitzer beim letzten mal erklärt, dadurch würde der Käse nach ein paar Tagen seine Aromavielfalt noch vergrößern. Letztlich entschied er sich für seine Klassiker, den Camembert, den Libarot und einem reifen Fermier Reblochon, ein Bergkäse mit natürlichem Schimmel, dessen feucht – speckige Teigkonsistenz ihn immer wieder verzückte.
Die Wahl der Wurstwaren erwies sich als nicht minder schwierig. Nur zu gern hätte er sich von allem etwas einpacken lassen. „Was hindert mich eigentlich daran?“, fragte er sich halbherzig, denn er kannte die Antwort. Geld war lange kein Problem mehr, es war einzig die nüchterne Tatsache nicht alles vor dem Verderben essen zu können, die ihm schließlich eine Auswahl abverlangte.
Die Terrinen standen in weißen, rechteckigen Behältern nebeneinander aufgereiht. Frischlingsterrine, Geflügelleberterrine, Terrine mit wildem Fasan und Pistazien, Entenmousse mit geräucherter Entenbrust, Ententerrine mit grünem Pfeffer und abschließend das Rillettes de Magret d'Oie, alles aus eigener Herstellung und fast täglich wechselnd. Und genau da lag das Problem. Die Hälfte davon wäre womöglich beim seinem nächsten Besuch gar nicht mehr vorhanden, und so entschloss er sich zum ersten mal, zumindest von den Terrinen alle zu kosten und ließ jeweils eine etwa Ein-Zentimeter dicke Scheibe abschneiden. Dafür wollte er auch auf die Magret d'Oie Fumé prétranché -die geräucherten Entenbrustscheiben- und auf die Eselssalami verzichten, keinesfalls aber auf die kleinen lufgetrockneten Würstchen mit gehackten Walnüssen, deren Name er zu seinem Entsetzen vergessen hatte. „Grelots de Savoie“, klärte ihn der alte Herr auf, nachdem Samuel fragend mit dem Finger darauf deutete. Abgerundet wurde der Einkauf durch ein Glas Foie Gras d'Oie Entier mi-cuit, zwei dutzend Austern –die größeren 'Spéciales de Claires', welche längere Zeit in den Mastparks bleiben als die 'Fines'-, einem Landbrot, einem Radicchio und natürlich einer Kiste Bordeaux, dessen Auswahl allein ihn mehr als 15 min kostete.

Für kurze Zeit mit sich und der Welt zufrieden verließ er das Geschäft. Dann sah er Claire, mit etlichen Tüten bepackt an der Beifahrertür lehnend, und nur um einen demonstrativ vorwurfsvollen Blick auf die Armbanduhr werfen zu können, stellte sie die Tüten der linken Hand sogar in dem Moment, da er auf sie zukam, extra vor sich ab. Er ignorierte ihr kleines Schauspiel und fragte, um neutrale Freundlichkeit bemüht: „Wollen wir noch am Marktplatz ein paar Schweinereien essen, Darling?“
„Vielleicht einen Salat“, antwortete sie abweisend.
Er sah sie ein paar Sekunden ausdruckslos an, sie erwiderte den Blick auf gleiche Weise, bis er sich aus seiner Starre löste, die Tüten im Kofferraum verstaute und die Fahrertür öffnete.
„Um an ein bisschen Grünzeug zu nagen müssen wir nicht ins Restaurant. Davon wächst genug in Deinem hochgezüchtetem Garten.“ Er knallte seine Tür zu und sie stieg kurze Zeit später schweigend ein, so wie sie beide den Rest des Nachmittags schwiegen.

Mit der Dunkelheit kam ein kühler Wind, den Samuel als äußerst angenehm empfand. Die letzten Stunden verbrachte er gedankenverloren auf der unteren Terrasse und es war ihm als wäre es eben dieser Wind, der nun seinen Kopf von dem Knäuel angestaubter Fragen und nicht vorhandener Antworten befreite. Er beschloss, ein paar der eingekauften Delikatessen zu kosten und begann in der geräumigen Küche alles, was er zuvor noch in den Kühlschrank geräumt hatte wieder heraus zu holen und von dem weißen Packpapier zu befreien.
Das Resultat war eine Komposition, deren Mitte ein paar Salatblätter zierten, umrandet von einer in Streifen geschnittenen Pastetenauswahl, am äußerem Ende liebevoll mit einem Hauch roter Cumberland Sauce versehen. Die drei Käseleiber richtete er auf einem Holzbrett an, legte ein paar Scheiben Brot, ein Besteck, eine Serviette und ein Käsemesser dazu und untersuchte abschließend alles auf Vollständigkeit. Er mochte es ganz und gar nicht erst während des Essens festzustellen, dass noch etwas fehlte und somit nochmals aufstehen zu müssen. Rotwein und Glas standen schon draußen auf dem Tisch, aber die Salatblätter mussten bisher noch auf jede geschmackliche Unterstützung verzichten. Sein Blick traf das leere Regal, auf dem ehemals etliche Flaschen Olivenöl standen, dann öffnete er hektisch eine Schranktür nach der anderen, bis schließlich nichts übrig blieb, was er noch hätte öffnen können. „Für ein paar Mark in jedem Supermarkt“, zischte er zynisch, während er sich auf den Weg in den Keller machte, hoffend dort vielleicht noch eine übersehene Flasche vorzufinden. Der Keller war hell erleuchtet und ausgesprochen übersichtlich, die Dinge in den Regalen ordentlich sortiert. Um so größer war seine Verwunderung, seine Überraschung, seine Freude, als er tatsächlich eine Flasche des Öls in Händen hielt. Überschwänglich rannte er, zwei Stufen der Treppe mit einem Schritt bewältigend, zurück in die Küche, knibbelte hastig an der Wachsversiegelung herum, worauf sie sich langsam ablöste, schloss dann die Augen und zog ganz bedächtig den Korken heraus, bis ein dumpfes „Plöp“ seinem Ohr schmeichelte. Seine Augen glichen zwei Sternschnuppen, als er sie wieder öffnete - für einen kurzen Moment alles überstrahlend, um sogleich wieder in Dunkelheit zu sterben. Das Öl war ranzig.

Es war fast zwei Uhr, als Claire die Terrasse betrat und abfällig die drei leeren Rotweinflaschen auf dem Tisch zur Kenntnis nahm. „Das erklärt zumindest, warum Dir nicht kalt ist“, äußerte sie schnippisch.
„Wer sagt, dass mir nicht kalt ist...“ Er nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette, atmete ganz langsam einen weißen Schleier aus und sah sieh, dahinter versteckt, mit glasigen Augen an.
Es hatte den Anschein sie wollte darauf etwas sagen, aber als sie zum zweiten mal ansetzte fragte sie lediglich: „Und mit wem hast Du vorhin so lange telefoniert?“
„Mit George“, antwortete er leise.
„Oh Gott“, stöhnte sie, „und hat er mal über etwas anderes geredet als seine belanglosen Scheidungsklienten?“
Samuel sah zu Boden und schüttelte kaum merklich den Kopf.
Claire verschwand wortlos wieder im Haus.
Sie sah nicht mehr, wie seine Augen sich mit Tränen füllten.


" Leben ist das was passiert, während man auf die Erfüllung seiner Träume wartet“

[Beitrag editiert von: Miss O'Gyn am 11.03.2002 um 13:28]

 

Sehr poetisch geschrieben, ich hatte beim Lesen wirklich den Eindruck, einen trägen, warmen Tag im Süden zu verbringen. Liest sich gut, manchmal etwas zu ausführliche Beschreibungen, dazu unten mehr.

My synopsis:

Auf den ersten Blick scheint es der langjährigen Beziehung an nichts zu fehlen - Körper sind intakt, es gibt Haus, Geld, schönes Wetter und weiße Hemden.

Doch bald stellt sich heraus: Gemeinsam haben die beiden nicht mehr viel. Er will Genuss - Sex+Essen -, sie sucht intellektuelle, "emotionslose" Ablenkung - Kunst, shoppen und spröder Salat.

Daraus ergibt sich die strikte Rollenverteilung der Geschichte: er der romantische Schöngeist mit "L'art pour l'art"-Tatoo und Heiligenschein, sie die zickige Spießbürgerin, die Spitzen über gebügelte Hemden und leere Rotweinflaschen ablässt.

"High-noon" des erdrückenden Sommertages ist das abendliche Essen. Als Symbol ihrer Beziehung dient dabei das Olivenöl, und das ist am Ende genauso ranzig wie ihr Paarlauf. Das öffnet ihm die Augen und er will sich scheiden lassen.

Für meinen Geschmack gibt es zu viele ausführliche Beschreibungen, die die Handlung nicht unbedingt vorantreiben. Spätestens bei der Szene im Laden bin ich nur noch über die Zeilen geflogen, um die nächste Stelle zu suchen, an der was passiert. Etwas mehr Straffheit fände ich gut.

Das bekannte Zitat am Schluss hat mich gestört, aber irgendwie muss man ja aufhören, ich kenne das Problem. ;)

Ich finde es am Schluss erstaunlich, dass ER sich scheiden lassen will. Am Anfang sah es noch ganz so aus, als würde ihm ihr Knack-Arsch und einzelne Haarlocken zum Aufrechterhalten der Beziehung reichen, und am Schluss wirkt er so sensibel-depressiv , dass ich dachte, er hätte nur noch die Kraft, die ganze Nacht in sein Kissen zu heulen.

Insgeheim hatte ich gehofft , dass sie ihn verlässt und vielleicht schon mit George seit Jahren betrogen hat. Dann hätte sie ihrem gemeinen Auftritt einen glorreichen Abschluss gegeben und ihn zurück in die freie Wildbahn gesetzt. Das hätte doch was. ;)

Viele Grüße,
Endorphina :)

 

Schönen guten Tach Frau Endorphina :)

Um es mit Deinen Worten zu sagen: Wo soll ich beginnen? Bei der Tatsache, dass ich bisher genau 5 Geschichten aus diesem Forum ausgedruckt habe und 3 davon Deiner Feder entstammen. Oder dem Umstand, diese Geschichte nieder getippselt zu haben, damit ich mir erlauben kann bei den geistigen Ergüssen anderer meinen unqualifizierten Senf dazu zu geben und hier
"Mein irres Paradies" ganz oben auf der Liste stand (weil diese Geschichte einfach großartig ist).
Nein, ich beginne damit, wie beeindruckt ich heute morgen war, ob der Tatsache, dass es eine Person gibt, die es um 2.00 Uhr nachts bewältigte, sich durch meine zugegebenermaßen recht unspektakuläre Geschichte zu kämpfen, um im Anschluss daran auch noch eine Kritik zu zaubern, welche an Amüsement und Treffsicherheit gegenüber ihren Geschichten nichts einbüßen muss. (Nein, dies ist keine Liebeserklärung, mein Nick/Pseudonym drückt das glaube ich klar aus ;) )

Nun zur Geschichte:
Ja, ich bekenne, meine tief in mir versteckte, kleinbürgerliche und verachtenswert spießige Grundtendenz, ließ mich in strikte und wahrscheinlich ziemlich anödende Rollenklischees verfallen, die mit keinerlei Überraschung aufwarten konnten.
Ich gestehe weiter: Ich mochte Claire nicht und bedachte sie mit allen Schlechtigkeiten dieser Welt. Es fiel mir wahrlich schwer, diese dumpfbackige Zicke in der Mitte der Geschichte zur Abwechslung auch mal lachen zu lassen. Und ja, der Leser sollte sie genauso scheiße finden wie ich! (Jeder Mensch braucht ein gesundes Feindbild).
Daraus resultierend erhielt Samuel wohl ungewollt den Heiligenschein aus göttlichen Gnaden, den nun bei aller Liebe kein Mann auf Erden verdient hat. (Wie mir dieser Fauxpas unterlaufen konnte, ist mir auch noch nicht ganz klar).
Zur Verteidigung sei hier vielleicht angeführt, dass die Geschichte hauptsächlich seine Denkstrukturen beleuchtet und es in der Natur der Dinge (oder der Männer?...ist eigentlich das gleiche) liegt, die eigene Herrlichkeit nicht anzuzweifeln. Auf den ersten Blick mag der Typ ja sympathisch wirken, bei genauerer Betrachtung verhält er sich genauso kontraproduktiv wie sie. Ebenso wenig wie sie bereit ist mit ihm ins Delikatessen Geschäft zu gehen ist er nicht gewillt, eine Klamotten Session über sich ergehen zu lassen. Über ihre Interessen macht er sich mehr oder minder lustig. Seine fast devot wirkende Konfliktvermeidungsstrategie geht nicht auf, kann nicht aufgehen, und führt meiner Meinung nach zwangsläufig zu diesem Ende der Geschichte...was das ganze natürlich nicht spannender macht.
Was war noch?
Ah ja, die Verstrickung in Details, die mehr oder weniger als Zeilenfüller daher kommen.
Yep, da kann ich nur zustimmen. Beim Korrekturlesen bin ich daran auch verzweifelt. Dabei handelt es sich wohl um den egoistischen und gescheiterten Versuch, dem Leser meine Liebe zum Essen aufzuzwängen und es fehlt schlicht und ergreifend an literarischem Können, dies geschickt und unauffällig in die Tat umzusetzen. Darin sehe ich selbst eigentlich auch das ganze Problem dieser Geschichte. Sie ist zu unspektakulär, es fehlt ihr an Spannung und mir an den Fähigkeiten, um darüber hinweg zu täuschen.
Ich arbeite daran. Das war ein erster Versuch, andere werden folgen.
Ich weiß...darauf hat die Welt nur gewartet. :D

Also mein Dank für die Kritik :)

Beste Grüße,

Miss O’Gyn

...und irgendwann wird es mir auch gelingen mich kurz zu fassen und vielleicht nicht selbst dafür zu sorgen, dass die Story nun erst recht niemand mehr liest.

[Beitrag editiert von: Miss O'Gyn am 10.03.2002 um 15:53]

 

Hallo svartdrage,

das ist wahrlich interessant. Wenn Dir eine Geschichte gefällt, kredenzt Du dem Schreiber zum Dank erst einmal seine sprachliche bzw. grammatikalische Inkompetenz? ;)
Nein, ich bedanke mich natürlich vielmals für diese Arbeit. Ausgesprochen lieb. Merci :)
Ich werde die Korrekturen vornehmen, sobald ich die Liste meiner Verfehlungen ausdrucken kann. (Auch mein Drucker verstarb kürzlich).

Dank und alles Gute,

Miss O’Gyn

 

Ich weiß gar nicht, was ich zu so vielen Komplimenten sagen soll, aber ich glaube, ich bin gerade um fünf Zentimeter gewachsen. ;)

Was ich an deiner Geschichte mag, ist, dass sie wirklich eine ist - Anfang, Mittelteil, Schluss - und dass am Schluss eine Wendung steht, die sich aus dem zuvor Geschilderten ergibt.

Du hast dich wirklich bemüht, Struktur reinzubringen, was immer etwas Distanz zu dem Gefühl erfordert, dass man eigentlich beschreiben will – ist jedenfalls bei mir so – und deshalb häufig vernachlässigt wird. Also kurz gefasst: Es gibt ein stabiles Grundgerüst und jetzt stellt sich nur die Frage, wie viel du daran aufhängst.

Obwohl hier bei manchen Geschichten gemeckert wird, dass nicht viel passiert, finde ich das nicht sooo wichtig. Manchmal sind es gerade die kleinen, trägen Momente des Alltags, die viel bewegen und die einiges an Dramatik in sich bergen können. Und grundsätzlich finde ich es auch ganz angenehm, wenn als Schluss einer Geschichte nicht immer einer dran glauben muss.

Viele Grüße
:)

[Beitrag editiert von: Endorphina am 16.03.2002 um 19:50]

 

Hallo Miss O'Gyn!

Die Geschichte hat mir ziemlich gut gefallen, ich halte sie sprachlich für recht ausgereift, erzählenswert und (entgegen Deiner eigenen Befürchtungen) an keiner Stelle für langatmig. Also stell Dein eigenes Licht nicht so unter den Scheffel!

In vielen Punkten stimme ich Endorphina zu:

Die Gegenüberstellung von Fleisch und Salat (dieses Bild, ob es nun beabsichtigt war oder auch nicht, ist recht konsequent gezeichnet), die nach außen so gesund erscheinende Situation, die von innen fault, bilden besondere Stärken des Textes.

Leider kannte ich das Zitat mit dem Scheidungsanwalt nicht,

@endorphina: woher kommt denn das?

weshalb ich in den vollen Genuß dieser Pointe kam. Deshalb bleibe ich bei meiner schon vor Lektüre der Kritiken verfaßten Meinung: Den Schluß halte ich für äußerst gelungen, Du schmuggelst dem Leser ganz subtil das Thema Scheidung unter, man liest und weiß, und weiß, daß sie nicht weiß.

Zwei gröbere Kleinigkeiten sind mir aufgefallen, die es vielleicht noch zu verbessern gilt:

Trotz dessen, von Enttäuschung kann hier gar keine Rede sein“, resümierte er noch immer amüsiert.

Die Sache mit der Erektion ist ein wenig mißglückt, sie erschließt sich kaum beim Lesen.

Mon Chère“

War zwar im Französischunterricht immer die totale Niete, bin mir aber dennoch sicher, daß das maskulin ist, sollte vermutlich "Cherie" (mit dem accent degue ´, den ich hier nicht aufs e quetschen kann. Mag den Pinguin trotzdem.

Die drei Käseleiber

Die drei Laib Käse? Heißt das so? Meinst Du das? Hat er so viel gekauft? Muß wohl an einer weiteren Bildungslücke liegen.

@endorphina:

Die Idee, den guten George noch als Liebhaber einzbauen, halte ich für nicht so gut. Besser fände ich eine Andeutung, daß der Protagonist den gebotenen Schritt dann doch nicht ausführen kann, weil er dazu zu weich ist (empfehle zur Illustration dieses Gedankens "Du bist so häßlich" von Konstantin Wecker).

Und was die Charaktere angeht: ich mag sie beide nicht. Du hast Dich also nicht des mit Todesstrafe zu ahndenen Vergehens schuldig gemacht, einen Mann positiv dargestellt zu haben. Leider muß ich allerdings paradoxerweise bekennen, daß sie mir gerade durch diese gehegte Abneigung ans Herz gewachsen sind. Und zwar wirklich beide.

Claus.

PS:

@Endorphina: Ach ja, beinahe vergessen:

Obwohl hier bei manchen Geschichten gemeckert wird, dass nicht viel passiert, finde ich das nicht sooo wichtig. Manchmal sind es gerade die kleinen, trägen Momente des Alltags, die viel bewegen und die einiges an Dramatik in sich bergen können. Und grundsätzlich finde ich es auch ganz angenehm, wenn als Schluss einer Geschichte nicht immer einer dran glauben muss.

Spricht mir aus der Seele. Vor allem diese Betonung der kleinen Dinge.

 

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