- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Das Nichts
Das Nichts besteht nur aus sechs Buchstaben des Alphabets.
Das Nichts kommt ab und an und in letzter Zeit auch öfter abends zur Türe herein und sie sieht es in seinen Augen.
„Guten Abend, mein Schatz!“,
begrüßt sie ihn, weil sie sich den ganzen Tag auf ihn gefreut hat und sie lächelt ihn an. Dann hält sie kurz inne und sieht bewußt in sein Gesicht, seine Augen.
„Was ist los? Was ist passiert?“,
fragt sie ihn dann oft. Er sieht sie an, als sähe er sie zum ersten Mal, als wäre sie eine Fremde, die sich zufällig in sein Leben verlaufen hat.
„Nichts!“,
sagt er dann.
„Es ist nichts. Wieso?“
„Weil ich es dir ansehe, dass dir eine Laus über die Leber gelaufen ist. Darum.“,
sagt sie.
„Nein, es ist nichts.“
sagt er darauf wahrscheinlich und sieht durch sie hindurch, während er sich die Schuhe auszieht und mit einer erschöpften Bewegung in die Zimmerecke wirft.
Es gibt wenig, was sie so voneinander entfernen kann wie dieses Nichts.
Dann wird sie unruhig, angespannt. Sie kennt das von früher aus Kinderzeiten, wenn der Vater mal wieder zuviel getrunken hatte und die Mutter in ihr Spülwasser weinte. Sie holt die Töpfe aus dem Schrank. Sie legt den blutig roten Brocken Rindfleisch auf ein Brett. Dann nimmt sie ihr schärfstes Messer aus der Lade und als sie beginnen will, das gut abgehangene Filet auf dem weißen Brett in Stückchen zu schneiden, da scheint das rohe Fleisch sich gegen die Schwerkraft aufzurichten und sie wie blutigrote Schlangen zu bedrohen „Nichts“ klagt das Fleisch auf dem Brett.
Wütend bearbeitet sie den Fleischberg und schneidet ihn kurz und klein und kürzer und kleiner.
Bis sie die Stücke in das heiße Öl wirft, hört sie das Fleisch klagen. Das überhitzte Öl qualmt schon, weil sie mal wieder den Zeitpunkt verpasst hat, an dem das Öl gerade heiß genug ist, die Poren zu verschließen.
„Nichtsssss.“
zischt das Fleisch im siedenden Fett. Eine Türe fällt ins Schloss. Ihre Haustüre. Er ist gegangen, wie er das so oft macht, wenn das Nichts bei ihnen wohnt. Er nennt es
„Seine Launen haben, die ja jeder Mensch hat.“
Sie nennt es das Nichts haben. Nichts haben.
Ein zweiter Topf wird aufgesetzt, obwohl sie weiß, heute wird ihr Mann nicht essen. Er kommt nach Hause - oder auch nicht. Er wird freundlich sein oder auch nicht. Das Nichts kann ein paar Tage bei ihnen wohnen oder nur wenige Stunden.
„Was habe ich falsch gemacht? Habe ich was Falsches gesagt? War es verkehrt, alleine einkaufen zu gehen, obwohl er angeboten hat mitzugehen? Habe ich zu lange gearbeitet, als er nach Hause kam? War es nicht aufgeräumt genug? Hat er heute Morgen keine passenden Socken gefunden?“, denkt sie.
Dann ist er wieder da, setzt schweigend eine Kanne Kaffee auf. Er redet nicht mit ihr, was sehr ungewöhnlich ist. Manchmal lachen sie viel, nehmen sich in den Arm, küssen sich, spielen zusammen oder reden. Aber heute ist das anders. Heute ist es ganz still.
Sie passt jetzt genau auf. Sie beobachtet ihn: Wie er sich bewegt, wie seine Mimik ist, wann er wohin geht. Ihre Fühltentakel sind ausgefahren, um ja keine Gefahr zu verpassen, die Gefahr, das Nichts so groß zu machen, so sehr, sehr groß, dass es sich bald wie ein nasser schwerer Stein auf sie legt und ihr Herz abdrückt und sie erstickt. Sie beide erstickt.
Sie passt so sehr auf, alles richtig zu machen, dass sie ganz vergisst, was sie eigentlich will. Ob sie ein Radargerät sein will für das Nichts und sein Auf- und Abtauchen, so, wie es nun gerade kommt - und wieder geht.
„Sag nichts Falsches, sag am besten gar nichts. Mach nichts, sag nichts - das ist das Beste im Moment. Es geht vorbei. Seit zwanzig Jahren ist es immer vorbei gegangen.“
Die Haustüre fällt zum zweiten Mal ins Schloss.
Sie weiß, dass der Zeitpunkt kommen wird, da er sie in seine Arme nimmt und dann sieht sie in seine Augen und es ist wieder ihre gute, ihre bessere Zeit.
Sie nimmt jetzt den Topf mit kochendem Wasser vom Herd. Die Nudeln packt sie in eine Tüte. Das heiße Fleisch gibt sie in eine Schüssel, die sie mit Folie zudeckt. Dann räumt sie die Küche sorgfältig auf und wischt die Arbeitsflächen, putzt den Boden. Sie bügelt drei Hemden für ihn und hängt sie in den Schrank.
Dann öffnet sie ihren Schrank und wählt sorgfältig einige Blusen, Hosen und Röcke aus, die sie besonders mag. Sie holt eine große Reisetasche aus dem Keller und beginnt zu packen.
Als die Tasche nichts mehr fassen kann, duscht sie und schminkt sich sorgfältig vor dem großen Spiegel. So würde sie ihm gefallen, in ihrem weiblich verspielten Sommerkleid mit dem tiefen Ausschnitt. Dann nimmt sie ihre Tasche, löscht das Licht und zieht die Haustüre hinter sich ins Schloss. Als sie die Türe abschließt, hört sie weiter unten im Flur die Eingangstüre aufgehen. Sie erkennt ihn an seinem Schritt.
Sie begegnen sich auf der Treppe des Hausflurs, auf der er sie erstaunt ansieht. Sie, seine Frau, mit ihrer großen Reisetasche, abends um acht.
„Was ist los mit dir?“
fragt er.
„Nichts.“, sagt sie lächelnd.
"Es ist nichts.“
Dann geht sie an ihm vorbei, öffnet die Eingangstüre und zieht sie leise hinter sich ins Schloss.