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Das Nichts
Er stand einsam in der Abenddämmerung auf dem Kai und schaute ganz teilnahmslos auf das Meer hinaus. Er fühlte das Nichts. Oder besser gesagt: das Nichts füllte ihn aus. Der salzig-faule Meeresgeruch tat ihm gut. Seit Stunden stand er da: bewegungslos, wunschlos, gedankenlos, heimatlos, selbstlos. Er spürte das Nichts. Er war nicht apathisch, weil es sein Charakter so verlangte, sondern er wurde so, infolge eines kleinen Schlaganfalls. Der größte Teil seiner Erinnerungen, alles was er je gelernt hatte, sogar viele Teile seines Selbst waren nicht mehr da: daher Selbst-Los. Er stellte sich nicht nur vor, er sah es in einem Traum, wie ein Teil seines Gehirns durch das Platzen einer kleinen Arterie, mit Blut geflutet wurde. Das Nichts füllte ihn aus, als würde es ihn verschlingen wollen. Er hatte das Gefühl zu ertrinken. Er konnte es nicht mehr aushalten. Er spürte die matschige Masse seines Gehirns, wie diese im Schlafe, von geträumten, längst wieder vergessenen Fabelwesen zerschlagen wurde.
Es herrscht das Vergessen.
Ein ausgehöhltes Wrack seiner eigentlichen Persönlichkeit blieb dennoch übrig. Und dieses weigerte ganz zu erlöschen. Es wollte am Leben bleiben. Es war mehr eine Sammlung an Instinkten, umzäunt von gesichtslosen Geboten und Gesetzen, das von selbst, also ohne sein aktiven Wirkens lebte. Es schien, dass sein Stammhirn noch einwandfrei funktionierte.
Er fühlte sich wie ein Geköpfter, der richtungslos weiterläuft, bis er irgendwann mal hinfällt. Keine Gefühle waren vorhanden. War das der Zustand der Glückseligkeit? Es war ihm nicht einmal bewusst was und wie viel er eigentlich vergessen hat. Er konnte aber auch keine Gleichgültigkeit empfinden.
Das Es wollte weiter leben. Geankert an das bisschen Bewusstsein, bildete es neue Neuronenverknüpfungen in sein Gehirn. Er spürte es förmlich. Er hoffte sehnsüchtig, dass das Es intelligent genug sei und Bahnen zu seiner Vergangenheit bilden würde. Als stummer Zeuge konnte er erfahren wie das Es alles Neue in sich aufsaugte: Bilder, Gerüche, Geräusche, Impressionen … Er stand am Markusplatz im Venedig. Das Es hatte ihm vor einigen Tagen eine Reise ins Ausland empfohlen. Nach Italien vielleicht? Warum nicht? Und nun stand er da und starrte hinaus in die Lagune. Er hatte immer das Meer geliebt: sein salziges Geruch, das Plätschern der Wellen beruhigten seine Seele. Da er nicht imstande war nachzudenken, außer ganz einfache Tätigkeiten wie Fahrkarten zahlen oder etwas zu essen und zu trinken kaufen, hatte er auch keine Sorgen. Er war immer noch arbeitslos, aber das wusste er nicht mehr. Seine Verwandten zahlten aus Mitleid seine Reise und gaben ihm auch ein wenig Geld, das er wie selbstverständlich entgegengenommen hatte. Sie dachten, eine Abwechslung würde ihn gut tun.
Im Krankenhaus hatte er viele Kranke, viele ältere Menschen getroffen. Viele waren wegen irgendeiner Kleinigkeit geliefert worden. Er hatte wenig verstanden was die Ärzte sprachen. Ein Wort blieb ihm aber doch hartnäckig ins Gedächtnis: Basilaris. Irgendeine Arterie, die das Stammhirn mit Sauerstoff versorgte. Das wusste er aber nicht. Was er auch nicht wusste, dass es bei einer Thrombose der Arteria Basilaris zu ausgeprägten Formen eines Hirnstamminfarkts kommt mit den Folgen: Lähmung aller Extremitäten, Störung der Atmung, bis hin zu völliger Regungslosigkeit. Nur vertikale Augenbewegungen sind willkürlich möglich. Dabei ist das Bewusstsein im Unterschied zum Wachkoma weitgehend erhalten.
Damals spürte er andauernd eine bleierne Müdigkeit, so genannte Somnolenz. Die Ärzte sprachen von Sopor.
Topor lateinisch für Todesschlaf.
Er erlebte auch schreiende Patienten, die sich den Tod wünschten. Mancher Patient, der das Bewusstsein wieder erlangte, riss sich die Nadel aus den Venen, so dass es eine Riesensauerei entstand. Er war in allen Hinsichten pflegeleicht gewesen, wie ihm die Krankenschwestern zu sagen pflegten. Er sah auch Angehörigen, die sich um einen Schwerkranken kümmerten. Dann sah er Patienten, die starben. Oder nach Hause geschickt wurden, um dort zu sterben. (Der Tod war überall. Er wünschte sich auch er wäre tot. Oder, besser, nicht geboren. Er dachte eigentlich nicht darüber nach. Es waren mehr kurze Impulse des Todes. Das kranke Leben in ihm suggerierte ihm Todeswünsche. Es wollte sich um ihn nicht mehr kümmern. Das war ihm aber nicht bewusst. Er dachte, dass es er ist, der nicht mehr leben will.)
Schließlich wurde er aber sehr schnell entlassen, denn er sprach die Therapie gut an. Er konnte von Anfang an sprechen und sich bewegen. Die Standardfragen nach Geschlecht, Alter und Beruf konnte er doch richtig ausfüllen.
War er ein Simulant, hatte sich mancher Krankenschwester gefragt? Auf jeden Fall wurde er als geheilt wieder der Welt zurückgegeben. Das Leben sei doch schön und es geht weiter, hatte der zuständige Arzt gesagt, man soll das Beste daraus machen. Für das bloße Existieren musste es reichen. Der Rest soll das Leben selbst besorgen. Früher oder später wird der Patient das normale Leben wieder aufnehmen können.
Die Forschung der Ärzte reichte aber nicht bis in die Hölle hinab, wo sich seine ganze Tragödie abspielte. Nach seinem Vorleben wurde er nicht gefragt. Das Vorleben spielte einfach keine Rolle.
Er war wieder mal überrascht über das Es. Es stellte ihm neue Fragen, es ließ ihn nicht zufrieden. Warum? Was wollte es? Es ermöglichte ihm über neue Begriffe und Möglichkeiten nachzudenken. Er hatte plötzlich Angst, dass er sich zu einer anderen Person entwickeln könnte. Das Es könnte eine neue Persönlichkeit bilden, ohne ihn zu fragen. Venedig bildete auch einen neuen Anfang, weil für ihn alles neu war. Heute war er zum ersten Mal hier. Und doch, kam ihm alles so vertraut vor. Er hatte früher Bilder und Photos von Venedig angeschaut. Das war ihm plötzlich eingefallen. Nur das es so weit, weit weg zurück lag, wie aus einem anderen Leben. Er konnte nachvollziehen was es hieß: Der Geist war willig, aber das Fleisch war schwach (sic!). Die Somnolenz herrschte immer noch über ihm, dennoch war er willig diese nach Möglichkeit, wenn er sie auch nicht überwinden konnte, zu täuschen. So machte er bewusst Bewegungen, langsam, damit das Es in ihm immer neue Reize empfangen konnte. Was es von außen als Flanieren zu bezeichnen war, war in Wirklichkeit ein Überlebenskampf. Er ging nun auf und ab dem Kai entlang, die Menschen, die Sonne, das Wasser, die Möwen, die Gondeln, die Luft, der Duft, alles was Leben hieß, in seiner unmittelbaren Nähe, genießend. Er hatte eine unerwartete Hilfe bekommen, das empfand er nun, und war glücklich. Das Es lebte in ihm, höchstwahrscheinlich seit seiner Geburt, und er verdankte ihm natürlich viele Dienste, nur dass es ihm erst jetzt möglich war es wahrzunehmen. Das Leben wollte unabhängig von ihm weiter existieren, denn es nahm keine Rücksicht auf seine Wünsche. Es war eine leidenschaftslose, willkürliche, unbarmherzige Energie, die ihm ständig neue Impulse zum Leben gab. Er bemerkte ihre Rücksichtslosigkeit und war wütend darüber, da diese ihn als Person entwertete, praktisch annullierte. Er war seines Selbst nicht mehr sicher. Er fühlte sich von dem Es gedankenmanipuliert. Das Leben inspirierte ihm jetzt auch noch zu leben. Und damals wollte es dass er stirbt? Wirklich lächerlich. Er beschloss, wenn mehr aus einem unerklärlichen Trotz (défiance brute), sich diese Energie auch zu nutzen. Aber nicht so rücksichtslos, wie er sie spürte, sondern angemessener, geordneter … Auf jeden Fall soll es das Nichts auffüllen!