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Das neue Auto
Papa fuhr mich in dem Mercedes S-Klasse, der im Sonnenlicht wie Quecksilber glänzte. Ich konnte absolut nichts mit Autos anfangen. Der einzige Sinn eines Autos war in meinen Augen seine Funktion: Fortbewegung. Vater allerdings, der war begeistert, der sank in die graue Polsterung, der roch diesen Neuwagenduft, den das lederne Amaturenbrett ausdünstete und lächelte innig, als hätte er sich verliebt. Während der Fahrt lobte Vater das Auto: "Mensch, was für ein unglaubliches Fahrgefühl, Rick, ich fühle das Auto wie mich selbst, als wäre die ganze Karosserie, bis ins Gummi der Reifen, nur eine Fortsetzung meines Körpers; das Ding gehört mir." Er regredierte quasi in ein frühkindliches Stadium, mit allem Drum und Dran, zappelte auf dem Sitz, lachte und freute sich, wie ich mich mit 8 Jahren über einen ferngesteuerten Miniatur-BMW gefreut hatte. So ganz konnte ich seine Investition nicht nachvollziehen. Papa, der sich wöchentlich über die Belastung durch den Unterhalt beklagt, kauft sich einen nagelneuen Mercedes, dachte ich, mit GPS, damals, als die Dinger noch nicht so verbreitet waren. Ich wollte seine Laune aber nicht versauen und mimte Interesse: "Wie schnell fährt der denn, Papa?"
Papa hob die buschigen Brauen und schob die Brille bis auf den Ansatz seiner klumpigen Nase voller geplatzter Äderchen. "Ich zeig dir, wie schnell dieses Teil fährt. Siehst du jetzt." Dann drückte er das Gaspedal wohl so ziemlich durch, sodass es mich ruckartig in die Polsterung zurückriss. Ich sah Papas Halbprofil: Hochroter Kopf, voller Testosteron und Adrenalin, die Augen geweitet, den Blick wie paralysiert auf den sonnenverbrannten Asphalt gerichtet. Ich hatte dieses Kribbeln im Bauch wie bei Achterbahnfahrten, sah den Mittelstreifen, der als nahtlose Linie unter uns hinweg zog. Der Zeiger auf dem Tachometer machte eine 50° Grad Bewegung und zuckte dann bei 200 km/H auf der Stelle, weil Papa meinte, dass er mir keine Angst einjagen wollte. Ich klammerte mich an Tür und Sitz, bis er allmählich entschleunigte. "Maximum ist so bei 250 km/h.", lachte er. Ein dünner Schweißfilm bedeckte seine Stirn. "Gehts dir noch gut?", fragte er grinsend. Ich nickte. "Papa? Warum hast du dir eigentlich einen Mercedes gekauft?"
"Weil es eine geile Karre ist? Guck dir doch an, wie der beschleunigt, der schwache Motorlärm, der kaum die Klimaanlage übertönt, und trotzdem sonne Maschine, dass du glaubst, du sitzt nicht mehr, sondern fliegst. Rick, das ist kein Auto mehr, das ist ein Gefühl, Passion, Rick. Das Auto ist einfach der helle Wahnsinn."
Per Knopfdruck öffnete Papa die Fenster an unseren Seitentüren und ein Kanal aus Fahrtwind blies quer durchs Auto und wirbelte meine braunen Locken durcheinander. Papa hatte ja kaum noch Haare; nur noch so einen Rest von Grau-Weiß, der wie ein Nimbus auf dem Rundkopf thronte. Papa erklärte:
"Ein Mann brauch ein Spielzeug. Ich bin jetzt 43 Jahre alt. Aber an dem Steuer dieses Gefährts habe ich kein Alter, keine grauen Haare, keine Rückenschmerzen. Da kann ich mich fallen lassen, Rick. Ich habe jetzt in der Vergangenheit so viele Schwierigkeiten gehabt. Ein Mercedes ist ein Lebensgefühl."
"Nein, Papa, im Grunde ist es ein Auto, das fährt, nur größer und irgendwie beeindruckender als die anderen Autos. Aber ich meine..." Daddy fuhr nun ganz langsam und einhändig, während er mit der anderen Hand den obersten Knopf seines Hemdes öffnete. Er trug ausschließlich für meinen Geschmack ziemlich hässliche Flanellhemden, die sich über seinem kugelförmigen Bauch spannten; dazu Blue Jeans und Turnschuhe. Ich räusperte mich: "... das Auto ist teurer als andere Autos. Mich geht es im Grunde nichts an..."
"Ganz genau, Rick, das geht dich absolut nichts an."
"Mich geht nie etwas an."
"Das ist mein Auto, bezahlt von meinem Geld. Was willst du jetzt mit teurer. Weißt du, wie viel Geld die Klamotten da gekostet haben, die du trägst? Deine Adidas-Turnschuhe? Deine Uhr? Rick, bist du nicht etwas undankbar?"
"Aber die Turnschuhe habe ich seit fast einem Jahr. Und die Uhr hast du mir zum Geburtstag geschenkt."
"Ach, Geschenke kosten auch Geld...", sagte Papa und in dem Ach schwang so viel Verachtung und Wut, dass ich nicht mehr wußte, ob ich die Klappe halten oder reden sollte. "Das, was ich mich halt frage, ist...", sagte ich: "... Warum beklagst du dich über deine finanzielle Belastung, mit dem Unterhalt für Mama, deiner Firma und deinem Sohn, wenn du dir so einen silbernen, glänzenden, unglaublich eindrucksvollen Boliden kaufst?"
Mein Vater quetschte ein Lächeln auf seine Lippen, etwa so, als drücke er den letzten Rest aus einer Zahnpastatube.
"Rick, irgendwann darf ich mir auch mal etwas gönnen."
"Ich kriege auch keinen Mercedes!"
"Du bist 16, Rick."
"Ich finde das einfach ungerecht, weil du..."
"Rick, das ist mein Geld! Ich habe mir das nicht ausgesucht, die Scheidung, deine Mutter und dich. Immer soll ich blechen!", brüllte er und kniff mehrfach die Augenlider zusammen, weil die Sonne mittlerweile in einem solchen Winkel hinab auf den Mercedes knallte, dass das Licht ihn blendete. "Tut mir leid!", sagte ich und sah durchs Fenster: Böschungen und Fichten, welche die Schnellstraße umsäumten, flogen vorüber. Der Himmel war kein Himmel mehr; eine wolkenlose Fläche aus Azurblau.
"Rick, es tut mir leid. Aber freu dich doch einfach mal für mich. Genieß doch einfach mal das Teil, das Gefühl von Geschwindigkeit, den Rausch des Asphalts, wie wir über den Highway jagen. Wenn du willst, können wir raus aufs Land und du darfst dann mal ans Steuer Rick. Einen Mercedes S-Klasse, mit 360 PS, und du als Pilot, na, wie wäre das?"
Ich bemühte mich: "Ja, vielleicht, Papa."