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Das Netz
Seit 10 Jahren war sie nun beim Zirkus Valeroso mit dabei. Damit war für sie ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen.
Sie liebte diese Welt. Vor dem Zelt hatte sie ihren eigenen kleinen Wohnwagen. Jeden Tag von früh bis spät übte sie mit der Truppe auf dem Seil. Sie waren ein eingespieltes Team, übten immer ohne Netz.
In der freien Zeit half sie beim Auf- und Abbau des Zeltes, fütterte die Pferde und verteilte Plakate.
Sie verstand sich mit allen prima. Hier war sie zuhause, obwohl sie als einzige nicht zur Familie gehörte.
Ihre Eltern waren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Von da an war sie bei ihrem Grossvater aufgewachsen.
Von ihm hatte sie die Faszination für den Zirkus geerbt. Früher hatte er selber mit Tieren gearbeitet und noch heute verpasste er keine Vorstellung.
Als er jedoch mit 82 Jahren starb, wollte sie nicht alleine in dem grossen Haus leben, verkaufte es und ging zum Zirkus.
Er wäre sicher stolz auf sie gewesen.
Nun steht sie da. Alle sind bereit. Von draussen hört sie die Leute lachen und klatschen. Die Tickets sind restlos ausverkauft.
Es geht los! Der Vorhang geht auf. Sie muss als erste raus und aufs Seil. Ihre Hände sind eiskalt. Solches Lampenfieber hatte sie noch nie.
Doch selbstbewusst steigt sie die Leiter hoch und lächelt ins Scheinwerferlicht. Aus dieser Höhe kann sie die Menschen im Publikum nicht mehr erkennen.
Vorsichtig setzt sie einen Fuss aufs Seil und sucht das Gleichgewicht. Dann läuft sie los.
Doch plötzlich erkennt sie das Ende des Seils nicht mehr, vor ihren Augen wird es schwarz und sie verliert die Balance.
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„Das Netz hat ihr Leben gerettet“, hört sie den Arzt sagen, der neben ihr kniet.
Langsam kommt sie zu Bewusstsein und die Erinnerung kommt zurück. Ihr Kopf schmerzt, doch sie hat sich nicht verletzt.
Alle Zirkusleute haben sich um sie versammelt.
Mit blassem Gesicht helfen sie ihr auf die Beine.
„Heute Abend vor der Vorstellung war ein alter Mann bei mir“, erzählt der Direktor, „ich musste ihm versprechen, heute mit Netz zu arbeiten. Während der Vorstellung sass er in der vordersten Reihe.“
Alle drehten sich um und schauten auf die ersten Plätze.
Die Gäste waren alle gebannt auf ihren Plätzen sitzen geblieben.
Doch ein Stuhl war leer...