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Das Nachtclub-Kamel
„Sehr verehrte Damen und Herren“, trompetete es ironisch aus den knarrenden Lautsprechern. Die nicht mehr als zwanzig Zuschauer, die ihren Weg in diesen verrauchten, dunklen Nachtclub gefunden hatten, schreckten aus ihrem Halbschlaf auf und richteten den Blick auf die Bühne, wo diese aufgeschwemmte Mittfünfzigerin mit den rot gefärbten Locken ganz offensichtlich den nächsten, abgebrannten Möchtegernkomiker ansagen musste.
„Hier ist nun für Sie der letzte Künstler des Abends. Die Sensation vom Broadway, bla bla. Das erste sprechende Kamel der Welt… mein Gott“, sagte sie mit all der Resignation, die sich in 32 Jahren Nachtcluberfahrung aufgebaut hatte. Begleitet von einer markerschütternden Rückkopplung ließ sie das Handmikrophon in die Halterung des Ständers einrasten und ging kopfschüttelnd von der Bühne.
Spot auf die Bühnentreppe, Auftritt Kamel.
Den Zuschauern stockte der Atem, jeder war wieder hellwach, man rieb sich die Augen, tauschte ungläubige Blicke aus. Jeder hatte mit einem schlecht verkleideten Zoten-Trottel gerechnet, aber das? Konnte das wirklich…?
„Ja, ich bin ein echtes Kamel und ja, ich kann sprechen“, sagte das Kamel gelangweilt durch die gepressten Lippen, in deren Winkel lässig eine Zigarette hing.
Totale Stille erfüllte den Saal und die Münder der Erschrockenen und Entsetzen standen weit offen. Stille. Das irgendwie abgewrackt, müde und alt wirkende Kamel auf der Bühne musterte sein Publikum. Es trug einen Hut, und verbreitete beim bloßen Anblick Sarkasmus und New Yorker Flair.
„Wald“, durchbrach der rauchende Vierbeiner die Stille. „Warum ist diese billige Kulisse hinter mir ein Wald? Seh’ ich etwa aus wie ein Affe, oder was? Bin ich ein AFFE?“ Das Kamel wurde immer lauter, während sich im Publikum die Frauen ängstlich an ihre Partner klammerten.
„Ach, lass gut sein“, zischte das sprechende Kamel cool, spuckte die Zigarette auf den Boden und trat sie geschickt mit einem Huf aus.
„Ich soll hier heute Abend witzig sein. Witzig…! Ich stand schon mit Barbara Streisand und Cher auf der Bühne und unsere Lieder waren Hits! Hits, ihr Versager. Glotzt nicht so, ihr habt doch auch kein Leben… Hätte einer von euch ein Leben, würde er seinen Samstag Abend nicht in diesem stinkenden Drecksloch verbringen. Ich kenne Leute wie euch. Ich kenne euch alle, müde und besoffen, wie ihr da sitzt. Ich stand schon mit Barbara Streisand und Cher auf der… ach komm, lass gut sein.“
Das Wüstenschiff mit den tiefschwarzen Augenringen senkte den Blick. „Witzig sein“, zischte es verächtlich aus den zusammengepressten Lippen. Die Coolness wich von ihm wie Herbstblätter von einem Baum, es wirkte jetzt irgendwie nackt – was es bis auf den Hut auch war – aber man sah, wie die Maske fiel. Konnten Kamele weinen?
„Nicht mal ein Glas Wasser steht bereit. Ich habe seit einer Woche nichts getrunken, warum gibt mir niemand was zu trinken!“, rief das Tier zornig. Und ja, es weinte. Das Kamel weinte. Und schließlich, durchlöchert von den fassungslosen Blicken der Zuschauer, wandte es sich ab und ging langsam, schleichend davon.
Ein dicker Mann an der Bar begann langsam zu applaudieren, eine Frau, die weiter vorne saß, stimmte emanzipiert mit ein, ihr Partner ebenfalls und schließlich standen sie alle auf, applaudierten und schickten Pfiffe der Begeisterung hinter die Bühne. Der kleine Saal tobte, doch das sprechende Kamel kam nicht auf die Bühne zurück. Es würde nie wieder irgendwo hin zurückgehen.