Das Mysterium oder: Wie weit kann Man(n) gehen
Das Mysterium auf dem Friedhof
Karl war heute Morgen früh zur Arbeit gegangen. Ein unangenehmer Traum hatte ihn um kurz vor fünf aus dem Schlaf gerissen. Seine Frau lag seelenruhig neben ihm. Ihr monotones Atemgeräusch hatte beruhigend auf ihn eingewirkt. Doch jedes Mal, wenn er versuchte einzuschlafen und die Augen dabei schloss, spukten die Bilder des Geträumten in seinem Kopf herum. Eine halbe Stunde später stand er auf.
Er ging ins Bad und machte die Dusche an. Als diese die gewünschte Temperatur erreicht hatte, betrat er die enge Duschkabine. Das warme Wasser wirkte wohltuend auf seinen verspannten Körper. Als er fertig geduscht hatte, stand er am Spiegel, sein Kopf über den Spülstein geneigt, um sich die Zähne zu putzen. Warme Wassertropfen schmiegten sich an seine kräftigen Beine. Ein wohltuendes Gefühl durchdrang ihn, als Tropfen für Tropfen über seine Beine zu Boden floss. Nachdem die morgendliche Körperpflege verrichtet war, zog er sich seinen Arbeitsanzug an und ging in die Küche. Er stellte die Kaffeemaschine an, nahm sich ein Stück Kuchen aus dem Kühlschrank und holte die Zeitung rein.
Als er fertig gefrühstückt hatte, stellte er das Geschirr in die Spüle und suchte seine Autoschlüssel. Er schloss die Tür hinter sich ab und ging in sein Auto.
Auf der Fahrt zur Arbeit hatte er vergessen, wovon er geträumt hatte. Er wusste nur noch, dass es etwas eigenartiges, etwas irreales war.
Karl stellte sein Auto auf dem kleinen Parkplatz vor dem Eingangstor des Friedhofs ab. Er war Gemeindearbeiter und deswegen auch für die Pflege und Erhaltung der heiligen Ruhestätte zuständig. Er schloss seinen Wagen ab und holte einen Eimer und eine Schaufel aus dem Kofferraum. Heute wollte er den Eingangsbereich der Friedhofskapelle erneuern. Die Bodenplatten, welche vor dem Eingang der Kapelle angebracht waren, hatten im Laufe der Jahre an Form und Stabilität verloren. Einige waren von dicken Wurzeln der großen Eichen, welche auf dem Friedhof ihr Dasein fristeten, regerecht zerteilt worden.
Als Karl vor dem großen, eisernen Friedhofstor stand, war er verblüfft, dass das Schloss bereits aufgeschlossen war. Da er als einziger Arbeiter dort tätig war, hatte außer dem Pfarrer niemand einen Schlüssel. Doch dieser war erst Vorgestern zu seinen Verwandten nach Spanien gefahren. Verwundert betrat er den Friedhof.
Er schaute sich um, ob über Nacht jemand hier gewesen sein könnte. Als er nichts Auffälliges fand, stellte er den Eimer neben dem Eingangstor ab und ging auf die Kapelle zu. Als er nur noch einige Meter von dem alleinstehenden Gebäude entfernt war, welches von zwei großen Eichen und mehreren Grabstätten gefallener Soldaten aus den beiden Weltkriegen umgeben war, stockte sein Atem. Langsam ging er auf die hölzerne Tür des Gebäudes zu. Eine schwarze Krähe flog kreischend über seinem Kopf hinweg. Ruckartig zuckte er zusammen und drehte sich um. Dabei rutschte er auf einer der mit Moos bedeckten Kacheln aus und viel der Länge nach hin. Er hatte sich die blaue Hose seines Arbeitsanzugs aufgeschlagen. Blut rann aus seinem verwundeten Knie. Mit schmerzverzehrtem Gesicht richtete er sich langsam auf. „Verfluchter Mist“, schrie er in die Morgendämmerung hinaus. Es sollte ein trüber Herbsttag werden. Das Laub war gelb geworden und hing noch immer fest an den Bäumen. Es würde noch ein paar Wochen dauern, bis es wie ein Regenschauer von den großen Eichen herunterrieseln würde und den Boden rings um die Kapelle noch rutschiger machen, als er ohnehin schon war. Eine Menge Arbeit sollte auf Karl zukommen. Doch daran dachte er im Moment nicht.
Mit bangem Blick betrachtete er das Schloss der Holztür. Dieses war aufgebrochen worden. Die Türklinke lag zu seinen Füßen. Komisch, dachte Karl. Wer in der Lage war, das Haupttor aufzuschließen, müsste eigentlich auch im Besitz eines Schlüssels für die Kapelle sein. Doch was wollte jemand in einer Friedhofskapelle? Hier gab es doch nichts zu stehlen?
Plötzlich traf es Karl wie ein Blitz. Blut schoss in seinen Schädel. Eine Ader in seinem Kopf pochte wie eine Ölpipeline, die unter zu großem Druck stand. Er rannte geradewegs auf den Sarg zu, der in Mitten des Raumes aufgebahrt war. Er öffnete mit seiner ganzen Kraft den massiven Deckel des Eichensargs. Ein schönes Modell, was an die frühen Siebziger erinnerte. Ein schmiedeeisernes Kreuz war an der Oberfläche des Deckels angebracht. Ein wahres Luxusmodell, wie es sich nur eine reiche Person leisten konnte. So war es auch. Karl schaute verstört in den leeren Bauch des Sargs. Die tote Frau war verschwunden. Er schloss die Klappe wieder und hielt einen Moment inne. Verzweifelt kramte er in seinen Erinnerungen. Da war doch was.
Es war vor einer Woche gewesen, als Frau Hildegard Müller, die Tochter des Stadtrats, mit ihrem grünen VW Polo auf der Autobahn unterwegs war. Sie wollte gerade auf die Raststätte abbiegen, als sie von einem polnischen LKW in die Leitplanke gedrückt wurde. Sie konnte nicht mehr reagieren und fuhr ungebremst in die Leitplanke. Ihr Auto überschlug sich und sie wurde aus dem Fenster in einen tiefen Graben geschleudert, der sich hinter der Leitplanke befand. Obwohl sie innerhalb weniger Minuten ärztlich versorgt werden konnte und auch andere Autofahrer sofort erste Hilfe leisteten, konnte man sie nicht mehr retten. Erst vor ein paar Tagen wurde ihre Leiche von der Polizei freigegeben, da der LKW-Fahrer spurlos verschwunden war. Den Namen der polnischen Spedition, für die der Fahrer unterwegs war, konnte sich niemand der Augenzeugen merken. Da zu dieser Zeit viel Verkehr herrschte und eine unzählige Masse an LKWs unterwegs war, war es auch für die Ordnungshüter unmöglich, den entsprechenden LKW ausfindig zu machen.
Mehr wusste Karl nicht. Er wusste nur das, was in den Zeitungen stand. Er konnte sich vorstellen, dass man Lack- und Reifenspuren sichergestellt hat, doch musste man erst einmal den passenden LKW finden, um etwas Genaues sagen zu können.
Als sich Karl wieder beruhigt hatte, ging er schnell zu seinem Auto, um mit seinem Handy die Polizei zu verständigen. Nachdem er mit hysterischer und schneller Stimme der Frau auf der anderen Seite der Leitung das Gesehene geschildert hatte, wurde ihm angeordnet, dort auf die zuständigen Polizisten zu warten.
Als ein Streifenwagen, ein BMW und ein großer Mercedes auf dem Parkplatz eintrafen, war Karl sich sicher, dass die Polizei diese Sache äußerst ernst nahm. Als er das Gesicht von Kommissar Wolter sah, war ihm klar, dass die Ermittlungen ernst waren. Man ging wohl immer noch davon aus, dass es sich nicht um einen Unfall handelte. Es kam auch höchst selten vor, dass ein Wagen, der sich schon auf der Verlangsamungsspur befand, in die Leitplanke gedrückt wurde.
Kommissar Wolter war berühmt in der Gegend. Man kannte ihn aus dem Fernsehen und aus Zeitungen, da er vor ein paar Jahren an der Zerschlagung eines international agierenden Hehlerringes beteiligt war.
Der große und spindeldürre Mann stand vor Karl und begrüßte ihn artig mit Handschlag.
„Sie haben also den Fund gemacht?“ fragte er in einem sehr freundlichen Ton.
„Ja.“ Karls Antwort kam kurz und präzise. Er war kein Mann der vielen Worte. Nur in Angstsituationen war er in der Lage, schnell und viel zu reden.
Doch sein Schock hatte sich gelegt. Die innere Unruhe war abgeklungen und hatte Platz für großes Pflichtbewusstsein gemacht, welches nun in Karls Seele dominierte.
„Können sie mir ungefähr beschreiben, was sie heute Morgen vorgefunden haben?“
Karl überlegte kurz und schilderte alles so, wie es war.
„Sie haben doch nichts angefasst, oder?“
Diese Frage erschien dem Kommissar fast überflüssig, da die meisten Menschen, die eine zufällige Entdeckung gemacht haben, etwas anfassten, um herauszufinden, was nicht stimmte.
„Leider ja.“ Karls Stimme war von einem Unterton der Unsicherheit befangen.
„Ich musste doch nachsehen, was passiert ist. Ich bin doch hierfür verantwortlich. Also habe ich den Sargdeckel geöffnet. Werde ich jetzt verdächtigt?“
„Dazu besteht kein Grund.“ Zunächst noch nicht, dachte Kommissar Wolter. Es war schon zu Genüge vorgekommen, dass jemand als Finder oder Zeuge bei der Polizei anrief, um sich ein eigenes Alibi zu verschaffen. Doch Wolter hatte ein Gespür für seine Gesprächspartner. Er konnte an Tonfall und Gestik fast sicher feststellen, wer als Tatverdächtiger einzustufen ist und wer nicht. Bei Karl war auf jeden Fall Zweites der Fall. Wenn er sich täuschte, würde er sofort in Rente gehen, sagte er sich in seinem Unterbewusstsein.
Wolter ließ alles absperren, um die Spurensicherung arbeiten zu lassen. Er bedankte sich bei Karl und geleitete ihn zu seinem Auto.
„Wenn ihnen noch etwas einfallen sollte, melden sie sich bitte bei mir. Hier, meine Karte.“
Karl nickte und steckte die Karte in seine Brusttasche.
Es war Dienstag. Ein kalter Herbstmorgen. Die Blätter fielen von den Bäumen. Karl arbeitete im Stadtpark. Er stand unter einer großen Eiche und fegte heruntergefallene Blätter zusammen. Er hatte heute Morgen in die Zeitung geschaut. Man war bei den Ermittlungen noch nicht wirklich weitergekommen. Es hatte diverse Hinweise aus der Bevölkerung gegeben. Schichtarbeiter, die früh am Morgen nach Hause gekommen waren, hatten einen Schatten auf dem Friedhof gesehen. Sie hatten sich nichts dabei gedacht. Einige von ihnen meinten sogar, es käme von der Übermüdung. Sie hätten einfach zu lange in entgegenkommende Scheinwerfer geblickt und waren nun durch einen grellen Schein auf den Augen geblendet. Karl machte Frühstückspause. Er holte ein selbstgeschmiertes Brot aus seiner Brusttasche und kniete sich unter der großen Eiche nieder. Das feuchte Gras hinterließ grüne Flecken auf dem blauen Stoff seiner Arbeitshose. Ein großer, gelber Flicken zierte sein rechtes Knie. Plötzlich sprang er wie von der Tarantel gestochen auf und stürmte den Weg durch den Park entlang. Er rannte einige Passanten um, die sich nach ihm umdrehten und ihm Schimpfwörter nachriefen. Doch er ignorierte sie. Das war es. Genau das. Etwas war an diesem Morgen anders gewesen und er wusste jetzt auch, was es war.
Als er vor dem Tor des Friedhofs eintraf, wurde er bereits von Kommissar Wolter und zwei Streifenpolizisten erwartet. Ihr BMW war schneller als sein alter Käfer.
„Gut das sie gekommen sind, ich muss ihnen etwas wichtiges zeigen.“
Einer der Polizisten schloss das Tor auf. Karl ging vor den drei Ordnungshütern her. Er steuerte geradewegs auf die alte Eiche zu. Hatte er nur geträumt?
Als er direkt vor dem Stamm der Eiche stand, atmete er erleichtert auf. Er zeigte mit seinem rechten Finger auf eine Einkerbung in der Rinde.
Der Kommissar zuckte verwundert mit den Augenbrauen. Als er das Gesehene wahrgenommen hatte, klopfte er Karl freundschaftlich auf die Schulter.
„Das ist es. Wie konnten unsere Leute das bloß übersehen? Sagen sie, wie ist es ihnen eingefallen?“
Karl erzählte dem Kommissar sein dejà vu Erlebnis unter der alten Eiche im Stadtpark.
Die Ermittlungen konnten nun in eine andere Richtung gehen. Der Kommissar bedankte sich bei Karl und alle vier Männer verließen den Friedhof.
Einige Tage später waren die Zeitungen voller Sensationsmeldungen. So etwas hatte es noch nicht gegeben. Karl saß einen Abend zuvor mit seiner Frau vor dem Fernseher. Er hatte die Bilder auf sich wirken lassen. Als der Bericht abgelaufen war, küsste ihn seine Frau zärtlich auf die Stirn. Die Belohnung von 10.000 €, welche der Stadtrat ausgesetzt hatte, lagen auf seinem Tisch.
Des Rätsels Lösung war nach dem Fund vor einigen Tagen auf dem Friedhof ganz einfach gewesen. Einfacher, als es sich Kommissar Wolter in seinen kühnsten Träumen hätte ausmahlen können. Auf der Rinde des Baumes hatte ein polnisches Kennzeichen gestanden. Noch am selben Tag gaben die Beamten eine deutschlandweite Großfahndung nach dem zugehörigen Fahrzeug aus. Zwei Tage später hatte man den LKW gefunden. 50 Kilometer von der Unfallstelle entfernt stand er verlassen auf einem abgelegenen Parkplatz an einer wenig befahrenen Autobahnausfahrt. Das Kennzeichen des LKWs war also nicht gefälscht. Die polnische Firma „Globeltrans“, auf die das Fahrzeug registriert war, wurde sofort telefonisch kontaktiert. Der Fahrer des Wagens, ein gewisser Waldemar Kryger hatte seinen Wohnsitz in Eichendorf, dort wo auch die vermeidlich getötete Frau ihren Wohnsitz hatte. Als man die Wohnung des Mannes ausfindig machte, wurde nichts Verdächtiges bemerkt. Nur eine Telefonnummer konnte sichergestellt werden. Herr Wolter rief sofort diese Nummer an. Er war erstaunt, als sich eine Frauenstimme mit Maria Kryger meldete. Sie war die Schwester des LKW-Fahrers. Nachdem man sie aufs Präsidium geholt hatte, gab sie zu, alles über ihren Bruder zu wissen. Sie war eingeweiht. Doch sie wollte ihren Bruder nicht persönlich verraten. Allerdings hatte sie des Nachts Schuldgefühle bekommen. Sie konnte nicht mehr schlafen, da sie über alles Bescheid wusste. Also ging sie auf den Friedhof und ritzte das Kennzeichen des LKWs in die alte Eiche. Sie hoffte natürlich, dass niemand diese versteckte Botschaft finden würde, fühlte sich aber durch ihre Tat von aller Mitschuld befreit. Nachdem sie der Polizei letztendlich verriet, wo sich ihr Bruder befand, entschied Kommissar Wolter, sie nicht wegen Behinderung der Ermittlungen oder Mitwissen vor Gericht anzuklagen.
Ihr Bruder wurde in einem kleinen Motel festgenommen. Er legte nach langem Verhör ein umfassendes Geständnis ab.
Vor ein paar Monaten entschied der Stadtrat, den Bau eines großen Schwimmbades zu genehmigen. Zwei Bauplätze kamen dazu in Frage. Der erste Bauplatz war auf dem Grundstück, wo das Mietshaus stand, in dem Herr Kryger seine Wohnung hatte. Auf dem anderen Grundstück hatte die Tochter des Stadtrates ihr Haus. Sie lebte allein. Als über die endgültige Bestimmung des Bauplatzes eine Entscheidung getroffen werden musste, entschied sich das Gremium für den Abriss des Mietshauses. 50 Menschen wurden zwangsläufig ihre Behausung los und mussten das ruhige Plätzchen am Rande des Dorfes gegen ein Heim am Lärmschutzwall der Autobahn tauschen. Herr Kryger meldete sich mehrfach telefonisch bei der Tochter des Stadtrates, doch diese blockte immer auf unfreundliche Art und Weise ab. Als sie sich zufällig auf der Autobahn begegneten, war Herr Kryger durch eine Radiomeldung, die sich mit dem Thema befasste, in Rage geraten. Er handelte im Affekt und nahm den Tod seiner Gegnerin in Kauf.
Als Herr Wolter abends nach Hause kam und den vertrauten Duft seiner Wohnung roch, kam er ins Grübeln. Wie konnte ein Mensch nur so weit gehen, für sein Heim, einen Menschen umzubringen?