Mitglied
- Beitritt
- 15.02.2003
- Beiträge
- 434
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Das Montagsmädchen
Orangen im Herbst
„Ich heiße Anna“, sagte das Montagsmädchen. „Aha“, sagte ich. Anna.
Eine Stunde später wusste ich noch, dass der erste Buchstabe ein „A“ gewesen war, eine weitere Stunde später war ich mir da auch nicht mehr so sicher.
Wir lernten uns an einem Montag kennen, irgendwo zwischen den späten Kreuzzügen und dem Beginn der europäischen Handelsschifffahrt. Eigentlich wollte ich mir ein Buch über die Zucht von Zierfischen ausleihen, hatte mich aber offenbar in den Geschichtsbereich verlaufen. Zu drei Seiten umgaben mich Bücherwände und da, wo keine Bücherwand war, da stand Anna. Anna roch nach Orangen, aber vielleicht war das bloß Einbildung.
„Ein toller Name“, sagte ich.
„Na ja“, sagte Anna, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und blickte weg, als sich ihre Wangen röteten.
Als sie mir ihr Gesicht wieder zuwandte, rutschte die Strähne zurück an ihren alten Platz.
Um ihr verlegenes Gesicht nicht betrachten zu müssen, tat ich so, als interessiere ich mich für ihren orangenen Wollpullover, ich ließ den Blick über die lockeren Maschen gleiten, als suche ich nach Fusseln.
„Ein toller Pullover“, sagte ich. Diesmal erwiderte sie nichts.
Ein beschissener Pullover, dachte ich. Mit Rollkragen. Und das zu dieser Jahreszeit, vielleicht war sie krank. Besser ich kam ihr nicht zu nahe.
„Studierst du auch Geschichte?“, fragte sie rasch, als sie meinen kritischen Blick bemerkte.
„Nur hobbymäßig“, warf ich ein und nutzte die darauf folgende Pause, um einen flüchtigen Seitenblick auf die Buchrücken links von mir zu werfen.
„Ganz besonders interessiere ich mich für...die Rolle der Kirche bei der...Erschließung des östlichen Mittelmeerraumes.“
„Aha“, sagte Anna.
Ausgleichstreffer, dachte ich.
Nun war ich ein sehr impulsiver Typ. Ich riss also blindlings einen der Wälzer aus dem Regal und machte Anstalten, mich unauffällig an meiner neuen Bekanntschaft vorbeizudrücken. Dabei stieg mir wieder der Orangenduft in die Nase, jetzt noch stärker als vorhin. Diesmal war ich mir sicher, dass es keine Einbildung war.
„Du bist auch Linkshänder?“, tönte es hinter mir.
Ich fuhr erschrocken herum. Und sah, dass Anna mindestens ebenso erschrocken auf ihre Füße blickte, als hätten sie die Frage gestellt. „Linkshänder?“, gluckste ich, als hätte ich mich an diesem unbequemen Wort verschluckt. Ein tolles Wort, wollte ich schon sagen und dabei einen neuen Versuch unternehmen, mich zu verdrücken, als mich etwas an Annas Haltung innehalten ließ. Sie hatte ihr Kinn tief in den Rollkragen des orangenen Pullovers versenkt und atmete durch den Mund. Ich beobachtete stumm, wie sich der obere Rand ihres Kragens im Rhythmus ihrer Atemzüge blähte und zusammenzog, wie etwas Lebendiges.
„Ich dachte nur“, nuschelte sie, „weil du mit der linken Hand nach dem Buch gegriffen hast.“
„Hm“, machte ich.
Von da an trafen wir uns jeden Montag. Anna war das Montagsmädchen.
Ich erzählte ihr nichts von den Zierfischen. Auch nicht, dass ich einmal eine Menge Geld verdienen würde. Mit den Fischen. Zierfische standen hoch im Kurs und ich war einer der wenigen, die es wussten. Es kam auf die Färbung an, auf das Muster und die Farbmischung, für einen echten Liebhaber war ein einfarbiger Fisch völlig wertlos, da mochte die Farbe noch so ausgefallen sein.
„Ist dir nicht warm in dem Pullover?“
Hastig krempelte sie die Ärmel bis zu den Ellenbogen hoch. Sicher hätte sie das gerne wieder rückgängig gemacht, aber dafür war es nun zu spät.
Ich starrte auf die blutigen Kratzer an ihren Händen, auf die dunklen Druckstellen, die ihre Unterarme wie eine eigenartige Kriegsbemalung überzogen. Sie sagte, sie habe Katzen. "Aha", sagte ich. Katzen. „Ich mag keine Katzen.“
„Sie sind so weich“, flüsterte sie, als wäre das mindestens so geheim wie der Tipp mit den Zierfischen.
„Weich“, sagte ich ebenso leise, „Ja“. Und dann wandte ich rasch den Blick von ihrem orangenen Pullover ab, unter dem sich jetzt deutlich die scharfen Kanten ihrer Rippen abzeichneten.
Sie verstummte. Und auch ich verstummte. Als wäre mir das peinlich, diese Entdeckung, dass sie unter dem Pulloverstoff nicht so weich war wie ihre angeblichen Katzen.
Ich blickte wieder auf ihre heillos zerkratzten Hände, hätte sie in gerne einmal mit den Fingerspitzen angetippt, einfach so, um zu sehen, ob sie dann die Hand zurückziehen würde, wollte sie schon fragen, ob sie überhaupt Handschuhe tragen könne, da platzte sie heraus, als hätte sie die ganze Zeit nur den richtigen Moment abgewartet: „Australien! Ich will nach Australien!“
Ich zuckte zusammen. Ihr Gesicht glühte wie eine Laterne, als wäre ein Licht dahinter, und ihr jäher Ausbruch schien sogar ihr selbst nicht ganz geheuer.
„Ich habe kein Geld“, sagte ich leise. Dafür erntete ich einen verständnislosen Blick, was wiederum mir nicht ganz geheuer war.
„Ich habe kein Geld“, wiederholte ich etwas nachdrücklicher, „Ich kann jetzt nicht nach Australien. Und was will ich überhaupt in Australien, Australien, das ist doch viel zu weit weg, ich kann unmöglich nach Australien.“
„Ich auch nicht“, seufzte das Montagsmädchen, „Würde aber trotzdem gerne hin, ist doch schön, so weit weg.“
Ich überlegte, ob ich ihr von den Zierfischen erzählen solle. Aber dann würde sie bloß denken, ich wolle sie heiraten und mit ihr nach Australien fliegen, weil ich das dann ja könnte mit all dem Geld. Aber ich wollte sie doch gar nicht heiraten, und nach Australien wollte ich auch nicht. Känguruhs und roter Sand.
Erst bei unserem zweiten Treffen fielen mir die vielen blonden Haare an ihrem orangenen Pullover auf. Das Montagsmädchen hatte dunkle Haare. Ich sagte nichts. Vielleicht ein Hund, dachte ich. Vielleicht.
Ich holte sie von der Bibliothek ab. Sie fragte mich, ob ich ihre Bücher tragen wolle. Ich sagte, ich hätte es am Rücken. Was bisweilen auch stimmte.
In der Nacht hatte es geregnet, jetzt am Tag regnete es nur Blätter, verwelkte Blätter, rote und gelbe. Der Wind fegte das Laub über die Straße, und wie kleine Papierkähne trieben die zusammengerollten Blätter auf den Pfützen, sodass man gar nicht mehr sah, ob da eine Pfütze war. Ich musste vorausgehen und wie ein Minensuchhund die Pfützen ausfindig machen, um das Montagsmädchen rechtzeitig warnen zu können und sie klapperte mit ihren Halbsandalen hinterher. „Alles sauber!“, rief ich dann, oder, „Vorsicht hier!“. Sie sagte, sie hasse zwei Dinge. Nasse Füße wären das eine. Ich fragte, was das andere sei, und sie sagte: „Fragen.“ Lachend sagte sie das. Ich hatte sie zuvor noch nie lachen sehen. Mir kam es nicht richtig vor, dass sie lachte, das Lachen passte nicht auf ihr Gesicht, es hatte nicht die richtige Form für ihr Gesicht.
Auf einmal stand sie mitten auf der Straße, das Gesicht verzerrt und Verzweiflung in den Augen. Sie tänzelte auf Zehenspitzen wie eine Primaballerina, aber ihre Zehen waren unter Wasser und ihr Pullover war gebauscht vom Wind. Aus der Ferne bot sie einen traurigen Anblick, dünn wie ein Fahnenmast, um den sich die zerknitterte orangene Flagge gewickelt hat. Der Wind trug ihren Orangenduft zu mir herüber. Ich witterte ihn und wurde misstrauisch, wir hatten Herbst, keine Jahreszeit für Orangen. Und dann war da noch etwas anderes, was mich immer wieder hinzog, zu ihrer Wolke aus Orangenduft.
Also trug ich das Montagsmädchen auf den Armen aus der Pfütze, als wäre die Pfütze ein Meer und ich ein Held.
Sogar ihre Küsse schmeckten nach Orangen.
In der Woche darauf war ich zuerst sehr erleichtert darüber, dass sie Gummistiefel trug. Sie hatten genau dieselbe Farbe wie der Pullover, ein strahlendes Orange. Und die Kappen glänzten in der Herbstsonne. Was vermutlich daran lag, dass sie weiterhin jede Pfütze geschickt umging.
„Schau doch wie sie leuchten!“, rief sie im Spagat über eine schlammige Reifenspur, „Bei dem Wetter muss man höllisch aufpassen, dass sie nicht dreckig werden.“ Die schönen, blitzeblanken Gummistiefel.
Als ich nichts erwiderte, vergrub sie ihre Nase tief im Kragen ihres Wollpullovers und stimmte in mein Schweigen ein. Und ich knirschte mit den Backenzähnen, wie immer, wenn ich will, dass die Stille möglichst schnell aus meinem Kopf verschwindet.
Sie erzählte mir von ihrer Wohnung, von orangenen Wänden, orangenen Vorhängen und orangenen Lampenschirmen. Aber zeigen wollte sie mir das alles nicht. Gefiele mir sowieso nicht. Und meine Wohnung fände sie auch toll. Mit all den Vitrinen. Obwohl ihr nicht ganz einleuchte, weshalb sie alle leer standen. Ich sagte ihr nicht, dass die Vitrinen keine Vitrinen, sondern Aquarien waren und erst recht sagte ich ihr nicht, was ich damit vorhatte. Ging sie ja nichts an. Außerdem war sie einfach noch nicht reif genug für solche Dinge. Sie hatte keinen Sinn für Zierfische und das wirkliche Leben. Und dann redete sie immer von Liebe und Vertrauen, die ganze Zeit, als wäre das wichtig. Und dass sie so ein Gefühl hätte. Mehr wollte ich gar nicht mehr hören, ich hielt mich da lieber raus, aus ihrem kleinen runden Kopf. Sie hatte da ihre eigene, kleine, runde Welt, geformt wie eine Orange, da kannte sie sich aus. Hier draußen war sie hilflos. Und sie glaubte allen Ernstes, dass sich die untergehende Sonne nur für sie orange verfärbte. Und dass auch die Blätterhaufen am Straßenrand orange seien. Dabei waren die in Wirklichkeit doch gelbrot.
Trotzdem starrte ich jedesmal wie gebannt auf ihren Mund, wenn er wieder dieses Wort formte. Orange. Sie brauchte die Lippen gar nicht zu bewegen, das Wort kam wie von selbst. Flutschte durch die Lippen wie ein Fisch. Und sie sprach es aus wie ein Geheimnis, als wäre es unser Wort. Aber es war ihr Wort und ihre Farbe.
Ich hatte keine Farbe, die Wände meiner Wohnung waren weiß, wie der Schnee und wie das Licht.
Das Ende kam überraschend und war ihre Schuld. Sie war das Montagsmädchen, das wusste sie doch, sie wusste doch, dass ich nur am Montag Zeit für sie hatte. Als sie dann am Sonntag mit einem großen Koffer und den orangenen Gummistiefeln an den Füßen bei mir auf dem schmutzigweißen Schuhabstreifer stand, hätte ich ihr am liebsten gar nicht aufgemacht. Sie sagte, sie könne nicht dorthin zurück, wo sie herkomme. Sie wolle zu mir, was spräche denn dagegen, dass wir endlich zusammenzögen, wir liebten uns doch. Meine Blicke wanderten noch einmal über den Koffer, glitten langsam hoch zu dem orangenen Pullover und darüber hinweg, um schließlich an dem kleinen roten Mund hängenzubleiben, der in diesem Moment verzweifelt mit einem kleinen roten Lächeln rang. Ich hielt drei Finger hoch, für die drei Montage, die wir uns kannten.
„Eins, zwei, drei“, sagte ich. „Außerdem ist heute Sonntag, unser Tag ist doch erst morgen. Morgen können wir uns wieder lieben.“
Das angedeutete Lächeln fiel in sich zusammen.
„Und was ist außerdem mit deinen Katzen?“
Sie zuckte die Schultern, immer wieder. Und dann schüttelte sie den Kopf, ganz langsam, als blicke sie nach rechts und links, als beabsichtige sie, eine gefährliche Straße zu überqueren, bei Nacht, in schwarzer Kleidung. Und wie immer, wenn sie den Kopf bewegte, bewegten sich ihre Haare mit, unbeholfen wie ein zu locker sitzender, dunkelblonder Helm. Ich mochte es nicht, wenn sie das machte, das machte mich nervös, ich hätte gerne weggesehen. Und sie lüpfte ihren Pullover ein Stück, nicht weit, gerade so weit, dass ich die blauen Flecken an Hüfte und Rippen sehen konnte.
Also doch keine Katzen.
Hm, machte ich und kratzte mich am Kopf wie jemand, der nachdenkt.
Sie nutzte meine kurze Unaufmerksamkeit, um sich flink an mir vorbei in die Diele zu drängeln. Den Koffer hielt sie noch immer in der Hand, und auch er war orange, natürlich. Es war nicht gut, dass sie nun in der Wohnung war, jetzt, am Sonntag, unser Tag war doch Montag. Sie war das Montagsmädchen. Es war nicht gut.
Sie blickte starr zur Wohnzimmertür.
Ich folgte ihrem Blick, ganz langsam wandte ich den Kopf, als wüsste ich nicht ohnehin, was es da zu sehen gab. Das Sonntagsmädchen lehnte lässig in der Türöffnung am Ende des Flurs, die Arme vor der Brust verschränkt, die Stirn gerunzelt, den Mund trotz des verschmierten Lippenstifts zu einem selbstsicheren Lächeln gekräuselt.
„Na, wer will da was vom Sonntagsmann?“
"Macht nichts", sagte das Montagsmädchen, "Macht nichts." Immer wieder. Macht nichts.
Und dann war sie auch schon weg, nur ein Teil ihrer Wolke aus Orangenduft hing noch in der Luft.
„Niemand“, sagte ich. Mit einem anzüglichen Lächeln auf den Lippen kehrte ich ins Wohnzimmer zurück, wo das Sonntagsmädchen bereits auf mich wartete. Wir machten die Tür zu und die Fenster auf und nach einer Stunde war der Geruch verschwunden, als wäre er nie dagewesen.