Das Monster naht
Der Reporter ging durch die Gänge des zweigeschossigen, länglichen Herbergsgebäudes das ein flaches Dach besaß und früher einmal ein Bürogebäude einer namhaften Firma war. Die Gänge waren allesamt hell erleuchtet und waren an Wänden und Decken mit Raufaser tapeziert und weiß gestrichen. Kleine Schilder an den Türen waren mit auswechselbaren Papierstücken versehen die anzeigten wer gerade aktuell in den Räumlichkeiten untergebracht war. Ein paar billige Gemälde und preiswert erworbene Bilder schmückten die Gänge. Gelegentlich war hier und da auch mal eine Pflanze die das sterile Weiß auflockerte.
Doch das interessierte den dunkelhaarigen, schlanken und zurzeit etwas nervösen Reporter, der zugleich Kameramann und Sprecher war, derzeit nicht. Er ging mit seiner handlichen digitalen Filmkamera durch den Gang im zweiten, obersten Stock und las mit einem Auge die Schilder an den Türen zu seiner Rechten während er langsam weiter durch den Gang ging und alles filmte. Im Gang selbst war niemand zu sehen. Es war still. Nur aus einer Tür kamen Stimmen gedämpft in den Flur. Er las das Schild und wusste dass er richtig war. Er öffnete die Tür vorsichtig, jedoch ohne die Kamera aus zu machen. Stattdessen filmte er weiter den jetzt kam die wichtige Stelle seines Berichtes.
Der Raum war durchschnittlich breit und bot genug Platz für zwei Personen, zwei mittelgroßen Schränken die rechts und links neben der Tür standen, ein Bett stand jeweils an der rechten und der linken Stirnseite des Raumes und ein Schreibtisch war gegenüber der Tür an einem großen Fenster. Mitten im Raum stand ein kleiner länglicher Tisch für vier Personen mit vier Stühlen. Er sah etwas fehlplaziert aus zwischen der Tür und dem Schreibtisch am Fenster. Am Schreibtisch mit dem Rücken zur Tür saß eine dunkelblondhaarige Frau von etwa zwanzig mit rosa Top und rosa Hotpants an einem Computer und zu ihrer rechten saß eine brünette Frau in einem schlichten schwarzen Freizeitanzug aus Baumwolle dessen Gesichtszüge noch ein wenig mädchenhaft wirkten. Vermutlich wurde sie erst vor kurzem 18. Durchs Fenster konnte man einen herrlichen Sonnenuntergang in zahllosen Rottönen sehen, lediglich unterbrochen durch vereinzelte Bäume auf dem Wiesenfeld das etwa 100 Meter vor dem Gebäude in eine Waldlandschaft überging. Absolut idyllisch gelegen dachte der Reporter noch kurz bevor er „Überraschung“ rief.
Die zwei Mädels lachten gerade als der Reporter rein kam und drehten sich noch immer lachend und schmunzelnd verwundert zur Tür. Dann sagte die Blonde „Ey, der Reporter ist ja endlich da…“ und die andere schaute verwundert. Man konnte sehen dass das Lächeln der brünetten langsam zu einem zweifelnden Gesichtsausdruck wurde. Sie meinte „Nee, der kommt ja tatsächlich und filmt uns hier. Ich hatte gehofft es war ein Scherz!“
„Stellt Euch nicht so an wie Jungfrauen! Ich bin ja in fünf Minuten wieder weg!“ meinte der Reporter. Er kannte die Mädels vom sehen und den Bericht den er drehte war eher ein Testbericht damit er dem Umgang mit Kamera und Leuten während Berichterstattungen für seinen Job üben konnte.
„Hey, Du hast ihm doch nicht gesagt dass ich Jungfrau bin?“ fragte die Brünette die Blonde lächelnd. Die Blonde erwiderte ebenfalls lächelnd „Quatsch, aber jetzt hastes ja selbst gesagt!“. Der Reporter schlussfolgerte aus den drei leeren Bierflaschen die auf dem Tisch standen dass die beiden Mädels nicht mehr ganz nüchtern und deswegen übertrieben lustig waren. Also wollte er auch ein paar Witze machen.
„Schön zu sehen, wie sich Jungfrauen immer selbst verraten! Das zeigt doch dass sie meist nicht beabsichtigen unerkannt weiterhin durchs Leben zu gehen…“ Die Blonde fing an schrill zu giggeln und die Brünette wurde leicht rot, hob aber ermahnend den Finger und meinte „Hey, bilde Dir bloß nicht ein dass gerade DU mir in dieser Sache irgendwie helfen könntest!“ Er lachte gekünstelt und erwiderte vielsagend „Es wäre mir eine Ehre wenn ich irgendwie aushelfen könnte falls Du irgendwann den Wunsch verspürst etwas zu ändern…“ Die Blonde lachte lauthals und meinte „Hör´ sich einer doch nur mal diesen Chauvie an. Also frech biste ja nicht, was?“ der Reporter sah die Blonde an und musste auch lachen, wobei er rot wurde.
Er sah wieder die Brünette an und erschrak. Sie schaute auf einmal ziemlich ernst und erschrocken. Er bedauerte zugleich seinen Scherz und wollte sich entschuldigen als die Brünette meinte „Still. Könnt Ihr es hören? Ogott…“ „Was denn, Christine?“ fragte die Blonde, nun wieder ernst. Der Reporter wollte eigentlich seine Kamera ablegen doch aus einem Gefühl heraus ließ er die Kamera einfach weiterlaufen während er Christine filmte.
Der Himmel draußen wurde mit einem Mal düster. Der Himmel verdunkelte sich wie im Zeitraffer. Schon nach einigen Sekunden war kein Sonnenuntergang mehr zu sehen sondern nur noch ein nachtschwarzer Himmel über einem Wald der durch das Licht des Gebäudes nur sehr bedürftig erhellt wurde. Sterne waren so gut wie keine zu sehen. Die Szenerie wirkte unecht, als hätte sich ein künstlicher Schatten über die Landschaft gelegt. Die Stimmung im Zimmer wurde ernst, als die Beobachter aus dem Zimmer sahen und die unheimliche Dunkelheit betrachteten. Man konnte eine Anspannung in der Luft förmlich spüren. Irgendwas war nicht richtig. ALLES war nicht richtig.
„Ich muss die Polizei anrufen!“ schrie Christine fast schon und hätte auf dem Weg nach draußen den Reporter fast umgeworfen. Der drehte sich um und machte sich daran zu folgen als die Blonde rief „Wohin willst Du Christine? Was soll das? Ihr wollt mich doch nicht etwa alleine hier lassen?“. Der Reporter war schon draußen als die letzten Worte der Blonden verhallten. Nur schwach war zu hören wie jemand die Treppen runter rannte.
Auch die Blonde spürte dass die Welt oder was auch immer gerade völlig verkehrt war. Zuerst dachte sie an eine Sonnenfinsternis, doch jetzt merkte sie dass eine Sonnenfinsternis ganz bestimmt nicht so aussah. Außerdem war die nächste Sonnenfinsternis erst in zwei Jahren und zudem gar nicht in diesem Land zu sehen. Sie bekam angst und schloss die Tür eine Minute nachdem die beiden gegangen waren. Dann setzte sie sich auf Ihr Bett, zog die Knie an und verschränkte die Arme davor während sie wartete. Eine Träne löste sich von ihrem Auge und sie meinte zu sehen wie sich die Schatten in ihrem Zimmer bewegten. Sie hoffte dass die beiden schnell zurückkamen.
Christine rannte durch den Seitenausgang am Fuß der Treppe zu einem fünf Meter vor dem Haus stehendes Münztelefon. Es war das einzige für Besucher zugängliche Telefon. Sie wusste dass sie an diesem Abend alleine mit der blonden Doris und dem Nachwuchs-Reporter Sascha in diesem Gebäude sein würde. Die Dame die dieses Gebäude verwaltet war schon seit einer Stunde im wohlverdientem Feierabend und wenn sie hier eintreffen würde wäre es schon zu spät. Christine spürte einfach dass jetzt nur die Polizei und die Feuerwehr helfen konnten. Sie mussten nur schnell genug hier sein bevor es zu spät war. Es musste einfach klappen. Sonst würden sie alle sterben. Irgendwie wusste… spürte sie es.
In der Ferne ging eine dunkle Gestalt durch eine lichtere Stelle des Waldes. Es war eine groteske menschenähnliche Gestalt mit rundem, braunen Kopf in dem große dunkle Augen ruhten. Es hatte ein breites Maul mit jede Menge messerscharfen, dünnen Zähnen. Die Nase war fast nicht vorhanden. Nur zwei längliche Schlitze auf einer leichten Erhöhung mitten im Gesicht waren das Äquivalent einer Nase. Der Kopf war nur sehr leicht behaart und dort wo das Kopfhaar war standen wenige Zentimeter große Noppen oder Spitzen hervor die etwa einen halben bis einen Zentimeter dick waren. Der Körper der Kreatur war eine Mischung aus Lehm, Äste und modriger Erde. Es stank bestialisch und strahlte etwas Lebensverachtendes aus.
In der Tat hasste es das Leben in beinahe jeglicher Form. Doch jetzt gerade war es sehr aufgeregt und rannte aus dem Wald, denn es war Zeit für sein Erscheinen. Deswegen war auch alles verdunkelt. Das Monster genoss die alles verschlingende Dunkelheit. Es fühlte sich wie neu geboren, was es im Grunde auch war. Ein Dämon der entgegen allen Regeln auf Erden wandelte und heute töten würde. Ja, er würde töten und sich seit langer Zeit an einer Jungfrau laben. Er roch sie schon. Irgendwo gerade aus außerhalb des Waldes. Eine Jungfrau im besten Alter mit süßlichem Blut das seine Sinne betörte. Köstlicher als der beste Wein, reiner als das reinste Wasser. Er konnte riechen dass sie erst vor kurzem ihre Menstruation hatte und er roch ihre Angst, ihre unterdrückte Panik. Es erregte ihn und deswegen rannte er schneller. Diese Nacht war seine Nacht. Er freute sich darauf die Gegend in Angst und schrecken zu stürzen und das Land mit Leichen zu überziehen.
Christine wählte den kostenlosen Polizei-Notruf und schrie hysterisch ins Telefon „Hilfe, Sie müssen uns helfen sonst sterben wir. Wir sind in der Herberge. Schnell!“ und dann spürte sie das etwas nahte. Etwas kam auf sie zu und sie wurde panisch. Sie ließ den Telefonhörer fallen aus dem eine Stimme drang die etwas zu fragen schien und rannte zur Haustür. Der Reporter stand im Hausflur vor der offenen Tür und filmte Christina. Christina rannte an ihm vorbei und während sie die ersten Stufen schon rauf gestiegen war schrie sie Sascha ohne anzuhalten an. „Hör auf zu filmen und renn! Es kommt was. Wir müssen weg!“
Sie sah nicht was Sascha machte sondern rannte panisch die Stufen rauf und überlegte wie sie sich von hier retten konnte. Am Kopf der Treppe angelangt wollte sie sich gerade nach rechts wenden und zum Zimmer rennen in dem Doris alleine war, als sie einen schrillen Schrei hörte. Es klang fürchterlich und es hörte sich nur entfernt wie Sascha an. Christinas Blut gefror mitsamt dem Herz das es beförderte. Christina wurde sich mit einem Mal bewusst dass es für eine Flucht zu spät war. Sie wusste auch mit einem Mal was los war. Sie war eine wiedergeborene Hexe die ihre Kraft erst in den nächsten Tagen zurück erlangen würde. Bis dahin war sie freiwild für Feinde und dieser Feind muss sie irgendwie aufgespürt haben. Es kam um sie zu töten und niemand würde es aufhalten können. Niemand konnte schnell genug hier sein da das Monstrum fast schon in Reichweite war. Christina hatte keine Chance.
Sie blieb wie angewurzelt stehen als der Schrei verstummte, hörte ein klatschendes Geräusch und hörte wie jemand… etwas laut schnüffelte und atmete. Nur langsam, Zentimeter um Zentimeter drehte sie den Kopf um die Treppen runter zu blicken. Sie wollte nicht sehen was da unten war, doch zugleich wollte sie es doch. Dann sah sie sich ruckartig vollends um und erschrak.
Christina erwachte schweißgebadet und schreiend in ihrem Bett. Ihr Herz pochte laut und schnell und das Atmen fiel ihr schwer. Sie sah sich um. Sie war zu Hause. Es war nur ein Traum. Erleichtert ließ sie sich zurückfallen. Ihr Kopf landete weich auf dem schweißnassen Kissen. Es war ein Alptraum, aber zum Glück nur ein Traum. Sie fragte sich ob solche Alpträume zum Alltag einer Hexe dazugehörten oder ob es nur ihre unterdrückte Angst vor den neuen Erfahrungen ihres Hexendaseins ist das sich nun zu Wort meldete. Sie wusste erst seit ein paar Tagen, seit ihrem 18. Geburtstag, dass sie ein besonderes Erbe angetreten hatte. Das Erbe einer uralten Hexenlinie. Hexen die mit dem Alter mächtiger wurden und deren Macht auf die jeweils nächste Hexe übertragen wurde, die aber diese Macht erst noch erforschen und verstehen musste.
Christina versuchte erleichtert darüber dass sie nur träumte wieder einzuschlafen. Sie konnte ja gar nicht ahnen dass in einem Flur einer verlassenen Herberge in einem anderen Land eine getrocknete Pfütze aus Lehm, Ästen und modriger Erde lag. Direkt hinter einer zerstörten Glastür.