Das mit der Wahrheit
Die Straße endete an einem Bach, der zwei Seen verband. Eigentlich war es eher ein Graben mit dunkelbraunem Wasser, die Ränder auf beiden Seiten mit Gräsern und Zeug bewachsen. Was weiß ich, interessierte uns nicht. Uns interessierte, was im Wasser war und manchmal auch an der Böschung herumkroch: Ratten. Jede Menge davon. Im Sommer brachten wir viele Stunden damit zu, sie ausfindig zu machen. Meist schwammen sie in der modrigen Brühe und sobald sie uns bemerkten, tauchten sie ab, um an einer ganz anderen Stelle wieder an die Oberfläche zu kommen. Das weckte unser Jagdfieber. Manchmal wühlten sie in den Sträuchern und ließen sich nicht stören. Dann pirschten wir uns heran. Wir waren zu viert und bewaffnet: Mit Pfeil und Bogen.
Die stammten von einem früheren Geburtstag unseres Anführers Helmut, zu dem sein Vater das Zeug besorgt hatte, um die eingeladene Schar von Jungen auf Zielscheiben schießen zu lassen. Seitdem gammelte alles in einem Geräteschuppen vor sich hin, bis Helmut auf die Idee mit den Ratten kam.
„Es sind zu viele“, sagte er.
Wir nickten.
„Ekelhafte Viecher und keiner macht was dagegen!“
„Es werden immer mehr“, bestätigte Jürgen, der Jüngste.
Keiner sagte etwas, niemand nahm Jürgen ernst.
Helmut stand auf und stocherte mit einem Ast in dem Lagerfeuer, um das wir saßen. Dann warf er ihn in die Flammen, ging zu dem angrenzenden Schuppen und kam mit den Bögen und Pfeilen zurück. Er ließ alles ins Gras fallen und hockte sich wieder zu uns.
„Das hier ist die Lösung“, sagte Helmut und schnaubte zufrieden durch die Nase.
Wir starrten auf das, was er geholt hatte.
„Mit den Saugnäpfen an den Pfeilspitzen werden wir nicht viele erlegen“, wandte Peter ein.
Alle Blicke hingen an Helmut, als er in die Asche fasste und sich schwarze Striche auf Stirn und Wangen schmierte. Er nahm einen Pfeil, streifte den Gummipropfen vom Schaft und zog ein Klappmesser aus der Tasche. Schabende Geräusche mischten sich in das Knacken des Feuers, dann hielt er den Pfeil prüfend in die Luft und befühlte die Spitze.
„Wir werden die Gegend befreien und sie ausrotten“, sagte Helmut und erhob sich. Er blickte uns alle der Reihe nach an. Er sah ziemlich martialisch aus mit der Kriegsbemalung im Gesicht. Wir standen auf und schmierten uns ebenfalls Asche ins Gesicht.
„Du nicht!“, sagte Helmut zu Jürgen. „Du bist zu klein!“
Jürgen stampfte mit einem Fuß auf den Boden und kämpfte mit den Tränen. Helmut sah den Jüngeren abschätzend an und strich ihm über den Kopf.
„Du darfst die Bögen tragen!“
Jürgen wog den Kopf hin und her. Er wusste nicht recht, wie er das Angebot finden sollte.
„Ich denke, du wirst das gut machen“, sagte Helmut. „Wir sind `Die Jäger´und brauchen einen Träger, der später auch zum Jäger wird. Willst du Mitglied unserer Gruppe sein?“
Jürgen atmete tief ein und lange aus, dann nickte er.
Eine Weile standen wir um das Feuer herum und genossen die Bedeutung des Augenblicks, bis Helmut dem Jüngsten einen Blick zuwarf. Der verstand und nahm die Bögen. Helmut schritt zufrieden voran. Wir folgten.
An jenem Tag zeigte sich keine Ratte. Nicht eine einzige. Es war, als spürten sie die Gefahr und blieben unsichtbar. Gegen Abend brachen wir ab, Jürgen musste zeitig zuhause sein.
Die nächsten Male lief es besser. Wir bewegten uns langsamer, redeten nicht und versuchten, uns mit gespannten Bögen anzuschleichen. Geschossen wurde erst, wenn Helmut es tat. Jürgen durfte auch. Obwohl wir immer näher an die Tiere herankamen, flogen die Pfeile meterweise daneben und bohrten sich in die Böschung oder landeten im Wasser. Jürgen musste sie wieder einsammeln. Einmal fiel er dabei in den Graben und war völlig durchnässt. Helmut bekam sich kaum ein vor Lachen und wir riefen dem nach Hause Eilenden hämische Bemerkungen hinterher.
An einem Sonntag tanzten Mücken über dem Wasser, ein paar Libellen gesellten sich hinzu, die tiefstehende Sonne blendete. Wir hatten uns bis auf wenige Meter einer in der Böschung wühlenden Ratte genähert. Die Bögen waren gespannt, Helmut wartete. Jürgen stolperte einen Schritt nach vorn, die Ratte richtete sich auf. Helmut schoss, drei weitere Pfeile folgten. Zwei schlugen direkt neben dem Tier in den Boden ein, einer platschte ins Wasser. Der vierte durchbohrte die Ratte und nagelte sie fest. Wir ließen die Bögen sinken und starrten auf das Tier, das den Schaft umklammerte. Dann schrie es. Ich wusste nicht, dass sie schreien können. Es folgte ein hohes Fiepen, während die Ratte versuchte, den Pfeil heraufzuklettern, der sie aufgespießt hatte. Wir ließen die Bögen fallen und rannten los. Jeder für sich, nur weg, nach Hause.
Am nächsten Morgen in der Schule gingen wir uns aus dem Weg, erst nach der letzten Stunde traf ich Helmut und Peter am Ausgang, Jürgen war schon auf dem Heimweg. Schweigend liefen wir nebeneinander her, bis Peter sagte:
„Sie suchen uns.“
Wir blieben stehen.
„Wer?“, fragte Helmut.
„Steht in der Zeitung. Tierquälerei und so. Wer was weiß, soll sich melden.“
„Scheiße!“, sagte ich.
„Ich hab´ die verdammte Ratte nicht getroffen“, sagte Helmut.
„Glaubst du, ich etwa?“, stieß ich hervor.
„Jürgen war`s“, sagte Peter.
Helmut fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, ich sah betreten auf den Boden.
„Wir können ihn doch nicht verraten!
“Natürlich nicht!“, sagte Helmut. „Aber falls sie uns kriegen, muss man die Wahrheit sagen!“
Wir liefen bis zur Kreuzung, wo sich unsere Wege trennten. Helmut hielt meinen Arm fest.
„Es wird gut ausgehen, aber wenn nicht, sagst du die Wahrheit!“
Ich nickte. Peter auch. Dann gingen wir nach Hause.