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Das Missverständnis
„Also, denk an meine Ratschläge, Honey, und setz dich an die Schreibmaschine. Ach ja, und heute Abend um viertel nach acht musst du unbedingt Hessen drei einschalten. Wird dich interessieren. So long, Babe. Hab noch Termine. See you.“
Und schon hatte sie aufgelegt. Verwirrt starrte ich auf den Telefonhörer in meiner Hand. Obwohl sie schon seit Jahren als Agentin für mich arbeitete, war ich doch jedes mal aufs Neue erstaunt über ihre brüske Art, Telefonate zu beenden. Nie gab sie mir die Chance auf ein letztes Wort. Wie immer hatte das Telefonat mit einer positiven Reaktion auf mein neuestes Manuskript begonnen, den Plot fand sie klasse, den Einstieg in die Story gut und die Entwicklung meines Hauptdarstellers sei psychologisch gesehen einfach genial. Ich wusste, dass nach soviel Eingangslob die Kritik auf dem Fuße folgen musste. Und dann fing sie auch schon an. Wieder einmal waren die Nebenfiguren Thema ihrer Kritik.
„Du musst ihnen mehr Leben einhauchen, ihnen mehr Tiefe geben. Den Priester in dem ersten Kapitel wirkt auf mich wie ein Abziehbild, der hat doch gar einen eigenen Charakter.“
„Muss er auch nicht. Er ist doch nur der Indikator der Story. Ein auslösendes Moment, wenn ich ihn zu stark zeichne, bekommt er zu viel Gewicht und der Leser wird enttäuscht sein, wenn diese Figur in dem ganzen Buch nicht mehr auftaucht.“
„Bullshit“, sagte sie – wie sie sicherlich bemerkt haben, liebt meine Agentin Amerikanismen – „wenn ich ein erstes Kapitel lese und eine solch blasse Figur tritt auf, lese ich den Rest nur, weil ich von dir dafür bezahlt werde.“
„Ich habe den Priester doch schon über alle Maßen mit Adjektiven versehen. Erinnere dich, er ist alt, gebeugt, weißhaarig, seine Hände sind gesprenkelt mit Altersflecken und so weiter. Er kommt, hält seine Rede und tritt ab. Was willst du denn noch?“
„Benny, ich hab dir das schon hundert mal gesagt, du musst mehr Verantwortung für deine Figuren übernehmen, du darfst sie nicht einfach im Regen stehen lassen“.
„Überarbeite das ganze noch mal. In der jetzigen Form kann ich das Manuskript niemandem anbieten“, sagte sie schließlich.
„Ich hatte dich so verstanden, dass der Plot gelungen und das Ende nicht vorhersehbar wäre. Also ein Lichtstreifen am sich verdunkelnden Horizont der deutschen Krimiliteratur. Schein wohl ein Missverständnis gewesen zu sein.“
Ich war beleidigt und ließ es sie spüren.
Kritikfähigkeit ist nicht gerade meine Stärke. Sie redete beruhigend auf mich ein, ließ in der Sache aber nicht nach. Sie hielt mir nicht nur den Priester sondern auch noch den Gitarristen der ukrainischen Rockband aus Kapitel 3 und die mazedonische Prostituierte aus Kapitel 15 vor. Schließlich versprach ich ihr, das Manuskript diesbezüglich noch einmal zu überarbeiten. Was hätte ich sonst tun sollen?
Nun saß ich bereits seit Stunden an meinem Schreibtisch und überlegte, welche Vergangenheit der Priester gehabt haben könnte. Zur Hölle, der Typ war mir inzwischen scheißegal. Für mich war der Plot wichtiger, die Handlung sollte straight vorangehen. Da stören Nebenfiguren bisweilen. Mein Magen fing an zu knurren. Ich schaute auf die Uhr. Halb neun. Genug gearbeitet für heute. Ich ging in die Küche. Plötzlich fiel mir ein, was Britta zum Abschied gesagt hatte. Ich sollte mir irgendwas im Fernsehen anschauen. Hessen drei. Ich nahm mir ein Bier aus dem Kühlschrank und schaltete die Glotze ein. Den Anfang hatte ich verpasst, aber damit musste ich leben. Ein kränklich aussehender Mann mit Halbglatze saß auf einer schreiend roten Couch und schaute aus schon feuchten Augen auf die Frau neben sich.
„Ich hatte eine unglückliche Kindheit. Meine Mutter hat mich nie in die Arme genommen“, erzählte er stockend. Der Regisseur zeigte uns in Großaufnahme das Gesicht des nun hemmungslos vor sich Hinweinenden.
„Ich hab’ bei den anderen Frauen doch immer nur meine Mutter gesucht. Ich wollte dich nie betrügen. Lass mich jetzt nicht Stich.“ Er schniefte und wischte sich mit einem Taschentuch den Rotz von der Oberlippe. Kurz sah man das ehrfürchtig schweigende Publikum. Verstohlen wischten sich einige ältere Frauen über die Augen. Dann wechselte die Kameraperspektive und man sah die Frau auf der Couch. Auch sie war am Flennen.
„Jetzt kann ich dich viel besser verstehen“, flüsterte sie kaum hörbar durch den Tränenschleier, „warum hast du mir das nicht schon längst gesagt. Natürlich lasse ich dich nicht im Stich. Komm her.“ Und dann nahm sie ihn in den Arm. Die Kamera schwenkte zu dem inzwischen frenetisch applaudierenden Publikum und dann wieder auf das sich umschlingende Paar auf der Couch. Ein Moderator trat ins Bild und schrie über den Applaus hinweg „Das ist ihre Abstimmung. Sie sind der Meinung, das Carola unsere Miss Verständnis der heutigen Show ist. Carola, das ist ihr Applaus. Ich hoffe, sie sind nach einer kurzen Werbepause wieder dabei, wenn wir dann unsere Miss Vergnügen suchen. Bleiben sie dran.“
Leck mich, dachte ich, und schaltete den Fernseher aus. Das konnte ja nur ein Scherz gewesen sein. Was hatte sie gesagt? „Wird dich interessieren.“ Was sollte mich an einer blödsinnigen Gameshow interessieren? Wütend stand ich auf und griff zum Telefon.
„Du spinnst wohl, ich kann meine Zeit sinnvoller verplempern“, sagte ich, nachdem sie sich gemeldet hatte.
„Was ist denn los?“, fragte sie irritiert.
„Im Fernsehen läuft eine selten dämliche Show, bei der sich der letzte Infantile einem gierig auf Banalitäten wartenden Publikum zum Fraß hinwirft, und du fragst, was los ist. Bei dir tickt’s doch nicht mehr richtig.“
„Fernsehen, wieso Fernsehen?“
„Du hast mir doch empfohlen, heute Abend die Glotze einzuschalten, und da läuft auf Hessen drei diese selten dämliche...“
„Darling, Darling“, unterbrach sie mich, „ich meinte doch HR 3, den Radiosender, da läuft gerade die Übertragung einer Podiumsdiskussion zum Thema „Nebenfiguren in bedeutenden Romanen.“
„Oh, das war ja dann wohl ein klassisches Missverständnis“, war alles, was ich sagen konnte.
„Your welcome“, antwortete sie, und knallte mir den Hörer ins Ohr.