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Das Meer
Genau wusste das Mädchen nicht, was Mutter ihr um den Bauch schnallte, aber es drückte ihren kleinen Körper so fest zusammen, dass sie nur schwer atmen konnte.
Das braune, rechteckige Ding an dem Gurt um sie, war ihre Bestrafung. Beim Spielen war sie hingefallen und der Bordstein hatte ein Loch in ihre Hose gemacht. Außerdem blutete sie am Knie. Dabei hatte Mutter die Hose vor Kurzem erst gewaschen.
Sie verstand nicht, wieso es keine Ohrfeige war oder kein Topf mit aufgebrühtem Wasser, was Mutter ihr über die Hände goss. Da wusste sie an welcher Stelle der Schmerz kam und konnte sich auf eine andere an ihrem Körper konzentrieren, um ihn nicht zu sehr zu spüren. Das hatte sie gelernt.
Genau wie letzte Woche, als sie am Tisch von Anna erzählte, die mit ihren Eltern ans Meer gefahren war und sie später hörte, wie Mutter und Vater sich anschrien. Sie hatte sich im Garten einen dicken Stock suchen müssen, damit Mutter sie damit schlagen konnte. Sie hatte keinen Stock gefunden, sondern nur einen großen Stein, den sie Heim brachte.
Diesmal war es anders. Sie hatte eines dieser kleinen Pakete um den Bauch. Die, mit denen Vater in der Garage experimentierte. Sie wusste nicht was es war und das machte ihr Angst. Vor ein paar Monaten hatte es einmal einen lauten Knall und Flammen in der Garage gegeben, die Vater schnell gelöscht hatte. Am liebsten wäre das Mädchen mit einem der starken, großen Männern mitgegangen, die von den Nachbarn gerufen wurden, doch sie hatte sich nicht getraut.
“Damit lernst du, nie wieder hinzufallen.”, sagte Mutter, nachdem sie den Gurt um das Mädchen festgezurrt hatte und richtete sich auf. Vater kam aus der Garage und setzte sich auf den Gartenstuhl neben der Hütte. “Pass bloß auf damit, Mädchen.” sagte er und nahm einen großen Schluck aus der halb leeren Flasche, die auf dem weißen Plastiktisch neben ihm stand. Sie waren einmal zu dritt zu einem großen Geschäft gefahren und hatten die zwei Stühle plus den Tisch gekauft. Es war ein Tag mit viel Sonne gewesen und Mutter hatte das Mädchen sogar gefragt, ob ihr der Tisch auch gefallen würde und sie hatte mit großen Augen genickt.
Auch wenn sie noch nicht so groß war wie Mutter, das Mädchen verstand mehr, als ihre Eltern glaubten. Auf einmal wusste sie genau was das Ding an ihr war. Sie wusste genau, dass sie weder fallen noch schwitzen noch zu hektische Bewegungen machen dürfte, sonst würde etwas schlimmes passieren.
“Na dann geh mal Spielen.”, sagte Mutter und setzte sich auf den zweiten Stuhl neben Vater. Das Mädchen wusste nicht so recht was sie darauf antworten sollte. Wo sollte sie schon hin mit diesem Ding an ihrem Körper?
Sie stand einfach da, auf dem Lehmboden und hatte das Gefühl von einer unsichtbaren Hand zum Schwenken gebracht zu werden. Sie würde fallen. Wenn sie sich nicht sofort zusammenreißen würde, würde sie fallen.
Und dann änderte sich etwas in ihr. Sie hatte Angst, ja, aber da war noch etwas viel Stärkeres. Sie war wütend. Wütend darauf, wie Vater seine müden Augen nur auf die braune Flüssigkeit in der Flasche richtete, die Schluck um Schluck weniger wurde. Wütend darauf wie Mutter sie anschaute. Mit diesem Blick, der ihr sagte: “Du bist schuld.”.
Das hatte Mutter schon öfter zu ihr gesagt. Sie wusste nicht genau was “Schuld” bedeutete. Aber es fühlt sich an, wie als müsste das Mädchen den schwersten Rucksack der Welt tragen, gefüllt mit den dicksten Steinen, die es gibt. Und umso öfter Mutter diesen Satz gesagt hatte, umso mehr Steine kamen dazu.
Und sie war wütend darauf, dass sie nicht das Meer sehen durfte.
Anna hatte ihr ein Bild gezeigt vom Sandstrand und dem blau-grünen Wasser, was so aussah, als würde es nicht mehr aufhören. Als das Mädchen das Bild gesehen hatte, hatte sie etwas gefühlt. Etwas, was sie noch nicht kannte. Es fühlte sich warm an und schön. Und für einen Moment hatte sie die Augen geschlossen und hatte sich in das Gefühl fallen gelassen. Anna musste ihr versprechen, dass sie niemandem sagen würde, dass das Mädchen danach geweinte hatte.
Das Mädchen schaute ihre Eltern an, wie sie dort saßen. Ganz still. Und sie anstarrten. Und in dem Augenblick verstand sie, dass sie nie das Meer sehen würde. Nur diesen kahlen Boden und den weißen Plastiktisch plus die Stühle, auf denen sie nie würde sitzen dürfen. Und sie verstand, dass sich das Nichtstun des Vaters und der schwere Blick der Mutter nie ändern würden. Und sie würde immer das Mädchen bleiben, die den Rucksack voller Steine tragen muss. Und er würde immer schwerer werden. So schwer, dass sie irgendwann nicht mehr würde weitergehen können.
Das Paket wog schwerer an ihrem Körper.
Sie dachte ans Meer. Und an Anna. Dann rannte sie auf den Vater zu.