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Das Meer
Der Wind spielte mit ihrem langen, blonden lockigen Haar und ließ es sanft zu einem unhörbaren Rhythmus schweben. Dabei streifte er die stummen, langsam ihre Wangen hinunterrinnenden Tränen hinfort und führte sie dem Meer, diesem majestätischen riesigen Blau, vor dem sie gerade stand, zu. Ihr gelbes, mit Blumen durchwirktes Leinenkleid wehte sanft und beruhigend um sie, als wollte es seine Trägerin trösten. Sie jedoch betrachtete starr und schweigend den Horizont, dessen helles Blau nur hie und da von schneeweißen Zirruswolken durchbrochen wurde. Die Sonne schien am Firmament und wärmte ihre Haut, doch sie spürte es nicht.
Um die junge Frau sprangen Kinder aller Altersklassen umher und tobten spielerisch den Sandstrand entlang, begleitet von den wachsamen Augen der dazugehörigen Eltern. Gelächter drang von allen Seiten an sie heran, doch nichts davon berührte sie. Keiner der fröhlich lachenden Anwesenden bemerkte sie, selbst die Kinder, die so dicht an ihr vorbeirannten, dass sie sie eigentlich umrennen mussten. Keiner hörte ihr leises Schluchzen, keiner wurde ihrer Tränen gewahr. Niemand schenkte ihr die geringste Aufmerksamkeit, doch auch sie würdigte die Anwesenheit der anderen keines Blickes. Sie starrte einfach weiter auf das Meer hinaus.
Direkt vor ihr fing plötzlich ein kleines Mädchen, dessen Eis in den Sand gefallen war, lauthals an zu weinen. Die Frau beobachtete sie interessiert, blieb jedoch regungslos. Die Mutter des Mädchens rannte sofort zu ihrem Kind, tröstete es und versprach ihr ein neues Eis, was seine Wirkung nicht verfehlte. Ein sanftes Lächeln huschte über die Lippen der weinenden Frau, doch ihre Tränen versiegten nicht. Kein Eis der Welt könnte ihre Trauer mildern, keine nett gemeinten Worte die Last von ihren Schultern nehmen.
Ihr Blick wanderte wieder über das Meer, welches die Sonnenstrahlen glitzernd widerspiegelte und allem etwas Märchenhaftes verlieh, doch selbst die Schönheit dieses Anblicks ließ die Frau kalt.
„Es ist Zeit“, rief ein plötzlich auftauchender kleiner Junge von etwa zehn Jahren zu ihr. Grüne Augen sahen sie sanft und verzeihend an. Überrascht starrte die Frau das Kind an. „Es ist nicht deine Schuld“, fuhr er fort, nahm ihre Hand fest zwischen seine kleinen Hände und drückte sie in dem Versuch sie aufzumuntern. „Keiner hätte in diesem Sturm etwas unternehmen können, um uns zu retten.“
„Aber es war meine Idee!“, erwiderte die Frau müde und traurig. Ihr Körper war starr und verkrampft. Der Selbsthass hatte sie eisern im Griff. Der kleine Junge musterte sie mit intelligentem Blick, wog seine Worte sorgsam ab, bevor er erneut begann: „Vielleicht war es deine Idee, dieses Schiff zu wählen, aber du wolltest mir doch nur eine Freude machen, schließlich habe ich ständig davon gesprochen, das Meer einmal nicht nur vom Strand aus zu erleben.“
„Stimmt. Aber es gab so viele Möglichkeiten, so viele andere Gelegenheiten auf einem Schiff mitzufahren, warum erwische ich ausgerechnet dieses?!“, Der kleine Junge drückte erneut die eiskalte Hand seiner von Reue geplagten Mutter.
„Vielleicht war das unser Schicksal, wer weiß das schon?“
„Aber warum du, mein Kind?! Du bist doch noch so jung...!“ Wut und Verzweiflung ließen die junge Mutter nicht mehr los. Der Junge, traurig darüber, dass sich seine Mutter so quälte, ließ ihre Hand los und näherte sich dem Meer, bis seine nackten Füße darin verschwanden. Dann drehte er sich zu ihr um.
„Wenn es dir hilft“, fing er an und zeigte ihr sein wunderschönes Lächeln, „ich verzeihe dir. Ich werde auf dich warten, egal, wie lange es dauert, schließlich bist du mir auch gefolgt.“ Daraufhin ging er tiefer und tiefer ins Wasser hinein, bis er völlig verschwunden war. Seine Mutter beobachtete ihn, während ihre Tränen nach und nach versiegten. Dann folgte sie ihrem Kind ins Meer.
Am Strand jedoch, bei den sich amüsierenden Menschen verschiedener Generationen, deutete nichts darauf hin, dass sie jemals dagewesen waren.
Ein Mann mittleren Alters und ein junges Mädchen im Teenageralter kamen Hand in Hand zum Strand, einen kleinen, mit roten Band gebundenen Blumenstrauß bei sich. Schweigend starrten beide auf das blaue sonnendurchwirkte Meer. Die irritierten Blicke der anderen bemerkten sie nicht, interessierten sie aber auch nicht. Nach einer geraumen Weile ließ das Mädchen die Hand ihres Vaters los, ging mit dem Strauß in den Händen bis zu den Knien ins Wasser und legte den Strauß obenauf. Eine geraume Zeit lang hielt sie ihn noch fest und beobachtete, wie er versuchte den Wellenbewegungen des Meeres zu folgen, um den Strand zu verlassen.
„Bitte finde sie“, flüsterte sie leise, bevor sie ihn losließ. Ihr Vater gesellte sich zu ihr und beide verfolgten schweigend, mit Tränen in den Augen, wie der Strauß dem Horizont entgegenschwamm. Das rote Band löste sich, sodass der Aufdruck zu lesen war: >An eine liebende Mutter und einen geliebten Sohn und Bruder, Opfer des Schiffunglücks vor 10 Jahren. Wir werden euch immer im Herzen tragen<. Während Vater und Tochter unter den verdutzten Blicken der anderen Strandgäste sich auf den Nachhauseweg machten, sank der Blumenstrauß mitsamt dem Band gen Meeresboden und wurde nie mehr gesehen.