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Das Märchen vom braven deutschen Mann
Es war einmal ein Junglehrer, der so glücklich war, im Jahre 1930 eine Stelle zu bekommen. In einem kleinen Ort im Harz sollte er an der einklassigen Volksschule die Kinder unterrichten.
Mit Beginn des neuen Schuljahres zog er in die Lehrerwohnung im Schulhaus ein. Ordentlich verstaute er seine wenigen Sachen in einem Schrank. Seine Bücher stellte er alphabetisch aneinandergereiht in ein Regal. Die Bibel legte er auf die Anrichte, aufgeschlagen Matthäus 1, 18-25: die Weihnachtsgeschichte. Ein Kreuz aus Oberammergau nagelte er über sein Bett an die Wand. Einen Stahlstich mit Adam und Eva von Dürer hängte er an die gegenüberliegende Wand. Vor dem Einschlafen fixierte er die nackte Eva. Unter dem Bild prangte in roten Lettern: "Adam erkannte Eva, seine Frau, sie wurde schwanger."
Am nächsten Morgen warteten die Schüler gespannt auf sein Erscheinen.
Der letzte Lehrer hatte sie oft geschlagen. Sie fürchteten und hassten ihn.
Wie würde der Neue sein?
Freundlich lächelnd betrat der Junglehrer den Raum, sagte „Frisch auf! Ich bin der neue Lehrer! Ich heiße Friedrich Wilhelm Allemann“ und sang mit den Jungen und Mädchen ein Wanderlied.
In den nächsten Wochen gewann er die Herzen der Schüler.
Im Unterricht musizierten sie viel, machten jeden Tag ein Spiel, zeichneten und lachten. Sie lernten bei ihm beinahe ohne Anstrengung und freuten sich jeden Tag auf den Unterricht.
In der Dorfgemeinschaft eroberte er die Herzen aller.
Der Junglehrer begleitete mit großer Inbrunst die Sonntagsmesse auf der Orgel. Der Gesangsverein gewann unter seiner Leitung beim Chorwettbewerb „Harzer Roller“ den zweiten Preis. Die Feuerwehr löschte unter seiner Kommandantur die Brände schneller. Die Heimatzeitung veröffentlichte jeden Samstag ein Gedicht von ihm.
Im Jahre 1933 heiratete er eine Magd von einem Bauernhof aus dem Nachbardorf.
Sie hieß Elisabeth.
In der Hochzeitsnacht erkannte er seine Frau nicht. Auch in der nächsten Nacht erkannte er sie nicht.
Nach vier Wochen endlich geschah es.
Nach dem Liebesakt nahm er seinen Ledergürtel und schlug ihn einmal mit großer Härte über den Rücken seiner Frau.
Sie sprach vor Schrecken und Angst zwei Wochen zu Hause kein Wort mit ihm.
Er half ihr im Haushalt, pflückte Blumensträuße für sie und brachte ihr Pralinen aus dem Dorfladen mit. Vor den Leuten umarmte und herzte er sie.
Wut und Hass und Angst tobten in der Lehrersgattin. Nach dem zweiten Liebesakt schlug er sie mit seinem Ledergürtel, nach dem dritten, nach dem vierten …: kühl und beherrscht, als wäre es ein bürokratischer Vorgang oder eine Hinrichtung.
Sie litt unter den Schlägen seelisch mehr als körperlich. Sie wollte sich nicht schlagen lassen.
Als sie fragte, warum er das mache, antwortete er: „Ich weiß es nicht!“
Sonst war ihr Mann vorbildlich: fürsorglich, hilfsbereit, charmant, unterhaltsam, ernsthaft, gläubig.
Er war den Schülern ein guter Lehrer und dem Dorf ein kultureller Mittelpunkt.
Immer, wenn er sie geschlagen hatte, redete sie eine Woche zu Hause kein Wort mit ihm.
Eines Tages beendete sie vorzeitig eine Schweigephase mit: „Ich bekomme ein Kind!“
Der Schulmeister überhäufte seine Frau mit Wohltaten.
Dann kam der kleine Adolf zur Welt.
Ein Jahr später kam die kleine Eva zur Welt.
Ein Jahr später kam die kleine Marlene zur Welt.
Zwei Jahre später kam der kleine Josef zur Welt.
Der Vater erzog seine Kinder hart zur deutschen Ordnung, umgarnte sie aber auch liebevoll wie Pestalozzi.
Alle Menschen weit und breit priesen ihn als idealen Vater und Ehegatten.
Auch seine Frau verehrte ihn immer mehr.
Wenn er sie nur nach einem Geschlechtsverkehr nicht schlagen würde! Das nahm die Gattin nach Abwägung aller Vor- und Nachteile ihrer Ehe mit ihm seufzend in Kauf.
Der Zweite Weltkrieg begann.
Der Gefreite Friedrich Wilhelm Allemann verhielt sich auch als Soldat vorbildlich: gehorsam, kameradschaftlich, hilfsbereit.
Er kämpfte mit zusammengepressten Lippen und tränenumflorten Augen gegen den Ansturm der Feinde.
Heftig verteidigte er in einem ungarischen Dorf seine Heimat. Nach einer mehrstündigen Schießerei herrschte plötzlich Stille.
Niemand bewegte sich.
Plötzlich zirpte eine Geige eine Melodie.
Sie tönte aus einem Stall.
Der Lehrer rannte zu dem Gebäude.
Er stieß die Tür auf.
Mitten im leeren Raum stand ein Geiger mit einer Blindenbrille und fiedelte das „Ave Maria“ von Gounod.
Der Lehrer riss sein Messer aus dem Stiefelschaft und stieß es dem Blinden in den Magen. Einmal, zweimal dreimal …
Ein zwölfjähriges Mädchen hatte sich in eine Ecke verkrochen und verfolgte mit großen Augen das Abschlachten.
Es war die Tochter des Geigers.
Der Lehrer vergewaltigte das Kind. Nach dem Geschlechtsverkehr nahm er seinen Ledergürtel und schlug ihn einmal mit großer Härte über den Rücken des Kindes.
Dann rannte er aus dem Stall.
Der Krieg ging zu Ende.
Der Lehrer Friedrich Wilhelm Allemann kam nach Hause.
Alle begrüßten ihn freudig.
Er begann mit dem Unterricht, mit dem Orgelspiel in der Kirche, mit dem Feuer löschen, mit den Proben des Gesangsvereins. In der Kreiszeitung erschienen seine Gedichte über Kameradschaft im Feld, das Schicksal Deutschlands und die Liebe zur Heimat.
Er fasste wieder Tritt.
Das Leben ging weiter und wurde schöner und angenehmer.
Der Dorflehrer unterstützte seine vier Kinder hilfreich in allen Phasen ihres Lebens.
Die Dorfleute wählten ihn zum Bürgermeister.
Der Schulrat belobigte ihn mehrmals.
Der Landesvater lud ihn mehrmals zum Neujahrsempfang ein.
Er ließ sich ein gemütliches Heim im Waldhausstil bauen.
Seine Frau richtete ihm ein Nest deutscher Behaglichkeit ein.
Sie waren glücklich.
Besonders seine Frau.
Nie mehr hatte er sie mit dem Ledergürtel geschlagen.