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Das Männchen im Wald
Ein kleines Männchen stand auf einem Baum. Genauer gesagt auf einem dicken Ast, der waagerecht unterhalb der Baumkrone aus dem meterdicken Stamm herauswuchs. Kaum einen Meter zwanzig groß, konnte das Männchen auf dem Ast stehen, ohne mit dem Kopf an darüberhängende Zweige zu stoßen.
Als der Reiter vorbeikam und das Männchen sah, wunderte er sich. Zwar war es eine seltsame Gegend, in der er sich befand, ein Wald um den sich viele, auch üble Legenden rankten. Aber die sich ihm bietende Szenerie machte auch hier weder Sinn noch war sie alltäglich. Er hielt sein Ross an und wandte sich an den Zwerg.
"Was machst du da oben?"
Keine Antwort. Unbeweglich und ohne mit einem Muskel zu zucken stand das Männchen da. Sein Blick war starr geradeaus gerichtet, doch als der Reiter der Blickrichtung folgte, fand er in dieser Richtung nichts Außergewöhnliches, nur viele andere Bäume. Das einzige Ungewöhnliche war immer noch das Männchen.
"He, du! Was machst du auf dem Baum?"
Nichts rührte sich. Das Männchen trug eine grüne Weste und eine Hose in derselben Farbe. Zwerge aus den Bergen, denen er auf Reisen schön öfter begegnet war, sahen ganz anders aus. Das Männchen hatte weder einen Bart noch eine dieser lustigen roten Zipfelmützen auf. Für einen Augenblick hätte der Reiter gedacht, es handelte sich um irgend eine Statue, doch dann registrierte er ein kaum wahrnehmbares Atemgeräusch vom Baum herab und bemerkte das flache Beben des Bauches des Männchens beim Atmen. Vielleicht war es irgendwie verhext oder so. Hier im Dusterwald sollte ja dergleichen vorkommen. Einer Eingebung folgend riss der Reiter von einem Baum einen Tannenzapfen ab, überlegte einen Moment und warf ihn dann nach dem Männchen. Dieser Wicht könnte ihm wohl kaum gefährlich werden. Mal sehen wie er reagierte.
Flach prallte der Zapfen an der grünen Weste ab. Ärgerlich schaute das Männchen zu dem Reiter herunter.
"Was störst du mich?"
Der Reiter lachte.
"Sag, was machst du da droben auf dem Baum?"
"Ich wache über einen großen Schatz."
Der Reiter wurde hellhörig.
"Einen Schatz? Und du bewachst ihn, indem du vor dich hinstarrst? Wo ist er denn?"
"Natürlich dort, wo ich hingeschaut habe. Ich bewache ihn ja."
Der Reiter schaute nochmals angestrengt in die angegebene Richtung, konnte aber nichts Außergewöhnliches entdecken. Nur Bäume, Bäume und nichts weiter als Bäume. Die im Dusterwald zählten zu den mächtigsten und ältesten auf dem ganzen Kontinent.
"Und jemand lässt ihn dich bewachen? So wertvoll kann er wohl nicht sein?"
"Oh, er ist sehr wertvoll und nicht nur ich wache über ihn!"
"Wer wacht denn noch über ihn, kleiner Mann?"
"Der Wald!"
Der Reiter musste wieder lachen. Ein Wald und ein komischer Gnom bewachten einen Schatz. Er hatte schon viel Sagenhaftes vom Dusterwald gehört, aber das ging doch zu weit.
"Halte mich nicht zum Narren!", meinte der Reiter ärgerlich und wandte sein Pferd, um der alten verwitterten Straße durch den Wald weiter zu folgen. Doch etwas hielt ihn zurück.
"Wo ist er denn genau, dein Schatz?" Prüfend fühlte er das Schwert, das an seinem Gürtel baumelte.
"Du wirst ihn ohnehin nicht finden!"
"Na, ich brauch doch bloß in die Richtung zu reiten, in die du gestarrt hast."
Nach einem kurzen Moment des Zögerns lenkte der Reiter sein Pferd in die Richtung, in die der Zwerg geschaut hatte und verließ in leichtem Trab die alte Straße. Ein kaum erahnbarer Trampelpfad führte hier in den Wald hinein. Er würde als alter Haudegen keine Mühe haben, den Weg zurück zu finden und nach einem nur von einem Gnom und ein paar alten Bäumen bewachten Schatz zu schauen, lohnt einen kleinen Umweg. Des Wichtes konnte er sich im Notfall mit einem schnellen Pfeil oder Schwerthieb ohne Probleme entledigen.
Lange ritt er, der Zwerg auf dem Baum geriet bereits außer Sicht. Lautlos war es in diesem Teil des Waldes und stumm strich auf seinem Weg Baum um Baum an ihm vorbei.
Dann sah er etwas auf dem Boden liegen, direkt geradeaus vor ihm. Als er näher kam, erkannte er, was es war und erstarrte. Es war ein Pferd mit einem Reiter oder vielmehr war es einmal eines gewesen, denn nur noch bleiche Knochen, zerfetzte Kleidung und verrostete Waffen lagen am Boden herum. An was der Reiter und sein Pferd gestorben waren, war nicht zu erkennen, doch sehr lange schon mußte er tot sein. Viele Monate, vielleicht Jahre. Trotzdem hieß es für ihn, auf der Hut zu sein. Ganz so lächerlich wie zu Beginn kam ihm die Warnung des kleinen Mannes nun nicht mehr vor. Vorsichtig zog er sein Schwert aus der Scheide.
Kein Gegner konnte es mit dieser Waffe aufnehmen. Er würde zurück zum kleinen Mann reiten und diesen zwingen, ihm den Schatz des Waldes zu zeigen. Er wandte sein Pferd in die Richtung, aus der er gekommen war und ritt im Gallop dem kleinen Mann entgegen.
Lange war er wieder unterwegs. Dichter und dichter schien der Wald zu werden, doch bald musste er an die alte Straße kommen, auf der er an dem Männchen vorbeigeritten war. Sein Orientierungssinn versagte nie. Da. Er sah etwas direkt voraus. Auf dem Boden. Geschickt zügelte er sein Pferd und erkannte, was es war: Die Leiche des Mannes und des Pferdes, von der er über eine Stunde zuvor aufgebrochen war. Er musste im Kreis geritten sein.
Also trieb er sein Pferd wieder an und ritt weiter. Dichter und dichter schienen die Zweige des Waldes an ihn und sein Pferd heran zu reichen. Währenddessen, nicht weit und doch für den Reiter unerreichbar fern lachte ein Männchen, das auf einem Baum stand. Nicht oft konnte es dem Wald, seinem Wald in dieser abgelegenen Gegend, ein so außergewöhnliches Opfer darbringen. Doch seit es gelernt hatte, die Gier der Menschen für seine Zwecke einzusetzen, waren die Opfer zahlreicher geworden. In Lauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte, die für es wie Wochen und Monate vergingen, war es dieses Mal nicht einmal dazu gekommen, die Spuren des letzten Opfers für den Wald zu beseitigen, bevor schon wieder ein neues eintraf. Schallend klang das Lachen durch den düsteren Wald.
(1994/2002)