Das Mädchen
Das erste Mal sah ich sie, als ich an einer Hausarbeit für die Uni saß. Es war ein milder Nachmittag im Mai, ich hatte das Fenster, an dem mein Schreibtisch stand, geöffnet.
Anstatt mich auf meine Hausarbeit zu konzentrieren, schweifte mein Blick immer wieder aus dem Fenster, auf den Gehsteig. Dort lief sie vorbei, langsam, das rechte Bein nachziehend. Ihr Blick war verträumt, sie hörte Musik. Durch den Wind wurden ihre Haare durcheinandergewirbelt, was ihre Schönheit zu unterstreichen schien. Ich sah ihr nach und fragte mich, von was sie träumte und welche Musik sie gehört hatte. Dann fiel mir meine Hausarbeit wieder ein und ich wand mich meinem Laptop zu.
Am nächsten Tag setzte ich mich um die gleiche Zeit wieder an meinen Schreibtisch, in der Hoffnung sie wieder zu sehen. Etwas faszinierte mich an ihr. Ich konnte mich auf nichts anderes mehr zu konzentrieren, starrte unentwegt aus dem Fenster. Als es anfing zu regnen, verlor ich fast die Hoffung, doch dann sah ich sie, den Gehsteig entlang gehen. Sie hatte ihre Kapuze ins Gesicht gezogen, dennoch sah ich ihren traurigen, ja schmerzerfüllten Gesichtsausdruck. Ihre Schritte waren schwerfälliger als am Vortag. Dennoch fand ich sie umso hübscher. Plötzlich stolperte sie, ich schreckte auf, aber es passierte ihr nichts, sie ging weiter, als wäre nichts geschehen.
Ich beobachtete das Mädchen täglich. Sie war höchstens 17. Scheinbar war es ihr Nachhauseweg von der Schule. Manchmal kam sie nicht, aber meistens sah ich sie. Oft hatte sie ein leises Lächeln auf den Lippen, und ich sah ihr an, dass sie innerlich ihre Lieder sang. Es passierte öfter, dass sie aus heiterem Himmel stolperte, doch es schien ihr egal zu sein. Nur einmal hatte sie geflucht, es klang ehrlich wütend. Ich sprach sie nie an und war mir nicht sicher, ob sie mich bemerkte. Dieses Geheimnisvolle hatte etwas prickelndes, ich mochte es, mich auf die Lauer zu legen und auf sie zu warten.
An einem Mittag Anfang Juni war ihr Gesichtsausdruck angsterfüllt und panisch. Sie ging noch langsamer als sonst, schwankte, musste sich an der Hauswand abstützen. Immer wieder fuhr sie sich nervös durch die Haare. Ich war besorgt, doch ich tat nichts.
Ich sah das Mädchen nie wieder. Zwei Monate später musste ich umziehen. Noch heute denke ich manchmal an sie und frage mich, was sie träumte und wie es ihr geht.