Das Mädchen vom Bahnhof
Ich wartete vor dem Hauptbahnhof an der Bushaltestelle auf meinen Bus. Der letzte war vor knapp 5 Minuten hier, ich hatte mich beeilt, war aber trotzdem zu spät gekommen. Jetzt mußte ich eine ganze Weile hier hocken, bis ich nach Hause fahren konnte.
Ich blickte zum Bahnhofsgebäude rüber, es war viel los zu dieser Uhrzeit. Eine Reisegruppe von lauter Japanern kam gerade heraus. Sie machten viele Fotos. Sonst überall andere Reisende, die eilig rein und raus gingen, bedacht ihren Zug noch zu bekommen oder so schnell wie möglich das Hotel zu erreichen.
Mir fiel ein Mädchen auf. Sie stand direkt vor dem Gebäude und blickte sich um. Sie hatte anscheinend noch Zeit bis ihr Zug kam. Vielleicht wartete sie auch auf irgend jemanden. Sie erinnerte mich an dich. Ihre Haltung. Wie sie ihre Haare trug. Sie hatte einen Rucksack auf den Rücken, viel zu groß für ihre kleine Gestalt. Du hast in etwa ihre Größe, vielleicht bist du sogar noch ein paar Zentimeter kleiner.
Das Mädchen sah dir wirklich sehr ähnlich. Nur ihr Blick, er paßte nicht. Sie guckte traurig, hoffnungslos. Und Überall um sie herum Menschen, die eilig hin und her liefen. Ich mag diese Hektik nicht, bin froh zu sitzen. Du hast ständig gelacht, immer ein Lächeln im Gesicht. Habe selten so eine fröhliche Person wie dich kennengelernt.
Ich mußte an all die lustigen Sachen denken, die wir schon zusammen erlebt haben. Es war eine tolle Zeit.
Ich schaute wieder zu dem Mädchen hinüber. Sie stand immer noch an der selben Stelle wie vorhin, guckte immer noch traurig ins Leere. Sie kam mir vor, als ob sie nicht genau wußte, ob sie nun in den Bahnhof rein gehen sollte oder nicht. Ob sie weg fahren sollte oder eben nicht.
Wieso kam keiner, um sich zu verabschieden? Würde sie alleine, mit dem riesen Rucksack auf den Rücken, reisen? Es sollte jemand auf sie aufpassen, fand ich.
Sie bückte sich um sich ihren Schuh zu binden und ich hatte Angst, daß sie mit dem Rucksack vorn über kippen würde. Ich mußte wieder an dich denken, während sie da so hockte. Wie ihre Haare ihr ins Gesicht fielen und sie, sie dann wieder hinter ihr Ohr machte, genau so sah es auch bei dir aus. Wahrscheinlich sieht es bei jedem Menschen gleich aus, was weiß ich.
Ist eine Weile her, seid ich dich das letzte Mal gesehen habe. Ich habe gehört, du hast dich verändert. Muß mich mal wieder bei dir melden. Möchte wissen, was du so machst und wie es dir so geht. Leider bin ich meist in Eile, habe keine Zeit. Genau wie die Menschen vor dem Bahnhof.
Mein Bus stoppt vor mir. Ich schaue noch einmal zu dem Mädchen hinüber, sie macht sich gerade auf den Weg in den Bahnhof hinein. Ich hoffe, sie paßt gut auf sich auf. Ich steige in den Bus ein, fahre endlich nach Hause. Dort nehme ich mein Telefon in die Hand und wähle deine Nummer. Ich mag die eilenden Menschen vor dem Bahnhof nicht.
Dein Vater ist am Apparat, völlig aufgelöst erzählt er mir, daß du heute nach der Schule nicht nach Hause gekommen bist und keiner weiß, wo du steckst. All deine Klamotten und dein ganzer Kram ist weg, er macht sich große Sorgen. Ich lege auf.
Ich denke an dich. Ich denke an das Mädchen vom Bahnhof